|
Hinter den Spiegeln
Der Tote bleckte die Zähne, und dem sechzehnjährigen Tom Grimaldi rutschte das Herz in die Hose. Hätte er richtige Haare – nicht nur diesen abscheulichen Flaum – besessen, sie hätten ihm spätestens jetzt zu Berge gestanden!
Der Junge, der an "Progeria infantilis" litt, was zur frühen Vergreisung seines Körpers geführt hatte, riss abwehrend die Arme nach oben.
Er stand immer noch am Fenster, von wo aus er die beiden Frauen zur Kirche hatte hinaufhetzen sehen. Diese beiden und er waren bis dahin das einzig Lebendige gewesen, was Tom hier (wo immer "hier" liegen mochte) zu Gesicht bekommen hatte.
Zunächst hatte er geglaubt, schlichtweg gestorben zu sein.
Solche wie er starben meist an Herzversagen. Das ging, so sagte man, schnell und relativ schmerzlos.
Schmerzen hatte er an diesem Tag nach Fees überraschendem nächtlichen Besuch überhaupt nicht gespürt. Zum ersten Mal, seit er denken konnte, war der Altersschmerz weg gewesen. Wie fortgeblasen! Auch die Schwäche hatte ihn verlassen, sodass er seinen Vater überreden konnte, in Begleitung der Langen Paula einen Spaziergang zu unternehmen. In der Umgebung von Mallwyd, wo die wandernde Monströsitäten-Schau gerade gastierte.
Tom erinnerte sich nur noch, in strahlendem Sonnenschein übermütig durch das Heidekraut gerannt zu sein – und dann war von einem Lidschlag zum nächsten alles anders gewesen.
So anders, dass er im Purpurlicht zwischen den plötzlich entstandenen Gebäuden zunächst geglaubt hatte, gestorben und in eine Art Zwischenreich gewechselt zu sein.
Vielleicht ins Jenseits selbst.
Spätestens der Fund des ersten Toten hatte diese These zum Einsturz gebracht.
Aber diese Tote – eine Bäuerin hinter einer Mistkuhle – war wenigstens tot geblieben, sodass das erste Entsetzen irgendwann abklang.
Der Tote, der jetzt vor Tom stand, war hingegen etwas, das er nie für möglich gehalten hatte. Obwohl Fäulnis das Fleisch stellenweise bereits weggefressen hatte, war die Leiche aus eigener Kraft aus ihrem Bett gekrochen und hatte sich an Tom herangeschlichen!
Der Junge starrte sekundenlang wie hypnotisiert in die leeren Augenhöhlen der Gestalt, die zwar langsam, aber beharrlich auf ihn zutappte und sein Zögern nutzte, um noch näher zu kommen.
Erst als die Finger, deren Spitzen ebenfalls längst abgefault waren und den blanken Knochen erkennen ließen, nach ihm griffen, reagierte Tom.
Mit einem Schrei stieß er sich von der Wand ab und wollte an der nicht sehr behend wirkenden Gruselgestalt vorbei zur Tür flüchten.
Er war auch fast vorbei, als sich eine der Totenhände in seine Jacke und tiefer bis in seinen Rücken grub.
Diesen Schmerz kannte Tom noch nicht.
Es war, als würden sich die Knochenfinger in sein Fleisch bohren und versuchen, sein Rückgrat zu umschließen, damit sie es mit Brachialgewalt brechen konnten...!
Er wusste sich in seiner Not nicht anders zu helfen, als auszukeilen wie ein störrischer Gaul. Sein linker Schuh traf den Toten in Hüfthöhe. Hart genug, um die morschen Knochen wie ein Springmesser zusammenklappen zu lassen.
Sofort löste sich auch der Griff in Toms Rücken.
Der Junge taumelte nach vorn, ohne zu einem Gefühl der Erleichterung fähig zu sein. Er wollte nur hinaus.
Und dann klemmte die Tür, während der Tote sich erneut hinter ihm aufzurichten versuchte, es nicht ganz schaffte, sondern wegknickte, dann aber auf allen Vieren die Verfolgung aufnahm.
Tom blickte kreidebleich hinter sich und sah, wie das Verhängnis näher kam. Die Tür gab nicht nach. Er riss und zerrte mit aller Kraft daran.
Erfolglos.
Voller Ekel sah Tom eine Art Schleim aus dem Mund des Toten triefen. Seltsamerweise strömte keinerlei Gestank davon aus.
Tom gab die Tür auf, als der Tote ihn fast erreicht hatte. Er hetzte nach links, wo ein kleines Fenster lag, das er fahrig öffnete und dessen geschlossenen Holzladen er nach draußen stieß.
Das Scharren auf den Holzdielen verriet ihm, dass der Verfolger dicht hinter ihm war.
Tom zog sich mit aller Kraft seiner dürren Arme nach oben ins offene Fensterkreuz, bleib aber an irgendetwas hängen. Einem Nagel, den vermutlich der Tote selbst noch zu Lebzeiten hier hineingehämmert hatte!
Zur Hälfte drinnen, zur Hälfte draußen, steckte Tom fest. Seine Beine strampelten frei in der Luft. Seine Arme ruderten.
Hinter ihm versuchte der Tote sich an der glatten Wand hochzuziehen. Knochen schabten über den Stein. Tom schlug das Herz bis in die Kehle.
Er schrie um Hilfe. Aber er wusste, dass keine Hilfe kommen würde. Er war allein. Die Mauern der Pfarrkirche waren dick wie bei einer Festung. Dort würde ihn niemand hören. Und hier unten waren nur... Tote!
In jedem Haus! Ein ganzes Dorf voller Toten!
Ein Dorf aber auch, das vorher in diesem Tal nicht gewesen war...!
Tom fühlte etwas an seinem Oberschenkel. Eine der klauenartigen Hände des Toten kratzte darüber hinweg, riss eine blutige Schramme.
Und plötzlich war dem Jungen alles egal.
Egal, ob er sich den Nagel, an dem er festhing, tief ins eigene Fleisch trieb oder nicht. Es konnte nicht schlimmer sein als ein erneutes Zupacken dieser Hände, die sein sicheres Todesurteil bedeutet hätten!
Er stützte sich mit angewinkelten Armen draußen an der Fensterbank ab – und stieß sich mit aller Kraft ab.
Der Nagel, Haken, oder was immer es war, gab nach!
Kaltes Eisen ritzte quer über Rücken und Gesäß – und dann prallte Tom draußen auf das harte Kopfsteinpflaster. Er gönnte sich keine Verschnaufpause. Schneller und entschlossener als alles, was er in seinem verdammten, trübsinnigen Leben je unternommen hatte, floh er in dieselbe Richtung wie die beiden Frauen.
Hinauf zur Kirche.
Wenn überhaupt, dann konnte er nur dort Schutz erwarten...!
Erst als er den Hügel erklommen hatte und fast vor dem Portal angelangt war, sah er zurück.
Von einem Verfolger fand er keine Spur.
Das Haus, aus dem er geflohen war, sah leblos wie alle anderen aus.
Als ob er mein warmes Blut gerochen hätte, durchzuckte es Tom.
In diesem Moment tat sich vor ihm das Tor auf.
Und Tom lernte eine neue, subtilere Dimension der Angst kennen...

Dichte Wolken ballten sich über dem Tal. Der Nachthimmel brodelte nicht nur, er schien zu kochen. Es sah aus, als würde sich ein Gewitter zusammenbrauen. Gewitter im Winter...
"Hier war es", sagte die Lange Paula.
"Bist du sicher?", fragte Joey Grimaldi. "Es ist stockfinstere Nacht. Wie kannst du da sicher sein...?"
"Ich bin keine Idiotin", erläuterte die Vier-Zentner-Frau, die den Direktor der in Mallwyd gastierenden Monstrositäten-Schau zudem um einen halben Meter überragte, obwohl Grimaldi selbst nicht zu den Kleinen zählte. "Es war hier!"
"Ich glaube ihr", sagte Fee.
"So?", zweifelte Grimaldi gereizt und beunruhigt zugleich. "Und weshalb? Hier sieht ein Tal wie das andere aus!"
"Du magst Wales nicht besonders?"
"Ich mag die Welt nicht besonders", knurrte Grimaldi.
Fee lachte, als hätte sie dafür – ganz besonders dafür – Verständnis. "Bleibt hier", sagte sie. "Lasst es mich allein versuchen."
"Was versuchen?", fragte die Lange Paula misstrauisch. Sie hatte Tom, Joey Grimaldis greisenhaften Sohn, hier irgendwo aus den Augen verloren.
"Okay", nickte der Direktor der Freak-Show. "Versuch es. Was kann es schaden..."
Fee wartete keine weitere Erwiderung ab. Im Fortgehen hörte sie die Lange Paula noch zischen: "Warum zieht sie diese blöde Maskerade nicht wenigstens aus, wenn wir unter uns sind?"
Joeys Antwort konnte sie nicht verstehen.
Es war egal.
Es war absolut gleichgültig, was die Riesin dachte oder äußerte. Wichtig war nur, dass sich Joeys Einstellung und seine Gefühle ihr, Fee, gegenüber nicht änderten...
Fee lief langsam durch die Heidelandschaft. Die Dunkelheit war kein Problem. Eine Lampe benötigte der gegenwärtige Star der Freak-Show nicht. Mit traumwandlerischer Sicherheit durchkämmte sie das Tal und fand die Stelle, die dem Jungen zum Verhängnis geworden war.
Ein leiser Schrei stahl sich aus ihrer Kehle. Vermutlich hörten ihn die anderen nicht einmal. Aber Fee wurde plötzlich vom Echo einer Qual durchzogen, die sie vor langer Zeit durchlitten hatte.
"Nein!", presste sie hervor. "Wie ist das – möglich...?"
Sie versuchte sich der Stelle, von der das Unmögliche ausströmte, weiter zu nähern.
Es ging nicht.
Es war, als hätte sie den Vorsatz getroffen, ein Bad in einem Kessel mit kochendem Öl zu nehmen. Allein das Wissen um die damit verbundene Qual schloss die tatsächliche Ausführung aus. Sie konnte keinen Schritt weiter darauf zu tun, obwohl sie den "Quell" von Toms Verschwinden eindeutig lokalisiert zu haben glaubte.
Es konnte kein Zufall sein, dass das Ungeheuerliche ausgerechnet hier existierte, wo die Lange Paula den Jungen aus den Augen verloren hatte.
Beides hing zusammen.
Aber es bedeutete auch, dass Tom vermutlich nicht mehr am Leben war...
Als sie zu seinem Vater zurückkehrte, sog dieser scharf den Atem ein. "Etwas – gefunden?", fragte er tonlos.
Sie wusste, was er glaubte. "Nicht direkt", antwortete sie ausweichend. In gänzlich anderem Ton wandte sie sich an die Lange Paula: "Geh schon mal vor. Wir kommen gleich nach. Das hier interessiert dich nicht."
Für Joey Grimaldi war es immer wieder erstaunlich zu sehen, wie Fee über andere regierte.
"Nun?", fragte er, ohne sich mit der Frage aufzuhalten, ob dieses Regiment auch ihn einschloss.
Das sanfte Mondlicht zeichnete Fees ungewöhnlichen Körper nach.
"Er ist nicht mehr hier", sagte sie bestimmt.
"Nicht mehr hier?" Grimaldi schien nicht zu begreifen. "Er war also hier?"
"Paula sagt ja."
"Paula sagt das, was sie für richtig hält. Sie kann sich irren. Sie ist auch nur ein Mensch."
"Aber ich nicht." Sie lachte schmerzlich. "Und ich irre mich nicht! Er war hier. Aber das, was ihn verschlang, wird ihn nie wieder hergeben! Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes versprechen. Aber es wäre nur Lüge."
"Ich wäre dir verbunden –"
"Genug!", unterbrach sie ihn und nahm seine Hand. "Es war ein hübscher Spaziergang. Gehen wir jetzt zurück. Hier hält uns nichts länger. Du hattest nie einen Sohn. Aber du hast mich. Keine Trauer mehr!"
Sie gingen.
Fee warf keinen Blick zurück.
Aber noch als sie Mallwyd längst erreicht hatten, zitterte sie in Erinnerung an den Schlund, den sie entdeckt und der Tom vermutlich gefressen hatte.
Der Schlund, der ihr in Erinnerung gerufen hatte, wer sie war, woher sie kam und dass sie davor nie würde fortlaufen können.
Sie lenkte sich ab, indem sie von Wagen zu Wagen wanderte und jeden von dem überzeugte, was sie Joey Grimaldi und der Langen Paula bereits beigebracht hatte:
Es hatte nie eine "Attraktion" namens Tom in ihren Reihen gegeben! Der Direktor der Freak-Show hatte nie einen Sohn besessen!
Natürlich musste auch das Programm umgeschrieben werden...
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de
[Zurück zum Buch]
|
|