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Die Apokalypse
Marillion-Tower, Sydney ![]() Von irgendwoher lockte leises Kinderweinen, leises Kinderlachen. Lilith Eden schauderte. Der Symbiont an ihrem Körper schwieg. Hatte die "Brosche" aus Storms Laden ihn getötet? Konnte man ihn töten? Ausgerechnet in dieser Sekunde, an diesem unmöglichen Ort wurde Lilith daran erinnert, dass der Symbiont noch nicht das Geringste über seine Herkunft und verschwindend wenig über seine Möglichkeiten preisgegeben hatte. Er war ein Erbstück von Liliths Mutter Creanna. Jener Vampirin, die ihre eigene Rasse verraten und den Grundstock zu deren Vernichtung gelegt hatte... Zum Greifen nah schwebte der schwarze Quader über ihr, dessen kompakte Schwärze wie geronnenes Vampirblut wirkte. Warmer, lepröser Atem – älter als die Welt – trieb Lilith daraus entgegen. Wessen Atem? Ein Hinweis von Beth hatte Lilith in die Druit Street 144 geführt. Zum Marillion-Tower, einem Hochhaus, das ausschließlich von Verrückten, Enthemmten und Mördern bewohnt zu sein schien. Das Schlimmste aber war Lilith hier oben im ehemaligen Penthouse begegnet. Eine den Atem verschlagende Dämonie. Etwas, das die Realität der Penthouse-Wohnung förmlich "ausgeknipst" und durch das unwirkliche Szenario sonnendurchglühten Outbacks ersetzt hatte! Lilith spürte, dass sie sich immer noch im Penthouse aufhielt, denn ihre Füße berührten nicht die holprige Felsschicht, die ihre Augen ihr vorgaukelten. Ihre Füße standen auf Teppichboden. Die Impulse des Totems, das sie in Esben Storms Laden gefunden hatte, wollten sie dazu verführten, in den schwebenden Klotz zu tauchen. Und auch der Quader selbst lockte, als ob er auf die Impulse des Totems antwortete. KOMM! klang eine körperlose Stimme in Liliths Gedanken auf. KOMM ZU UNS! WIR SIND DIE WAHRHEIT. VERGISS DIE LÜGE DEINER BISHERIGEN EXISTENZ! KOMM ZU UNS, BRUDER! Bruder...? Lilith versuchte sich aus dem Bann der knöchernen "Brosche" zu befreien. Es gelang ihr nicht. Die Schwärze wuchs wie ein Berg vor ihr auf. Ihr Gesicht berührte bereits die eisige Sphäre, hinter der es von fremdartigem, in kein Muster zu pressendem Dasein wimmelte... ... und in diesem Moment zersplitterte die Illusion wie ein Mosaik auseinanderdriftender Steinchen. Das wahre Gesicht ihrer Umgebung kehrte zurück! Lilith stand zehn Schritte von der Tür entfernt, durch die sie das Penthouse betreten hatte. Der helle Ton einer Glocke lenkte ihren Blick nach rechts, wo sich die Aufzugstür öffnete und – Vorbei! Sie stand wieder im Outback. Wieder im Schatten des Gebirges aus Dunkelheit. Aber – sie machte den Schritt, der sie in den Untergang geführt hätte, nicht mehr. Sie hörte die Schreie! Sie hörte und fühlte die Qual der Sterbenden, die aus dem Lift gezerrt, deren Fleisch von den Knochen geschält und deren Knochen zermalmt wurden. Jetzt! In diesem Moment! Vor, neben, hinter oder unter ihr wurde gestorben! Der Einfluss des Totems über sie erlosch. Aber sein immer noch anhaltendes Wispern weckte heiße Wut in Lilith. Verfluchter Banguma! dachte sie. Verfluchter Esben Storm, der mich WIEDER hereingelegt und kaltlächelnd dem Untergang geweiht hat...! Der Zorn auf den verschollenen Aboriginal beflügelte sie. Lilith beschloss, das Sterben zu vertagen. Die ewige Nacht des Quaders oder das, was in ihm schwamm, schien zu spüren, dass das sicher gewähnte Opfer im Begriff stand, einen Rückzieher zu machen. Vor Lilith schnellte etwas aus dem dunklen Vorhang. Etwas, das wie ein narbiger, furunkelübersäter, eiternder Arm aussah, aber keiner sein konnte. Es war nur der Abdruck eines Dings, das dort, woher es auf Lilith zustieß, keine Form besaß. Teil eines Wesens, das einem Gott näherstand als einem Menschen. Ein Wondjina, durchfuhr es Lilith eisig, während sie seitlich auswich und dann mühsam, Schritt für Schritt, von dem Quader fort ging. Ein Wesen vom Anfang der Schöpfung. Überbleibsel aus der Zeit des Beginns... Liliths Gedanken gerieten ins Stocken. Sie spürte, dass sie bei einer elementaren Frage angelangt war. Einer Frage, die sie seit langem beschäftigte. Diese Frage lautete: GIBT ES WIRKLICH DEN EINEN GOTT? Und was war mit den anderen Göttern? Jenen der Hindus und Buddhisten, der Indianerstämme in den Regenwäldern des Amazonas, auf dem nordamerikanischen Kontinent, in Afrika und im Eis der Arktis. Was war mit den SCHÖPFERWESEN und deren SCHÖPFUNG? Konnte es sein, dass so grundverschiedene Religionen nebeneinander funktionierten, ohne sich zu überlappen und zu bekämpfen? Lilith fröstelte, als sie begriff, dass Krieg unter Andersgläubigen herrschte. Ein sehr realer, sehr blutiger Krieg! Aber was sie wirklich beschäftigte, war: Konnte es sein, dass das, was allgemein als "Schöpfung" bezeichnet und verstanden wurde, in Wahrheit die Summe aller noch so unterschiedlichen Schöpfungen war? Dass es die Schöpfung nicht gab, sondern nur ein Konglomerat von Kräften, die sich normalerweise nicht gegenseitig in die Quere kamen... Normalerweise. Hier, in Sydney, war es geschehen. Genauer: auf dem Grundstück 333, Paddington Street! Dort waren elementar verschiedene Schöpfungen aufeinandergeprallt, die der Wondjinas und... UND WAS? Lilith schüttelte den Kopf, dass ihr mähniges Haar flog. "Ich bin ein Banguma! Ewig ist die Qual eines Schattens...!" Lilith wünschte, die Schwarze Flamme, hinter der sie Esben Storm vermutete, in die Finger zu bekommen. Aber der Banguma war nicht da. Nur das Totem, das sie in Storms Laden an ihr Mimikrykleid gesteckt hatte. Immer mehr Arme und andere, menschlichen Extremitäten nachempfundene Gliedmaßen stießen aus dem nachtschwarzen Quader. Zugleich glaubte Lilith immer noch das Echo der Schreie jener beiden Menschen zu hören, die der Lift hier oben ausgespien hatte. Sie atmete auf, als sie sah, dass für die von Geschwüren entstellten Glieder eine unsichtbare Grenze bestand, die sie nicht zu überschreiten vermochten. Doch die Erleichterung zerstob, als der Klotz das Problem löste, indem er sich auszudehnen begann! Schnell! Warum hatte er es vorher nicht getan? War er sich Lilith zu sicher gewesen? Oder wuchs er, weil ihm aus dem Lift gerade neue... Nahrung zugeführt worden war...? Das Totem ist schuld! Ein aberwitziger Verdacht stieg in Lilith auf: Konnte es sein, dass die schemenhaft hinter der Schwärze erkennbaren Wesen nicht sie selbst, sondern die "Brosche" wollten...? Es war ein Traumzeit-Artefakt. Reagierten sie auf dessen Ausstrahlung – auf die äscherne Aura, die es um Liliths Körper wob...? Liliths Hand zuckte nach oben. Jetzt, da sie dem Einfluss des Totems widerstand, wollte sie Nägel mit Köpfen machen. Vielleicht gab es ein Entkommen aus dieser Illusion, wenn sie die "Brosche" den Dämonen zum Fraß vorwarf... Sie erkannte ihren Irrtum. Es gab nichts mehr, was sie hätte opfern können, um sich zu retten. Das knöcherne Totem war vom Kleid verschwunden. Nur die – größer gewordene? – weißglimmende Stelle auf der Haut des Symbionten war noch sichtbar...! Lilith fluchte. Sie ließ sich auf Hände und Füße fallen, weil sie so ein besseres Gefühl für den immer noch vorhandenen Boden des Penthouse hatte, während ihre Augen weiter hitzedurchtostes Outback vorgegaukelt bekamen. Der Quader blähte sich ihr immer noch entgegen. Lilith spürte Verzweiflung, als sie die Möglichkeit in Betracht zog, dass die "Brosche" sie nicht ins Verderben hatte reißen wollen, sondern die ganze Zeit geschützt hatte! Jetzt war sie verschwunden. Vielleicht von der Magie dieses Ortes zerstört. Lilith kappte die Kette der Spekulationen. Es war keine Zeit dafür. Sie musste diesen Ort – diese Ebene – verlassen. Musste versuchen, in tiefere Stockwerke zu gelangen, wo der verderbliche Einfluss der dämonischen Manifestation zwar auch schon erkennbar gewesen, aber wenigstens die reale Dimension erhalten geblieben war... Sie schloss die Augen, obwohl die Schwärze des Quaders wie eine Wand auf sie zukroch. Ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren, als sie die Bewegungen rekapitulierte, die sie seit Betreten des Penthouse – zunächst noch im Bann des Totems – ausgeführt hatte. Sie glaubte selbst nicht, dass es funktionieren könnte. Aber dann ließ sie die Lider geschlossen und bewegte sich auf den Koordinaten, die ihr Gedächtnis ihr lieferte. Sie schaltete jeden Gedanken an das Böse im Quader aus. Sie weigerte sich daran zu denken, dass sie sich möglicherweise dem Bösen näherte, statt ihm zu entfliehen. Sie musste es riskieren. Sie – – stieß gegen eine unsichtbare Tür! Eine geschlossene Tür. Lilith unterdrückte jede Panik. Sie richtete sich an dem Hindernis auf, tastete nach dem Knauf, fand ihn und drehte daran. Die Tür sprang auf. Liliths Augen sprangen auf. Hoffnungsvoll. Das Outback war verschwunden. Aber vor ihr gähnte wieder das Nichts einer ausgeblendeten Realität. Und hinter ihr... rückte der dämonische Block näher, glühte die Sonne über einer Wüste, die so vielleicht zu Zeiten der Schöpfung existiert hatte...! Lilith durchschritt die Tür. Sie tastete mit den Händen Wände entlang, von denen sie hoffte, dass sie wirklich dem Treppenhaus angehörten. Dass sie nicht auch nur eine Täuschung waren, die sie auf verzerrten Wegen doch noch in den Untergang führen sollten... [Zurück zum Buch] |
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