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Ricochet
von Holger Kutschmann

Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
Es ist bestimmt mehr als zwanzig Jahre her, dass mir Babsie zum ersten Mal begegnete. Obwohl - vermutlich haben wir uns auch als Kleinkinder schon mal gesehen. Schließlich sind ihre Mutter und mein Vater Cousine und Cousin.
Ich war sofort von ihr fasziniert, sie wurde meine erste große Liebe, und auch in den letzten Jahren gab es immer wieder den einen oder anderen Moment, in dem ich an sie denken musste, mich fragte, wie es ihr wohl heute erging und ob sie immer noch so bildhübsch war wie damals.
Sie war eine Grazie, und das wusste sie schon mit vierzehn. Trotzdem hatte sie eine sehr natürliche Art, ein offenes Lächeln und blitzend blaue Augen, in denen ich versinken konnte, sobald ich nur hineinsah. Wenn ich mir einen Engel oder eine Elfe vorstellen will, sehe ich Barbara.

Szenentrenner


Ich stand im ALDI vor dem Konservenregal und suchte nach der passenden Beilage für die Putenschnitzel, die ich mir zum Sonntagsessen erwählt hatte. Ich wollte gerade nach einer Dose Bohnen greifen, als sie plötzlich neben mir stand.
"Entschuldigen Sie, aber - Sie sind doch Ralf Martin, oder?"
Meine Güte, ich wusste gar nicht, dass ich so schreckhaft bin, aber für einen Moment glaubte ich, mein Herz würde zerspringen. Dann blickte ich mich erstaunt um. Ich bin Ralf Martin - aber wer war sie? Ich schätzte sie auf Mitte Dreißig, also ungefähr mein Alter, und in meinem Kopf begann es zu rattern. Sollte ich diese Frau kennen?
Ich nickte. "Stimmt. Kennen wir uns?"
Sie lächelte nur spitzbübisch.
In meinem Kopf ratterte es noch immer. Sabine Burghardt? Nein. Uta Gerber? Auf keinen Fall, die hatte ich vor vier Jahren auf einem Klassentreffen gesehen, und irgendwie hatte sie sich verdreifacht - was ihre Ausmaße anging. Britta Kortner? Auch nicht ...
"Du erkennst mich wirklich nicht?" Ihre Brauen hoben sich. "Na, du bist mir einer ... so sehr habe ich mich ja wohl nicht verändert!"
Ich hatte mir immer eingebildet, ein gutes Personengedächtnis und einen Extra-Speicher für Gesichter zu haben, aber ich versagte kläglich.
"Babsie", sagte sie, "Babsie Northus."
Ich bekam weiche Knie. Allein der Name riss mich fast von den Beinen. Und jetzt erkannte ich sie. Natürlich war sie nicht mehr ganz so elfenhaft, aber sie hatte sich gut gehalten, wie man so schön sagt.
"Barbara? Das ist ja eine Überraschung!" Eine wundervolle Überraschung, wie ich mir eingestehen musste. "Ich wusste gar nicht, dass du in Delmenhorst wohnst."
"Ich wohne auch gar nicht hier. Ich bin auf der Durchreise und wollte nur ... einkaufen!" Ihre weißen Zähne blitzten, ihre blauen Augen funkelten. "Und prompt treffe ich dich! Das kann doch kein Zufall sein, oder?"
Es gibt keine Zufälle, da bin ich mir sicher.
"Hoffentlich nicht." Ich hatte mich noch immer nicht richtig gefangen, es war ein Gefühl, als würde ich schweben. "Du ... du willst doch nicht gleich weiter, oder? Lass uns irgendwo 'nen Kaffee trinken, gleich hier um die Ecke ist ein kleines Café mit Blick auf die Graft."
"Mit Blick auf die was?"
Ich musste lachen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich auch nicht weiß, warum die Graft eigentlich so heißt.
"Den Stadtpark. Die Graftanlagen. Schön."
"Na klar. Ich hab es nicht sehr eilig."

Szenentrenner


Manchmal ist die Welt wie etwas, das man nur durch einen Spiegel sieht - real, und irgendwie auch nicht. Ich kam mir vor wie in einem Traum. Und das traumhafteste Geschöpf dieser Welt saß mir gegenüber, nippte an seinem Kaffee und erzählte mir aus seinem Leben. Meine Güte, wir hatten uns seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen!
"Und du? Bist du jemals verheiratet gewesen?"
Ja, ich bin einmal verheiratet gewesen. Aber eigentlich - wollte ich davon nicht reden. Ich sah Babsie kopfüber an der Schaukel hängen, die Beine um den Querträger geschlungen, mit wehendem blonden Haar, 14 Jahre jung, die Augen geschlossen, und sie sagte: "Wer mich küsst, darf mich auffangen!"
Ich hatte mich nicht getraut, Jörg auch nicht, und irgendwann schlug sie die Augen auf und sagte nur: "Feiglinge!"
Wir zwei Jungs wussten nichts darauf zu erwidern.
"Ja, ich bin verheiratet gewesen. Drei Jahre lang. War nicht so toll!" Ich wollte wirklich nicht darüber reden. "Inga und ich haben absolut nicht zusammen gepasst. Ein fataler Irrtum!"
Babsie nickte nur. "Mit Mark und mir ist es auch nicht viel anders gewesen. Ich bin froh, dass wir keine Kinder hatten. Als ich ging - naja, ein Mann ohne Substanz kann damit leben. Er lebt jedenfalls noch. Auch ohne mich."
Ein Mann ohne Substanz - was für eine seltsame Bemerkung. Genauso fühlte ich mich. Ein Mann ohne Substanz. Vielleicht würde mich der nächste Windstoß hinweg fegen. Aber wir saßen ja in dem Café. Hier wehte nichts.
Ich sah uns auf der Raupe stehen, Barry Ryan dröhnte aus den Lautsprechern, "Eloise, Eloise...", und die Wagen fegten an uns vorbei, immer im Kreis. Ich legte meine Hände auf Barbaras runden Po, aber sie fasste gleich nach und zog sie wieder fort.
"Das geht so nicht - das geht überhaupt nicht ..."
Um uns dröhnte der Lärm des Schützenfestes, Geschrei, "Eloise...", das Rattern der wie irr herum rasenden Raupe, deren Verdeck sich langsam schloss.
Zeit zum Küssen ...
Meine Güte, damals war ich fünfzehn ... und sie hat mir trotzdem nachher gezeigt, wie ein richtiger Zungenkuss funktioniert - aber damit war dann auch Schluss ...
"Es geht nicht, Ralf, es geht nicht ..."
Ich verscheuchte die Vergangenheit - jetzt war jetzt! Und auch, wenn wir uns jetzt nicht umschlungen hielten ...
"Ist verdammt nicht einfach, so eine Trennung!" sagte ich.
"Wir müssen uns von vielem trennen. Irgendwann sogar vom Leben ..." Sie lächelte. "Alles hat einmal ein Ende. Oder einen neuen Anfang. Ganz, wie du es sehen willst."
Sie war ein Engel! Verdammt, sie sah aus wie ein Engel - immer noch - und sie redete wie ein Engel. Sie war - nein, ich war verliebt. Zwanzig Jahre zurück - Babsie war wie eine Zeitmaschine. Und ich wünschte mir ... ich wünschte mir, dass sie möglicherweise - ganz möglicherweise – etwas ähnliches empfand. Und irgendwie glaubte ich, recht zu haben. Ich brauchte nur in ihre Augen zu sehen.
Ich überwand mich - ja, wirklich, ich überwand mich! - und sagte: "Ich war schwer verliebt in dich. Du bist bis heute noch nicht raus aus meinem Kopf, und dieser Tag reißt alle alten Wunden wieder auf ..."
Keine Ahnung, ob ich sie mit dieser Offenbarung irgendwie rumkriegen wollte - na doch, irgendwie schon, sonst sagt man ja so was nicht - sie nickte nur und wischte sich eine Träne oder sonst was aus dem Augenwinkel.
Dann streichelte sie den Henkel ihrer Kaffeetasse, als sei er ein kleines, liebebedürftiges Tier.
"Ich war auch verliebt." Babsie hat helle, blaue, funkelnde Augen - jetzt glühten sie. "In dich verliebt! Aber das ging nicht! Wir waren ja verwandt!"
Ich sah ihren Vater, mit der Bibel in der Hand. Der seltsamste Geburtstag meiner Kindheit.
Babsie hatte nichts davon gesagt, wir waren einfach so gekommen, auf ein paar Spiele im Garten, vielleicht noch einen Schaukelhänger. Einen Kuss. Ich hatte mir vorgenommen, sie dann auf jeden Fall zu küssen - komme, was da wolle!
Und plötzlich saßen wir an einem festlich gedeckten Tisch, zwei Torten in der Mitte, die Kuchenstücke wurden verteilt, und Jörg hatte die Gabel mit dem ersten Happen schon im Mund, als Vater Northus begann, das Dankgebet zu sprechen. Mann, das war sogar mir peinlich, ich hatte die Gabel auch schon in der Torte!
"Vater unser, wir danken ..."
"Meine Eltern haben mir jeden weiteren Umgang mit dir schlicht verboten. Nach dem Kriechkeller. Obwohl das ja wirklich lächerlich war ...!"
Ja, der Kriechkeller. Der letzte Platz, an dem wir uns jemals getroffen haben. Man konnte einfach unter dem Haus herumkriechen, das war wie eine Art von Katakomben, und vielleicht hätte man dort unten tatsächlich alle möglichen Dinge veranstalten können. Zum lang Liegen reichte die Deckenhöhe ja allemal. Aber die Phantasie der Erwachsenen reichte wohl einmal mehr weiter als unsere gemeinsame, irgendwie noch kindliche Vorstellungskraft ...
"Das hättest du mir doch sagen können."
"Nein. Ehrlich gesagt - ich glaube, ich habe mich dafür geschämt."
"Und ich dachte, du hast mich belogen. Ich meine, du warst das erste Mädchen, das mir einen Zungenkuss gegeben hat. Das hat mir sehr viel bedeutet. Und dann war plötzlich nichts mehr."
Barbara lächelte, ein wenig traurig, wie mir schien.
"Das tut mir Leid", sagte sie leise.
"Ist schon okay. Ich freue mich trotzdem, dass wir uns getroffen haben."
Sie sah aus dem Fenster. Draußen dämmerte es bereits, wir mussten schon mehr als drei Stunden hier im Café sitzen.
"Lass uns noch ein wenig gehen. Ich liebe dieses junge Grün. Der Mai ist der schönste Monat des Jahres, findest du nicht?"
"Ja."

Szenentrenner


Hand in Hand gingen wir durch den Park. Es war noch immer warm, der laue Wind strich durch die Bäume und ließ die Blätter wispern. Der Abendhimmel spiegelte sich im Wasser der Graft, die den ehemaligen Herrensitz des Grafen von Delmenhorst ringförmig umgibt.
Ich schwebte. Mir war unglaublich leicht zu Mute. Diese Frau war tatsächlich ein Engel. Und ich hatte sie wieder getroffen. Ich wünschte mir, sie niemals gehen lassen zu müssen – nicht noch einmal.
"Hast du schon mal eine Nacht im Park verbracht?"
"Was?" Ich lachte. "Nein, noch nie."
Barbara blieb stehen. "Willst du? Mit mir?"
Der Wind spielte mit ihrem langen blonden Haar. Zuerst dachte ich, sie scherze nur, aber ihr Gesicht war vollkommen ernst. Sie hatte wunderschöne Augen.
"Meinst du nicht, das es nachts noch viel zu kalt ist?"
"Dir wird nie wieder kalt sein, Ralf. Nie wieder."
Sie ließ meine Hand los und begann zu laufen. Über die Wiese, auf eine Baumgruppe zu. Sie schien zu schweben. Ihre Füße schienen den Boden gar nicht zu berühren. Ihr Haar wehte, und dann konnte ich sie lachen hören.
"Nun komm schon", rief sie über die Schulter zurück. Ich folgte ihr.

Szenentrenner


"Herzschlag", sagte der Notarzt. "Er muss sofort tot gewesen sein." Er stieß eine Dose Bohnen beiseite. Der Mann war mitten zwischen die Konserven gestürzt.
"Schrecklich", sagte die Verkäuferin, die den Krankenwagen alarmiert hatte. "So alt kann er noch gar nicht sein."
"Tja", murmelte der Arzt nur und erhob sich.
"Dann lasst uns mal die Bahre holen", sagte er zu seinen Kollegen.
"Sieht aus, als würde er lächeln", sagte die Verkäuferin.
Die Sanitäter gingen zum Wagen und schalteten das Blaulicht aus.

03. Nov. 2007 - Holger Kutschmann

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