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Landrus Ankunft
Geschändete Gräber, niedergebrannte Kreuze und umgeworfene Grabsteine markierten einen Ort, an den sich selten ein Mensch verirrte. So, als hätte ein unsichtbarer Vorhang gnädig den Mantel des Vergessens darübergebreitet. Über die Jahre hatten es nur noch neugierige Kinder, Trunkenbolde oder Hobos gewagt, das von der Stadt mit einem rostigen, torlosen Stacheldrahtzaun umgebene Gelände zu betreten.
Die alte Kapelle am nördlichen Rand des Totenackers – dort, wo die Bahnlinie vorbeiführte – war teilweise eingestürzt, die Wände mit heidnischen Symbolen beschmiert. Dennoch lockte sie hin und wieder Tramps an, die ohnehin nicht wählerisch waren. Das Geschwätz über Spuk, mitternächtliches Geheul und unheimlichen Flügelschlag hielt die Besitzlosen nicht davon ab, auch an gewagten Orten Unterschlupf zu suchen.
Für jene, die auch nicht wählerisch waren und warmes Blut in kaum einer Form verachteten, waren diese seltenen "Besuche" eine stets willkommene Abwechslung.
Auch Josh Coroner wusste nicht, dass die sogenannte Zivilisation – ein von Menschen geprägter, hochtrabender Begriff – spätestens hinter den Mauern der Kapelle endete. Sein unstetes Leben hatte ihn kreuz und quer über den australischen Kontinent geführt. Von den großen Städten kannte er Perth, Adelaide und Melbourne; nach Sydney verschlug es ihn das erste Mal. Mit Gelegenheitsarbeiten, Gelegenheitsdiebstählen oder kleinen, dramatischen Unglücksfällen, die er initiierte, um schreckhaften Autofahrern ein kleines Schmerzensgeld abzupressen, hielt er sich über Wasser.
Josh Coroner war erst Anfang Dreißig, aber der dichte, ungepflegte Vollbart ließ ihn älter erscheinen. Wie er sich die Heiterkeit seiner Augen bewahrt hatte, würde sein ewiges Geheimnis bleiben; er wusste es selbst nicht. Diese frech-fröhlichen Augen hatten ihm aber schon zu manch unverhofftem heißen Bad nach durchfrorenen Nächten und manch ausgehungertem Witwenkörper verholfen.
Wer sich auf ihn einließ und hinter Coroners abgerissene Fassade zu blicken vermochte, der konnte dort einen verdammt netten Kerl entdecken. Keine Frau – egal wie hübsch oder leidenschaftlich – hatte ihm aber je seine Rastlosigkeit austreiben können. Nach ein, zwei Nächten in einem gemütlichen Heim trieb es ihn wieder weiter. Heute bedauerte er es jedoch zaghaft, sich in aller Herrgottsfrühe von Broken Hill und der mütterlichen Agnes fortgeschlichen zu haben.
Es war bereits dunkel gewesen, als er kurz vor Sydneys Stadtgrenze vom langsam fahrenden Güterwaggon gesprungen war und sich mit einem angeknacksten Knöchel zwei Meilen weitergeschleppt hatte. Treibender Regen hatte ihn völlig durchnässt, und ein kalter, vom Meer kommender Wind hatte die Wolkenfront just in dem Moment aufgerissen, als Coroner zufällig in Richtung der Kapelle schaute.
Das Gebäude, so düster es auch aussehen mochte, zog seinen Blick unwiderstehlich an.
"Hölle und Verdammnis!"
Es war der erste stacheldrahtummantelte Friedhof seines Lebens. Aber es war auch die erste Nacht, die ihn dazu hätte verleiten können, doch wieder sesshaft zu werden.
Die Wolken über ihm schlossen sich. Es wurde wieder finster wie in einem Sarg. Gleichzeitig begann es stärker zu regnen. Fette Tropfen klebten die Strähnen seines schulterlangen Haares wie nasses Lametta auf sein Gesicht. Er stellte das Fluchen ein, um nicht zu ertrinken.
Stacheldraht hatte er bei seinen Einbrüchen häufig überwunden. Es gab hundert Tricks, sich keine blutige Schramme zu holen. Aber heute ging alles schief. Er war schon fast auf der anderen Seite, als der heruntergedrückte Draht – zu früh losgelassen – zurückschnellte und ihm eine blutige Verletzung am rechten Ohr zufügte. Coroner hinkte ein Stück weit, stolperte und schlug sich auch noch die Knie auf.
Ein verknackster Knöchel, blutige Knie und ein abgerissenes Ohrläppchen, resümierte er in Selbstmörderlaune. Nur widerwillig rappelte er sich auf und setzte seinen Weg – trotz niederprasselnder Sintflut – vorsichtig fort.
Gevatter Mond ließ sich nicht mehr blicken. Dafür wuchs vor Coroner eine Silhouette auf, die auch ohne die Helle des Erdtrabanten auskam. Das Gebäude wirkte aus unmittelbarer Nähe betrachtet wie eine etwas zu klein geratene Trutzburg. Auch der architektonische Stil erstaunte, obwohl die Nacht das wirklich Staunenswerte gnädig verbarg. Was zu sehen war, genügte aber, um Coroner das Gefühl vermissen zu lassen, sich an einem christlichen Ort zu befinden.
Idiotisch, dachte er, während er den Bau wie ein streunender Kater umschlich. Er suchte beschleunigt nach einem Zugang, weil er nicht als Treibgut am nahen Meeresstrand enden wollte.
Plötzlich – noch ehe er die Tür gefunden hatte – glaubte er, Stimmen zu hören.
Sein erster Gedanke war: Ich bin nicht der einzige, der auf diese ruhmreiche Idee kam. Aber warum habe ich dann keine weiteren Ohrläppchen gefunden...?
Das Scherzen verging ihm nachhaltig, als sich zu den Stimmen und dem Geräusch des Regens noch gedämpfte Musik und monotoner Gesang gesellten.
Angst war Coroner eigentlich fremd. Er hätte dieses Leben gar nicht führen können, wenn es anders gewesen wäre. Dafür wusste er umso besser, was Vorsicht war. Warum er dieser Linie jetzt untreu wurde, wusste er selbst nicht. Vielleicht wollte er einfach nicht länger draußen im Regen stehen. Oder die Vorstellung lockte, ein paar zu Tode gelangweilte Jugendliche könnten sich hier versammelt haben, um an verbotenen Dingen zu rühren.
Coroner hatte in liegengelassenen Zeitungen und Illustrierten von okkulten Zusammenkünften, Séancen, sogar Satansmessen gelesen, bei denen Sex eine nicht geringe Rolle spielte. An Sex – auch an seiner dunklen Seite – war er immer interessiert gewesen. Für Coroner war das Aneinanderreiben zweier Körper die eigentliche Würze seines an sonstigen Höhepunkten armen Lebens.
O Agnes, dachte er sehnsüchtig.
Es hinderte ihn nicht daran, seiner voyeuristischen Ader zu folgen.
Seine an der Außenmauer entlangrutschenden Hände stießen ins Leere, als die Nische des Portals unerwartet auftauchte.
Coroner glitt sofort unter den breiten Torbogen, wohin der peitschende Regen nur noch schwach gelangte. Ein paar Sekunden stand er nur da, beruhigte seinen Atem und lauschte den Klängen, die er kurz verloren hatte.
Das plötzliche, helle Lachen einer Frau elektrisierte ihn.
Offenbar passte in diesem Moment alles zusammen, was sein Unterbewusstsein zur Anregung verlangte: Trotz Kälte, Nässe und Müdigkeit bekam Josh Coroner die gewaltigste Erektion seines Lebens. Schmerzhaft hart pochte es in seiner Hose, sodass er kopfschüttelnd auf die schwere, bloß angelehnte Tür zuging, die nicht einmal der heftige Wind spürbar bewegte. Erstaunlicherweise schwang sie dann aber fast von selbst vor Coroner zurück.
Sofort wurde das sirenenhafte Lachen lauter, vermischt mit anderen Stimmen, männlich und weiblich. Aber, das erkannte Coroner intuitiv, es konnten keine Teenager sein wie zuerst von ihm vermutet. Die Stimmen waren deutlich reifer, und auch wenn er bis zu diesem Moment kein einziges Wort verstanden hatte, ging doch etwas Gänsehauterregendes – etwas Erregendes schlechthin – von ihnen aus.
Fast mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen in die nächtliche Dunkelheit, die auch in diesen Mauern nistete. Coroner ließ sich von den Klängen, auch der Musik, leiten. Er hatte das Gefühl, zu tauchen. Vom Regen, der draußen niederging, war kaum noch etwas zu hören. Eine gewisse Taubheit hatte sich seines Fleisches bemächtigt. Nur sein geschwollenes Glied ragte weiter wie ein Mast auf und wies in die Richtung, in die er unwiderstehlich gezogen wurde.
Wo war seine verdammte Vorsicht geblieben?
Er wunderte sich nur den Bruchteil einer Sekunde über sich selbst.
Dann sah er das Licht, das ganz anders war als alles Licht, das er zuvor gesehen hatte. Vielleicht war es nur ein etwas helleres Dunkel als die Schwärze, aus der er gerade, nass bis auf die Knochen, kam. Aber es genügte seinen Augen offenbar völlig, sich darauf einzustellen, und ganz allmählich nahm er seine Umgebung in Konturen wahr.
Demnach sah die Kapelle innen fast ebenso verfallen aus wie von außen. Zwanzig Schritte vor ihm aber, etwa auf gleicher Höhe wie der Altar, glomm im Boden eine Öffnung, aus der etwas Vages in die Finsternis hineinsickerte, sie durchwob und in unmittelbarer Nähe auflöste.
Aus diesem "Loch" kamen die Stimmen, die Musik, der Gesang...
Spätestens jetzt hätte Josh Coroner die Beine in die Hand nehmen und von diesem Ort verschwinden müssen. Dass er es nicht tat, sondern seiner Neugierde die Initiative überließ, war ein sicheres Todesurteil.
Er ging weiter.
Er watete durch zentimeterdicken Staub und Dreck, bis er die drei Stufen zum erhöhten Altarraum hinaufgestiegen war und vor der Bodenöffnung stehenblieb.
Coroner hatte vergessen, dass er fror und hungrig war, und er begriff, dass die steinernen Stufen vor seinen Füßen ihn geradewegs zu dem hellen Frauenlachen führen würden, wenn er den Mut dazu hatte.
Er hatte.
Er stieg die in fahles Licht gebadete Treppe hinab und gelangte in einen Bereich, der einem Märchen aus "Tausendundeine Nacht" zu entstammen schien. Coroner spürte die Absurdität seiner Umgebung, aber er lehnte sich nicht dagegen auf. Unaufhaltsam durchmaß er einen Korridor, der in kein unterirdisches Gewölbe gehörte, sondern aus einem prunkvollen Schloss hierher transplantiert worden war.
Kerzen brannten an Wänden, die silbrig schimmerten und in die mehr als ein Dutzend Türen eingelassen waren. Das Material, aus dem diese Türen geschaffen waren, glomm wie schwarze Kohle, und die Oberfläche war übersät mit Intarsien, die den Eindruck verstärkten, dass Gott hier nicht gehuldigt, sondern dass er verhöhnt wurde.
Coroner begann zu schwitzen. Bäche eiskalten Schweißes rannen ihm aus den Achselhöhlen und von Stirn und Hals. Sein Gesicht verkrampfte, weil er plötzlich erkannte, auf was für ein Abenteuer er sich eingelassen hatte. Nicht einmal das glockenhelle, erregende Lachen aus fremder Frauenkehle konnte ihn noch von der Erkenntnis ablenken, dass er dem Verderben in die Arme rannte.
Er wollte umkehren. Jetzt wollte er rennen, zurück in die Nacht, zurück in den Regen. Aber eine der vielen Türen zog ihn magisch an. Sie stand offen. Das Licht dahinter war von anderer Qualität als das des Ganges. Von dort kam all das, was Coroner lockte.
Etwas, das schon seit seiner Geburt tief in seinem Verstand wurzelte, sprach darauf an. Etwas, das ihn sein ganzes Leben lang unstet durch fremde Städte und den endlosen Outback geführt hatte und das nun offenbar selbst gelenkt wurde von etwas ganz und gar Unbeschreiblichem!
Er erreichte die Tür, und noch ehe er die Schwelle übertrat, erreichten ihn die ersten klaren Sätze, die drinnen zwischen grausamen Trophäen und aphrodisierenden Düften gesprochen wurden.
"Hör endlich auf!", zischte eine Männerstimme. "Wir haben anderes im Sinn als deine egoistische Begierde. Er wird gleich kommen. Er hat sich angekündigt. Das ist es, was zählt. Wenn er erfährt, was sich seit seinem letzten Besuch alles ereignet hat..."
Die Frau mit dem hellen Lachen unterbrach ihn. Sie war es auch, die angesprochen gewesen war. "Armselig!", spottete sie. "Es ist armselig, wie ihr alle vor jemandem zittert, der doch einer von uns ist!"
Die Reaktionen der auf bizarren Stühlen verteilten Gestalten bewiesen, dass es sich bei dem letzten Satz um eine möglicherweise grobe Fehleinschätzung handelte.
Coroner spürte das unbestimmte Bedürfnis, sich in die Diskussion einzuschalten. Auch wollte er erfahren, über wen hier gesprochen wurde.
Etwas Klammes strich über seine Kopfhaut, als er die beiden Kinder bemerkte. Sie standen außerhalb des Kreises, den die an knöcherne Skelette erinnernden Stühle bildeten, im Hintergrund des viele Meter hohen und weitläufigen unterirdischen Raumes. Ein Mädchen und ein Junge, beide etwa sieben Jahre alt. Der dunkelhaarige Junge trug einen grauschwarz gestreiften Pyjama, das Mädchen ein Nachthemd mit einer breit grinsenden Schildkröte auf der Brust.
Die Kinder standen auf einer runden, mattschwarzen Metallplatte, die wie ein umgedrehter Schild aussah. Die Augen der Kinder waren offen, aber es hatte nicht den Anschein, als könnten sie etwas von dem, was um sie herum vorging, wahrnehmen. Sekundenlang zweifelte Coroner sogar, ob er es nicht nur mit Puppen zu tun hatte, wie sie lebensecht in manchen Schaufenstern zu finden waren.
Aber dann überschlugen sich die Ereignisse, und bevor er starb, erhielt er auch Antwort auf diese Frage.
Es nützte ihm nur nicht mehr viel.
Eisiger Lufthauch streifte ihn.
Als er sich umdrehte, jagte eine riesige Fledermaus an ihm vorbei. Die ledrigen Schwingen streiften sein Gesicht und hinterließen eine weitere blutige Spur neben dem noch unversehrten Ohr. Ohne abzubremsen, flog das pelzige Wesen mit spitzen, hohen Schreien an ihm vorbei und landete genau im Kreis zwischen dem guten Dutzend aufgeregter Gestalten.
Coroner traute seinen Augen nicht, als aus dem imposanten Flugtier eine noch viel imposantere Person mit machtvollem Charisma wurde.
Die Austrahlung dieses Mannes (Coroner schätzte ihn auf Anfang Fünfzig, obwohl es unzählige winzige Hinweise gab, dass dies nicht dem wahren Alter gerecht wurde) war körperlich spürbar. Ein perfider Hauch haftete dem gutaussehenden Schwarzhaarigen mit den grauen Schläfen an. Sein breites und dennoch feingeschnittenes Gesicht spiegelte einen ungeheuren Erfahrungsschatz wider. Auffällig war eine kreuzförmige Narbe, die über die linke Wange des Fremden verlief und, je nach Lichteinfall, manchmal wie rohes Fleisch zu pulsieren schien.
Dieses Wesen hatte seine tierische Gestalt schneller gegen eine menschliche getauscht, als andere es mit ihrer Kleidung taten!
Wo bin ich hier hingeraten? fragte sich Coroner. Und er fragte sich auch, warum es ihm nicht einmal mehr richtig möglich war, an Flucht zu denken!
"Landru!"
Der Ruf löste sich aus einem Dutzend Kehlen zugleich. Auch aus dem Mund der rassigen Schönen, die vorhin das Wort geführt hatte.
Coroner blickte zu ihr und verging fast vor Sehnsucht nach ihrem Schoß. Nach den prallen Brüsten, die unter dunklen Stoff gezwängt waren und nur darauf warteten, von ihm berührt und liebkost zu werden.
Eine Weile gab es nichts anderes mehr für ihn als den Wunsch, diese Frau zu besitzen. Erst die Stimme des Ankömmlings holte ihn ein Stück weit zurück in die Wirklichkeit.
Landru – offenbar war dies sein Name – trug schlichte, zweiteilige Kleidung, die den kraftvollen Körper locker umschmeichelte. Sie ähnelte asiatischem Schnitt, unifarben und in der Hüfte umschlungen mit einem zum Gürtel umfunktionierten Tuch gleicher Machart. An diesem Tuch war ein Beutel aus bräunlichem Leder befestigt. Anderen Schmuck gab es nicht. Coroner bemerkte weder Ringe noch Ketten, Talismane oder sonstiges.
Laute einer unbekannten Sprache sprangen wie Funken von Landru zu den anderen Anwesenden und von diesen wieder auf ihn zurück. Erst danach befleißigten sie sich einer Phonetik, die auch Coroner mühelos verstand.
"Ehre Landru!", rief ein Chor, und aller Augen blickten zu den beiden Kindern, in deren Augen sich nur Leere fand.
Landru machte eine schattenhafte Verneigung. Mit vollklingender Stimme erwiderte er: "Ehre auch euch!" Er hatte Augen wie bodenlose Brunnenschächte, in deren Dunkel sich alles verlor. Auch sein Blick fand die Kinder, aber ohne jede Gier, eher besonnen, und er sagte: "Ich muss euch enttäuschen, wenn ihr das erhofft hattet. Die Spur ist heiß, aber ich habe noch nicht gefunden, wovon der Fortbestand unserer Rasse abhängt. Ich befand mich auf dem Weg, einem weiteren vielversprechenden Hinweis zu folgen – dem wohl Millionsten in den vergangenen zwei Jahrhunderten –, als mich euer dringender Ruf erreichte..."
Über Landrus geöffneten Händen bildete sich aus dem Nichts die täuschend echte Darstellung eines Kelches in Form einer Lilie. Selbst auf die Entfernung nahm Coroner jedes noch so kleine Detail wahr. Die düsterrote Oberfläche des Gefäßes war nicht glatt, sondern schroff, als wäre sie aus einer Unmenge kleinster Teilchen zusammengefügt.
Jeder kannte diesen Kelch.
Plötzlich sprang einer der Versammelten auf und rief scheinbar zusammenhanglos: "Sie hat Hora umgebracht! Und Horrus! Niemand weiß, wie! Hafiz und Hammur wurden von ihrem Begleiter getötet, den wir auserwählt hatten, sie zu vernichten. Mit Giljakens Dolch!"
Sekundenlang ging ein Raunen durch den Raum, der alles andere überlagerte. Ebenso wie mit dem Kelch, schien auch jeder etwas mit dem Namen Giljaken verbinden zu können.
Nur Coroner nicht.
"Der vorwitzige Habakuk", spöttelte Landru, und selbst Coroner begriff, dass in diesem Spott tödliche Gefahr lauerte. "Du redest", fuhr Landru fort, "als hätte ich nicht oft genug gewarnt, dass das Haus seine Missgeburt eines Tages entlässt!"
Habakuk balancierte weiter am oberen Limit, als er Landru unterbrach: "Hundert Jahre hattest du vorausgesagt – sie sind noch nicht verstrichen. Wir hatten Wächter aufgestellt, die das Haus seit Anbeginn deiner Prophezeiung beschatteten. Letztlich hat es uns nur noch mehr Verluste eingebracht. Nicht einmal du konntest uns je sagen, was einmal den Mauern dieses mit Fallen gespickten Baus entschlüpfen würde... Oder wolltest du es nicht? Es hätte uns vielleicht geholfen, es zu besiegen, ehe es uns nacheinander fertigmacht...!"
"Ich rieche die Angst, die aus dir spricht, Habakuk." Der schlanke Mann drehte sich langsam um seine eigene Achse und musterte dabei jeden der Versammelten. (Coroner hatte das Gefühl, dass nur er selbst nicht einmal den Blick dieses Wesens wert war.) "Und ich rieche den Ehrgeiz, der in dir brennt, Horas Platz einzunehmen..." Der Mächtige lachte, dass die Decke des unterirdischen Raumes zu beben begann. Der Kelch über seinen Händen zerstob in einem lautlosen Blitz. Dafür richtete sich Landrus Zeigefinger wie eine Waffe gegen Habakuk. "Wenn du wüsstest, wie anmaßend ein solcher Gedanke ist, würdest du dich auf der Stelle hier, vor aller Augen, selbst einäschern! Es wäre der einzige, halbwegs akzeptable Ausdruck von Reue..."
Die schmeichelnde, sonore Stimme war kurz zum Orkan angeschwollen – und genauso rasch flaute sie wieder ab.
Der Halbwüchsige hatte sich wie alle anderen unter der Stimmgewalt geduckt. Aus den Mienen der anderen war währenddessen die Überzeugung zu lesen, dass Habakuk diesen Frevel so oder so nicht überleben würde.
Coroner, der immer noch an der Tür stand und Zeuge dieser unwirklichen Zusammenkunft wurde, fror immer tiefer in seiner Haut. Er hatte ein Gefühl, als würden seine Knochen unter der Porzellankälte verspröden, bis es nur noch des geringsten Anlasses bedurfte, sein Skelett in ein tödliches Puzzle zerbrechen zu lassen.
Vor diesem Augenblick hatte er wirklich Angst.
Grauenhafte Angst.
Neben vielem anderen wusste er immer noch nicht, woher die Musik und die stereotypen Hintergrundgesänge kamen, die Anteil an seiner ausufernden Furcht hatten.
"Wessen Idee war es, diese Kinder bereitzuhalten?"
Die Blicke richteten sich auf Habakuk, der noch mehr Unheil nahen sah.
Überraschend milde gestimmt fuhr Landru fort: "Eine nette Geste, die ich anerkenne, auch wenn das Ritual nicht vollzogen werden kann, solange verschollen bleibt, was verschollen ist... Schickt sie wieder heim!"
Zum zweitenmal ging ein Raunen durch die Menge; diesmal unverkennbar Ausdruck allergrößter Enttäuschung, die eine Vampirin auch in Worte fasste: "Selbst wenn das Unheiligtum noch nicht wiederbeschafft werden konnte, so können wir doch dir, Landru, das jungfräuliche Blut dieser aus dem Schlaf geholten Kinder weihen und –"
Landru pfiff.
Woher genau – und ob wirklich aus seinem reglosen Mund – dieser "Pfiff" kam, hätte Josh Coroner so wenig wie einer der anderen Anwesenden zu sagen vermocht. Aber das ultrahohe Geräusch ließ die Vampirin, die zuvor Coroner, das spürte er inzwischen, in die Tiefen der Kapelle gelockt hatte, zuerst erstarren und dann wimmernd um ihre nackte Existenz betteln. Das brustlange, eben noch glatt fallende Haar sträubte sich, als würde es unter Starkstrom gesetzt. Dann flammte es auf und brannte ab wie staubtrockener Zunder. Was zurückblieb, war ein verheerter Schädel und ein von Feuer entstelltes, Sekunden vorher noch faszinierend anrüchiges, nun abstoßend hässliches Gesicht.
Eine Fratze, in der nur die flackernden Augen noch denen davor ähnelten! Das kurze, magische Feuer hatte nur den Schädel erfasst und auf nichts anderes übergegriffen.
Es genügte.
Es genügte, Coroner – und wohl auch den Vampiren – das Blut in den Adern gerinnen zu lassen. Er stöhnte.
Köpfe wirbelten herum, obwohl das Stöhnen des Hobos unter den anderen Tönen, den Gesängen aus dem Nirgendwo und der Musik hätte untergehen müssen.
Landru war der einzige, der sich nicht darum zu kümmern schien. Er ging auf die Vampirin zu und nahm ihr Kinn wie mit einem Schraubstock in die Hand. "Dein Name, respektloses Geschöpf!"
"Hekade..."
Sein Blick taxierte sie vom enthaarten Schädel bis hinab zu den Zehen. "Hekade, ach." Er strich mit der freien Hand über die Wölbungen, die sich unter dem dunklen Trikot abzeichneten. "Der Name einer Hexe passt zu dir. Ich mag respektlose Geschöpfe, Hekade. Natürlich in Maßen. Als ob du das gewusst hättest."
Es schien ihn nicht zu irritieren, dass die Klänge ringsum verstummten. Er und Hekade standen in grotesker Umarmung wie einzementiert vor der Versammlung, und Landru machte kein Geheimnis aus seiner Lust. "Du erregst mich, Hekade. Du erregst mich sehr. Ich mag nur keine Haare mehr an den Frauen, die mein Lager teilen. So viele Haare in so vielen Jahrhunderten..." Er seufzte. Dann ließ er abrupt los. Die entstellte Vampirin rutschte zu Boden und blieb mit gesenktem Haupt liegen. Sie brachte kein Wort mehr über die Lippen.
Landru lachte, und schon ehe dieses Lachen verstummte, wusste Coroner, dass er nun an der Reihe war.
Er konnte nicht fliehen.
Er konnte es nicht.
Vielleicht war er der einzige, der die Worte hörte, als Landru sich langsam zu Hekade beugte und ihr in barbarisch-zärtlichem Ton ins Ohr wisperte: "Geh, reiße ihn endlich! Das wolltest du doch von Anfang an. Stärke dich. Ich brauche eine ausdauernde Geliebte – nachher..."
Wankend erhob sich die Gedemütigte.
Coroner sah sie kommen wie sein ganz persönliches Verhängnis.
Er konnte nicht fliehen.
Er konnte es nicht.
Ihre Haut hing geschält von den Wangen. Ihre Lippen waren schwarz. Selbst die Zähne, die sich jetzt hervorschoben, sahen aus wie schroffe Kohlestückchen. Nur die Augen glommen in einem helleren, wenngleich unsteten Licht, das darauf hinwies, dass auch dieses Wesen nicht mehr frei handelte, sondern dem bizarren Willen eines anderen unterstand.
Viel Trost lag nicht in solcher Erkenntnis.
Noch ehe Hekade ihre Zähne in seinen Hals grub, überfiel Coroner eine grauenhafte Ahnung des kommenden Schmerzes. Die Realität übertraf dann alle Ahnungen und Befürchtungen. Hekade gab das Erlittene schonungslos an den Vagabunden weiter, der es bis dahin nicht für möglich gehalten hätte, einmal Lust am eigenen Untergang zu empfinden. Aber genau das passierte. Selbst im Tod blieb ihm die Erektion treu...
Andrä Martyna © http://www.andrae-martyna.de
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