Nichts ist geschehen

Auch an diesem Abend wird er auf dem Balkon stehen, weil es ein weiteres Puzzlestück seines Alltags ist, nach dem Essen eine Zigarette zu rauchen.

Hat er erst den Teller von sich geschoben, so wie eine vorübergehend abgelegte (schlechte) Angewohnheit, der er morgen lustvoll und ausgehungert wieder verfallen wird, lehnt er sich nach hinten, tief in seinen Rücken, bis er sein Rückgrat spürt, damit der Schmerz als Welle durch seine Muskeln schwappen kann, auf der er sich ins Leben zurücktragen lässt.

Während seine Frau die Teller abräumt, reibt er sich an der Lehne, dehnt und streckt er sich, um so die Spannung aus Bauch und Hemd zu drücken, will er doch nicht nur aus Unwohlsein bestehen; die Achs und Wehs, die seine Bewegungen begleiten, sind ihm genug Lebendigkeit. Überschäumen will er nicht, will zu keiner Lache werden, die man wegwischen muss.

Nach wenigen Minuten, die er mit den Explosionen in seiner Bauchhöhle umgebracht hat, schiebt er sich samt Stuhl in Richtung der Küchenzeile, vor der seine Frau tanzt und verzweifelt Reste von den Tellern kratzt. Er sieht nicht zu ihr hin, weil er sie ja kennt, viele Jahre schon, und es ihm nicht nötig scheint, deshalb öfter als wirklich nötig in ihre Richtung zu schauen. Sie ist ihm zu einem Geräusch geworden, zu einem Schatten, zu einer dunklen Ahnung, die ihn nicht verlässt, so sehr und oft er heimlich auch schon darum gefleht hat.

Er drückt sich aus den Knien nach oben, sich seitlich am Stuhl abstützend, mit einem Ächzen, dass sein Alter als Reminiszenz erwartet. Zu seinem biologischen Soundtrack gehören diese Laute, die den Bewegungsabläufen einen Geschmack nach Hoffnungslosigkeit beimischen.

Ohne sich weiter um seine Frau, die Teller, die er ja in guten Händen weiß, zu kümmern, schlurft er bucklig durch das Wohnzimmer, nach den Zigaretten fischend, die auf einem verkümmerten Tischlein neben seinem Stammsessel der Abendstunden harren. Jedes Ding hat seinen Platz in dieser Wohnungswelt, nicht nur die Zigaretten, auch die Küsse, die neben dem Bett liegen und vor dem Schlafen acht- und blicklos verteilt werden. Zwei sind es an der Zahl, niemals mehr.

Seine Hand zerrt zittrig den Türgriff in die Horizontale, damit er in die frische Luft treten kann, die ihn still und unbekümmert empfängt. Weitab der Stadt wohnen sie, ewig schon.

Dort stampft er dann unruhig wie ein Pferd im Gatter von einem Bein auf das andere, mit einer Zigarette in der rechten Hand, die er sorgsam aufraucht. Das Licht des Wohnzimmers schimmert träge, als fehle ihm die Kraft. An den Rändern seiner Konturen franst es aus, verliert sich eilig im Dunkel.

Nie spaziert hier um diese Stunde jemand vorüber, und der Mann denkt, dass es gut so ist, wie es ist, denn es würde ihn beschämen, würde man ihn beim Rauchen und Spähen erwischen.

Reinste und klare Sternenpracht wuchert üppig über seinem Kopf. Den Mann, der sich zu keiner Zeit mit Astronomie beschäftigte, erinnern sie an kleine Taschenlampen, die weit entfernt in die Nacht gestreckt werden. Es könnten unzählige Kinder sein, die sich dort oben am oder im Himmel verlaufen haben, vielleicht auch das Kind, das ihm seine Frau vorenthielt.

Indem er eine Rauchwolke aus seinem Blickfeld jagt, entfernt er auch die ihm unsinnig erscheinenden Gedanken an Kinder, die es nie gab, nie geben wird. Warum also einer Vergangenheit nachtrauern, die so nie schlüpfte?

Seine Hand gleitet zur Seite, blind, weil sein Körper längst über eine eigene Erinnerung verfügt. Die Beine führen ihn gekonnt durch das undurchdringliche Schwarz der nächtlichen Wohnung, hatten sie doch Jahrzehnte Zeit, sich in der Durchquerung selbiger zu üben. Unbesehen klopft er die Asche in einen ehemaligen Blumentopf. Einen Aschenbecher kaufte er nie, weil er stets die Hoffnung in sich trug, das Rauchen in Kürze aufzugeben. Er tat es nicht, weil es nicht in seiner Art liegt, sich der Dinge, die er in und an sich trägt, zu entledigen. Ein Kleiderständer ist er, der alles, was im Laufe der Jahre über und an ihn gehängt wurde, mit sich schleift, Meter für Meter, bis zu diesem Tag heute auf dem Balkon, der ihm vorkommt wie alle anderen Tage. Der Gedanke beunruhigt ihn nicht, vielmehr kuschelt er sich an das Gebilde, das ihn  heimelig umschwebt. Es ist gut, das zu kennen, was man tagtäglich betrachtet, auch bewohnt und beschläft.

Ein weiterer Zug wird gesaugt. Der Qualm schlängelt sich in seine Nase, wird von ihm verschluckt. Es ist, als müsse er ertrinken, wenn er nicht nach dem Rauch schnappt. Ein lauerndes Krokodil, das sich seine Portion Abendfreiheit reißt.

Nicht mehr lange, dann wird er ins Wohnzimmer schlappen, sich in seinem Sessel niederlassen, abermals mit einem Laut, den er und seine Frau nur zu gut kennen, so gut, dass sie ihn zu überhören, sich längst antrainiert haben.

Der Fernseher wird ihnen seine bunten Bilder vor die Füße kippen, seinen Unrat, den sie nicht bestellt haben, aber in Ermangelung eines anderen Zeitvertreibs willig in ihre Augen schaufeln.

Fernsehshows mögen sie besonders, weil die Shows beide an die Tage ihrer Kindheit erinnern, an die Anfänge dieses irren Bildersturms, der seit seinem ersten Wehen jegliche Realität von der Landkarte gefegt hat.

Was übrig geblieben ist: die Frau und der Mann, und all die Vorkommnisse, die es nie gab, von denen sie aber zu träumen gelernt haben.

Zug um Zug gleitet der Mann auf unsichtbaren Schienen in die Nacht:  in das sich wiegende Gras, in die Äste des Baumes, die – wie so vieles – nur eine Andeutung bleiben. Er muss lange spähen, um sich gewiss zu werden, dass es sie gibt, auch wenn ihm seine Erfahrung verraten hat, dass es so sein muss.

Nichts verschwindet einfach so, obwohl er lernen musste, das es eine Lüge ist, die er sich selbst allzu bereitwillig auftischt. Die Welt schwindet, täglich, wenn auch oft unbemerkt. Große Löcher gab es trotzdem zuhauf: Die Arbeit, die ihn in die Frührente verbannte, die Eltern, die einem Krebs aufsaßen, der sie in den Himmel trug. Den, so hofft er, wird es doch geben, muss es doch geben, denn es wäre eine Blamage für sein Leben, für seine Erziehung, für seine Kirchgänge, für alle, wenn dem nicht so wäre. Es muss diesen Gott geben, von dem sie ihm berichten, und zu dem er rasche Stoßgebete in den Nächten sendet, denn die Worte, die verschleudert wurden, müssen ein Becken finden, in dem sie aufgefangen werden. Es muss ihn geben, ob er nun Gott oder anderswie heißt, das ist ihm einerlei. Es muss ihn geben, ob er will oder nicht.

Ein letzter Zug, und dann drückt er die Zigarette in den Blumentopf, in dem Abend für Abend die Früchte seiner Spätflucht fallen. (Er ist der Baum der Nichterkenntnis von Gut und Böse.)

Er will ins Wohnzimmer zurück, will sich drehen, als ihn ein Geräusch aufschreckt.

Der Mann hält inne und lässt seinen Blick schweifen, langsam, gemächlich, und dies, obwohl seine Augen nicht weit greifen können; selbst die blinde Erinnerung seines Körpers hilft bei der Entschleierung und Zuordnung des Unbekannten nicht.

Wie ein Husten klang es, vielleicht wie ein Wort, das er nicht verstanden hat, nicht verstehen konnte, weil es, so denkt der Mann unbeholfen, nicht aus unserem Sprachraum stammt.

Langsam, um nicht unnötig auf sich aufmerksam zu machen, dreht er sich weiter auf seinen Sohlen und starrt in die Nacht, die seine Blicke schweigend und geduldig greift, und verschluckt .

Nichts ist mehr zu hören, und er will schon ein luftleeres Hallo in den Garten werfen, einen platten Ball, nach dem jemand greifen könnte, als  seine Frau plötzlich in der Türöffnung erscheint, den Kunststoffrahmen in der Hand, und fragt, was sei, denn er sei heute so ungewöhnlich lange fort. Sie habe sich Sorgen gemacht.

Erschrocken, ohne recht zu wissen warum, blicken sie sich an,  sehen sie sich tief in die Augen, tiefer noch als sie sehen können.

Eine seltsame Sorge, denkt der Mann.

Wie an den Kragen gerissen, zucken sie zurück. Der Mann möchte  seiner Frau am liebsten erzählen, dass er etwas gehört habe, ein Husten, oder auch ein Wort in einer fremden, ihm unbekannten Sprache, aber er hält sich zurück, behält es für sich, will er sich doch ungern zum Narren machen. Hier draußen war noch nie etwas, wird, so schätzt der Mann die kommenden Situationen ein, nie etwas sein: einzig die Frau und er, und die Erinnerungen an eine Zeit, die es nie gab.

Nichts, flüstert er, sie solle sich nicht aufführen, solle keinen Unsinn reden, solle sich in ihrem Sessel und in den Fernsehbildern versenken; er folge ihr – jetzt, sofort.

Die Frau deutet ein Nicken an, obwohl sie unsicher ist, ob dies die richtige Reaktion ist.

Ihre Hand erscheint hinter dem Glas der Tür, gefolgt vom  kläglichen Rest ihres hageren Körpers, den sie Schritt für Schritt achtsam zum Sessel balanciert. Ihr Leben ist ein Drahtseilakt, eine Gang über eine schwankende Hängebrücke.  Sekunde für Sekunde muss sie achten, nicht in die Tiefe zu stürzen, hinab in jenen wilden Strom ihrer oder des Mannes Gefühle, die sie mit sich reißen würden, einem Wasserfall entgegen, dem sie seit ihrem Kennenlernen ausweichen.

Der Mann bleibt zurück, ein Blinzeln lang, das er nutzen will, sich ein letztes Mal zu vergewissern, dass dort draußen nichts ist, was er nicht kennt, etwas Unbekanntes, das hier nichts zu suchen hat.

Dann schleift er den Wohnzimmerboden, die Tür aber lässt er halboffen, wie die eines Käfigs, von dem er nicht weiß, ob er sich darin oder davor befindet, ob er etwas fangen oder in die Freiheit entlassen soll.

Beide hocken sie in ihren Sesseln und beäugen nicht den Fernseher, wohl aber den Spalt, der zwischen Mauerwerk und Rahmen aufgetan wurde. Ein zahme Brise schlüpft ins Zimmer und lässt sich auf ihren Gesichtern nieder.

Nichts geschieht, nichts ist zu vernehmen, außer dem  röhrenden Gesang eines Schlagersängers, der ihnen seine vergebliche Liebesmüh in die Seelen quetschen will.

Eine, oder zwei Stunden später, sie haben jegliches Zeitgefühl in ihre eingeschlafenen Händen geschweißt, steht der Mann ruckartig auf und schließt die Tür.

Was, möchte die Frau fragen, was hast du erwartet.

Sie schweigt ihre Frage runter, drückt und würgt sie durch den Hals in ihren müden Bauch.

Der Mann schüttelt den Kopf, dann schleppt er sich in sein Bett, wie ein Verletzter, ein vom Leben getroffener, und dies ohne ein Wort auf dem Weg dorthin zu verlieren.

Da war nichts, spukt es durch seinen Kopf, bevor er sich bedeckt, weiter bedeckt hält, damit seine trügerischen Hoffnungen nicht als Worte auf der Zunge landen.

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