Vorletzte Gedanken Bruno Steigers wundersamer Prosaband «Der Trick mit dem Sprung aus dem Stuhl»

Roman Bucheli bespricht Bruno Steigers Buch auf der Zürcher Kulturseite der NZZ:

Man müsste vielleicht das Temperament eines Taschendiebs haben, um dieser Prosa immer und an jeder Stelle angemessen folgen zu können: unentwegt auf alles Unerwartete vorbereitet sein, stets mit den Augen in alle Richtungen schauen, einen Riecher haben für den übernächsten Schritt. Und man käme doch immer zu spät. Denn der Erzähler in Bruno Steigers neuem Prosaband, «Der Trick mit dem Sprung aus dem Stuhl», ist wie der sprichwörtliche Igel. Er ist immer schon da, wohin man gerade erst unterwegs war. Man kommt immer einen Schritt zu spät. Kaum hat man einer Erzählung folgen zu können geglaubt, erweist sie sich bereits wieder als hinfällig, und kopfüber stürzt man ins nächste erzählerische Abenteuer.

Simulationen

«Wer nie mit einem Taschendieb befreundet war, hat keine Ahnung, was wahre Freundschaft bedeutet.» Man könnte, was Bruno Steiger im abschliessenden Kapitel unter der Überschrift «Letzte Notizen» gleichsam als voreiliges Vermächtnis mit grandiosem Witz aufzeichnet, auch als Anweisung an die Leser verstehen. Bruno Steiger lesen ist so etwas wie die Vorschule für die Freundschaft mit einem Taschendieb.

Eine andere Vorschule, die dieser ebenso merkwürdige wie grandios komische Prosaband enthält, ist Robert Walsers «Gehülfen» nachempfunden und schildert die Ausbildung älterer Herren zu Privatdetektiven. Genauer: Der Text tut so, als würde er, wie eine ganz konventionelle Erzählung, die Geschichte dreier Herren wiedergeben, die aus unerfindlichen Gründen beschlossen haben, sich zu Privatdetektiven ausbilden zu lassen. Und so trifft der Leser denn auch hier wieder auf den Taschendieb. Denn die Geschichte ist keine Geschichte, lediglich die Simulation einer Geschichte. Wie in diesem wunderlichen Buch alles eine Simulation ist. Oder genauer: Das Erzählen wird im Erzählen immer gleich wieder durchleuchtet und jede Fiktion sogleich mit der Nadel der Theorie wie ein bunter Luftballon aufgestochen und als schlechte Erfindung entlarvt.

Doch der Band enthält auch Herzzerreissendes. So die Geschichte von Freund Edmund, der spätnachts auf den Üetliberg fährt und von da nicht mehr zurückkommt, aber an der Reception des ausgebuchten Hotels immerhin ein Notizbuch hinterlässt, das kleinste und dünnste, «das man jemals in Händen gehabt habe».

Geschrieben ist es ganz in Rot, «nicht verbesserbar: die Korrektur als solche». Und es enthält nicht weniger als den Bericht darüber, wie einer sich selbst die Aufgabe stellt, «im Rahmen eines sogenannten Tagesausflugs vom Erdboden zu verschwinden». Die Verwandlung der Existenz in reine Literatur: Was für ein trauriger Triumph, was für ein schöner Taschenspielertrick.

Doppelter Boden der Poesie

Nein, man versteht nicht alles in diesem Band. Aber vermutlich spielt das keine Rolle. Manches ist Nonsense, verkleidet als verständige Prosa, und was wie Nonsense erscheint, erweist sich als melancholische Luzidität: «Nur wer Sprache sein lässt, hat Sprache.» Aber schon im Augenblick, da der Satz ausgesprochen wird, erweist sich seine brutale Folgerichtigkeit. Für den leidenschaftlichen Autor gibt es kein Leben ausser der Sprache, in der Sprache freilich auch nicht. Sie ist der doppelte Boden, der sich selbst zum Verschwinden bringt. So trägt denn alles, ob gesagt oder ungesagt, das Signum der Vergeblichkeit.

Erstaunt es, dass dieser Autor jüngst auch ein Kinderbuch geschrieben hat? Und dass er auch darin mit der Sprache den Boden unter den Füssen ein wenig ins Wanken bringt? Mag sein, dass die Kinder für die leichten Sinnverschiebungen in den Worten noch ein ganz anderes Sensorium haben. Das Spielerische ist ihnen noch nicht gänzlich wegerzogen worden. Der Erwachsene, ob er nun das Kinderbuch «Die Palmeninsel» liest oder sich vom «Trick mit dem Sprung aus dem Stuhl» überraschen lässt, tut gut daran, nicht allein den Ernst und nicht allein das Spiel, sondern im einen das andere zu erkennen, um den Zauber dieser seltsamen Prosa ergründen zu können. Selten ist einem der Alltag in Geschichten so vertraut und so fremd zugleich erschienen, so bizarr und banal in einem, so unentwegt tröstlich wie verstörend.

Glück und Rausch

Bruno Steiger ist ein Sprachmagier, poetischer Taschendieb und Wortzauberer in einem. Tausendundeine Geschichte erzählt er in seinem Buch, als wäre er eine Scheherezade des Alltags, unter deren Hand alle Banalität nobilitiert und jeder Schrecken entschärft wird. Das Glück des Verstummens ebenso wie der Rausch des pausenlosen Plauderns kennen Steigers Erzählfiguren: Sie gehen allesamt in die Schule des Scheiterns und freuen sich über jeden missratenen Satz mindestens so sehr wie über sogenannt gelungene Sätze.

Eine «nichtspekulative Poetik des Seufzers» stehe noch aus, heisst es einmal: Sollte es sie geben, dieses Buch käme ihr am nächsten. Vielleicht kann man auch darum in diesen wunderlichen Geschichten, die man so leicht niemandem verständig nacherzählen könnte (noch wollte), die zauberhaftesten Sätze lesen, deren schönster zweifellos dieser ist: «Ein Lieblingsbuch ohne Leser ist immer noch ein Buch, aber ein Leser ohne Lieblingsbuch ist nur noch ein Mensch!» Darüber könnte man allerdings stundenlang nachdenken – oder sich kurzerhand dieses Buch zum Lieblingsbuch auserwählen.

Bruno Steiger: Der Trick mit dem Sprung aus dem Stuhl. Roughbook 021, Zürich und Solothurn 2012. 198 S., Fr. 16.– (plus Fr. 1.50 Versandkosten bei Bestellung über www.roughbooks.ch).

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