“Und wann ist dein Buch fertig?” fragte Vater.
Kurz zuvor hatte er gefragt, wie ich meinen Nachmittag verbringen würde, worauf ich “am Schreibtisch” geantwortet hatte, und jetzt antwortete ich zögernd “Mein Buch..? Fertig? Nächstes Frühjahr..”, zögernd und wie aus der Luft gegriffen, es gab nämlich keinen Zeitpunkt, keinen Masterplan. Ich hätte auch “nächste Woche” antworten können, das wäre nicht weniger richtig oder falsch oder wahrscheinlich gewesen.
Zwar gab es immer wieder mal Anstöße für ein Buch, ob von aussen oder innen, doch alle Welt forderte einen Roman, auch ich forderte diesen Roman von mir, doch da war kein Roman. In mir.
“Was wird das denn für ein Buch?” liess Vater nicht locker. “Ein Familienroman?”
Ich blickte ihn an. Wir standen im Flur der Wohnung, in der ich aufgewachsen war, es war Mittag und ich bereit zum Aufbruch. Der Hund an meiner Seite junkerte schon nervös, weil er endlich losmachen wollte, und in mir regte sich Dankbarkeit.
“Ja.. eine Familengeschichte”, sagte ich froh.
*
Da fällt mir beim Durchblättern eines alten Fotoalbums meiner Eltern Post in die Hände, die ich selbst verfasst habe, Post an meine ältere Schwester. Der Brief stammt aus dem Sommer 1971, als an der Mosel vor meinen Augen ein Mensch ertrunken war. Ein Taucher.
Daniel Gerards Butterfly war 1971 der Sommerhit. Sommmerhits sind lästig, wie Stubenfliegen. Bleiben überall haften mit ihren widerlichen kleinen Pfötchen, und wenn man sie verjagt, sind sie keine halbe Minute später zurück und kleben nur um so fester am Kofferradio, im Gehirn, an der schmierigen Butterdose.
Im Sommer zuvor war In the Summertime von Mungo Jerry der Sommerhit an der Butterdose gewesen. In the Summertime hatte ich sogar als Single gekauft, eine brettharte Pressung, in Holland, wo wir in Urlaub waren. Meist fuhren wir in den großen Sommerferien an die holländische Küste oder zum Gardasee, doch alle paar Jahre war Mutter dran mit einem Urlaubswunsch, und sie wollte lieber in die Berge.
Nun liegt Zell an der Mosel nicht wirklich in den Bergen, aber immerhin gibt es dort Weinberge, wohin man auch blickt. Zell a. d. Mosel war eine Art Friedensangebot meines Vaters, für den es nichts schöneres gab als den Wellen der See zu lauschen, wenn er spätabends im Zelt lag und an Bournemouth zurückdachte, dem englischen Seebad, wo er die aufregendste Zeit seines Lebens verbrachte, zwischen 1945 und 1947 in englischer Kriegsgefangenschaft. Bei den Tommies, wie er sie stets respektvoll nannte, wenn er von ihnen erzählte. Bei den Tommies mit dem fussig roten Haar.
Die deutschen Kriegsgefangenen arbeiteten in einer Kolonne. Zehn Burschen vielleicht, alle um die 17, im letzten Moment noch in den Krieg geschickt und glücklicherweise in Gefangenschaft geraten. Ihre Aufgabe bestand darin, Strandbefestigungen abzubauen. Ein englischer Soldat war ihnen zur Seite gestellt, Johnny, Anfang zwanzig, immer auf der Suche nach einem guten Geschäft.
Eines Tages schlugen ihm die Deutschen vor, aus den vielen am Strand angespülten Jutesäcken Sommerschuhe anzufertigen und sie den britischen Urlaubern zu verkaufen. Britische Urlauber 1944? fragte ich. Ja, antwortete Vater. Die gab es.
Um Schuhe herzustellen, musste man die Säcke zunächst aufschneiden, dann im Meer den Sand rauswaschen und in der Sonne trocknen lassen. Die Sackleinen aufriffeln und neu flechten bis daraus eine Schuhform entstand inclusive der Leisten. Englische Rentner saßen an der Promenade und guckten den Prisoner of War (POW) bei der Arbeit zu.
Johnny wurde prozentual am Gewinn beteiligt. Die provisorischen Sommerschuhe verkauften sich blendend. Sie hielten zwar nicht länger als eine Saison, aber dann waren die POW’s sowieso über alle Berge. Nun meinte Johnny, er könne schlecht mit dem geschulterten Karabiner durch den Sand laufen und Schuhe verhökern, das sähe verdächtig aus, also machten die POW’S den Vorschlag, das Gewehr solange im Bauwagen zu lassen, der den Deutschen als Aufenthaltsraum zur Verfügung stand.
Währenddessen zog Johnny mit einer ausladend großen Sporttasche voller Sommersandalen über den Strand und verkaufte sie an Einheimische. Auch am Bauwagen hing in englischer Sprache eine Tafel mit dem Tagesangebot aus:
Clarks!
*
Aber ich wollte ja vom Tod des Tauchers erzählen und von dem Brief, den ich an meine Schwester geschrieben hatte. Der Campingplatz in Zell lag direkt an der Mosel. Wie immer dauerte der Aufbau des Hauszelts seine Zeit, weil Vater jede Zeltstange durchmarkiert hatte und nur er das System durchschaute, welche Stange in welcher Farbe nun zu welch anderen Stange in welcher Farbe gehörte.
Für mich war der Zeltaufbau zu Beginn jedes Campingurlaubs nichs als Anhalter- und Steckerei: Halt mal die Stange fest, nein, die andere Stange, steck die mal da rein. Nein, nicht die. Die andere. Da rein.
NICHT DA!
Nur eine Viertelstunde entfernt ist ein Strandbad, schrieb ich an meine große Schwester. Bisher haben wir es aber nur auf Bildern gesehen. Darauf sah es ganz toll aus. Morgen werden wir, wenn wieder schönes Wetter ist, dahin fahren.
Natürlich konnte man auch in der Mosel baden, aber ich war skeptisch, was das Baden in Flüssen betraf. Daheim wäre doch auch kein Mensch auf die Idee gekommen, freiwillig in die stinkige Wupper zu steigen. Immerhin roch die Mosel besser als unsere Wupper. Sie sah auch besser aus. Flussiger.
Ich maß die Entfernung zwischen unserem Stellplatz und dem Flußufer ab. Exakt acht Meter.
Neben uns stehen jede Menge Belgier und Dänen, und alle sprechen Deutsch. Aber wir? Was können wir Deutsche? Wir können keine Sprache. Nur unsere eigene.
Endlich hatte Vater die Schlafkabinen eingehangen und Mutter die letzten Campingutensilien ins Zelt eingeräumt. Es war ein stickig heisser Nachmittag, Kinder planschten im Wasser. Ich hatte diesen Mann mit Taucherbrille und Schnorchel schon beobachtet, wie er langsam die Mosel abtauchte. Der Fluß war an dieser Stelle nicht tief, hüfthoch vielleicht, man konnte überall stehen. Plötzlich war der Schnorchel weg. Ich sah ihn nicht mehr. Es war ja auffällig gewesen, dieses ruhige Gleiten des Schnorchels, der aus dem Wasser gelugt hatte wie das Periskop eines U-Boots.
Immer mehr Camper kamen zum Ufer gelaufen, es standen plötzlich überall Leute und riefen wild durcheinander. Ein richtiger Tumult. Ein paar tatkräftige Männer stiegen im Wasser. Irgendwo lief Radio. Ich hätte es besser gefunden, jemand hätte es leiser gedreht oder das Radio ganz ausgemacht. Als der Platzwart auftauchte, schrie er die hilflos herumstehenden Leute an: “Hat einer was gesehen??!” Als keiner antwortete, drehte er durch. “Warum sagt keiner was, um Himmels Willen??! SAGT DOCH WAS!” Vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen.
Als die Polizei endlich mit einem Rettungsschwimmer kam, er hatte eine Gasflasche auf dem Rücken, war der Taucher schon längst tot. Schnell hatte der Rettungsschwimmer den Mann gefunden. Wahrscheinlich hat er einen Schlag bekommen, meinte Papa. Denn das Wasser ist ja nicht tief, man kann überall stehen. Er hat sich bestimmt nicht abgekühlt.
Genau vor unserem Zelt, auf der Wiese, wurden Versuche unternommen, den Mann wieder zum (Atem) atmen zu bringen. Das dauerte bestimmt eine Stunde.. genau vor unserem Zelt! Allerdings durften wir Kinder das nicht sehen. Auch Mutti und Papa waren sich am gruseln.
Es war brütend heiss im Zelt, und mein kleiner Bruder, der nie still sitzen konnte, fing an Ärger zu machen. Er war wie ein junger Hund. Das war nicht schlecht, denn so war ich aus der Schusslinie und konnte einen heimlichen Blick nach draussen werfen. Einmal fuhr eine kleine Windbö ins Zelt und bauschte den Vorhang auf, den meine Mutter extra heruntergelassen hatte, damit wir nicht sehen konnten, wie der Tod sich was zum Fressen holte, doch dann sah ich es für einen kurzen Moment: wie dieser Masseur in weissen Hosen den Brustkorb des Tauchers bearbeitete und nicht aufhörte. So einfach geht das? dachte ich. So einfach geht Wiederbelebung? Aber es ging nicht so einfach.
Dann dauerte es nochmal eine Stunde, bis der Leichenwagen kam und den Toten abholte. Er war ganz blau angelaufen und hatte einen aufgeblähten fetten Bauch. Jetzt ist er ein Wassergespenst, sagte Mutter. Mehr will ich darüber nicht schreiben. Hier auf dem Campingplatz gibt es zum Glück auch einen Kiosk. Na, Kiosk kann man es nicht nennen, nämlich es ist ein paar Mal so groß wie die Bude von Frau Drexelius. Und wie geht es euch? Gut?
Viele Grüße.