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Mordula von Jörg Isenberg
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Der Planet funkelte in der Finsternis des Alls wie das kristallene Auge der Sternenbestie von Larion. Die Strahlen der Sonne reflektierten die Eiseskälte seiner Aura, bombardierten statisch das narbenzerfressene Antlitz des einzigen Trabanten und erreichten die Rezeptoren der Cruura. Diese erwachten aus einem scheinbar Sekunden währenden Schlaf, als sie die Witterung des Bösen aufnahmen.
Die Wahrheit lag zwischen zwei Lidschlägen, denn Chromu, das Weltenei aus reinsten Silber, hatte bereits in weit entfernten Abgründen des Sternenozeans die Spur der thaumaturgischen Komponenten aufgenommen. Selten kreuzten Partikelströme vorüberziehender Welten den Weg Chromus, die eine solche Intensität aufwiesen wie jene, die blank und gestochen scharf auf eine unheimliche Pervertierung des Raumzeitgefüges hinwies. Nicht einmal zwei Lichtminuten entfernt starrte das Auge hinaus in die ewige Nacht.
Narhan Talesan öffnete die Knospen des Wahren Blickes. Seine langen, feingliedrigen Hände streichelten die magischen Schnitzereien des Stabes von Larion. Er hob die Waffe von seiner Brust und legte sie vorsichtig zur Seite. Einen letzten Moment der Ruhe kostete er noch aus, ehe er einen Schalter niederdrückte, worauf die Schalttafeln und Monitore des kleinen Cockpits in düsterem Rotlicht Konturen annahmen. Er öffnete den lippenlosen Mund; zäh und trocken intonierte der Zeitgrenzer mit knarrender Altmännerstimme den Kantus von Parr Pruleth.
Chromu pulsierte in freudiger Erregung. Waren in anderen Regionen des Universums auch Zeitalter verstrichen, so reagierte die Silberne doch nur auf das warme und lebende Fleisch der Cruura. Ihr Erwachen bedeutete Transfomation, was gleichbedeutend war mit Aktion. Aktion bedeutete Kampf - danach mochte das Rad der Zeit wiederum an den Legierungen schleifen und kratzen, Kälte der Ödnis beißen. Hier und jetzt aber aktivierte die Verzerrung des Kontinuums die Rechtfertigungsautomatik des Höheren Seins. Die Gravitation des Bösen erschuf das Quantum der Bewusstwerdung in n-dimensionalen Eingeweiden, von Mächten gelenkt, denen die Zeitgrenzer ihr Leben verschrieben hatten. Chromu machte sich bereit ...
Nun öffnete auch der Cruura Harm Valeth die Knospen. Traurig legten sich die Augenblüten auf das schmale Gesicht des Novizen von Goh, denn sie entflohen einem fernen, ach so nahen Traum einer blauen Sonne, deren Licht sie seit Unzeiten nicht mehr hatten kosten dürfen. Harm Valeth betrachtete schlaftrunken den Meister, folgte dessem Blick durch das Panoramafenster. Gab es einen Präzedenzfall auf der großen Schleife der Ewigkeit, der ihn auf den beunruhigenden Schauplatz unheiliger Kräfte hätte vorbereiten können? Ein Gedanke, der sich später wiederholen sollte, zunächst aber in den letzten Nachwirkungen des Konservierungsschlafes ohne Widerhall verging.
Das Auge fixierte ihn. Es lockte. Es war abscheulich.
Der Memo-Sauger auf seiner Brust stieß einen klagenden Laut aus. Narhan Talesan unterbrach den Gesang der Erweckung, legte den Kopf in den Nacken und lachte humorlos in das Gewimmel der Sterne.
Eine vortreffliche Signatur, nicht wahr, mein lieber Harm? Hat die gute Chromu hinausgelockt, ihre und unsere Nüstern geweitet. Und, was riechen wir?
Harm Valeth strich sich das schwarze Haar von den Schläfen und gähnte. Blut, Meister. Kaltes, schleimiges, verderbtes Plasma in kalten, verderbten Organismen!
Der Meister aus dem Orden der Zeitgrenzer kicherte. Der gütige Allvater hat dich reich beschenkt, mein Junge. Wahrlich, deine Rezeptoren werden dich zu einem guten Jäger machen. Aber - die Zeit! Was spürt der Memo-Sauger? Was sieht er? Sage es mir.
Der Novize streichelte das Pelztier, das sich zitternd in die Halsgrube des Cruura kauerte.
Es ist ein Menschenplanet. Aber ich sehe keine Menschen. Ich sehe große Städte, verlassen, Millionen Fäden emsiger Spinnen in zerbrochenen Fenstern. Da sind Wüsten und Wälder; Insekten tanzen im Mondlicht, zwischen ihnen Wesen aus Schatten, Körperlose, Geister. Frost beißt Stein. Glut sprengt Fels. Memo-Sauger hat die Vision einer Schlange, die ihre Fänge in den eigenen Schwanz schlägt. Schmerzen, Hunger, Knochen - Berge von Knochen ...
Menschen? knurrte Narhan Talesan. Ich mag keine Menschen, habe sie nie gemocht.
Harm Valeth lächelte gequält. Ja, Meister. Aber ihre Welten sind ohne Zahl. Und sie sind nicht durchweg anfällig für das Böse. Sagen nicht die gütigen Mentoren der Allmacht, dass hinter jedem Sternenschleier eine Welt sich verbergen könnte, auf der das göttliche Mysterium einen Menschen ohne Makel erschaffen hat?
Die Larionen reden viel, wenn ihnen die Zeitalter zu lang werden, spottete Narhan Talesan. Hast du jemals einen solchen Menschenplaneten in Erfahrung bringen können?
Der Novize senkte verneinend die Sehstempel.
Und du wirst zu deinen Lebzeiten auch keinen vor die Knospen bekommen, das lass dir von einem alten Exorzisten wie mir gesagt sein. Seit drei Jahrtausenden durchstreife ich diese Sterneninsel, habe viele der von den Larionen erwähnten Sternenschleier bereist, aber makellose Menschen, die habe ich niemals gefunden.
Harm Valeth schwieg. Nachdenklich kraulte er die Ohren des Memo-Saugers, der verzückt die rot schimmernden Nickhäute über die schwarzen Knopfaugen schob. Stets fielen ihre Dispute über die menschliche Genetik des Bösen auf unfruchtbaren Boden. Das Herz des alten Mannes war ein steiniger Acker der Gerechtigkeit, auf dem die Saat der Erkenntnis hin und wieder von Dornen umrankte Blüten hervorbrachte. Idealisten wie der Novize von Goh erfuhren je nach Stimmungslage eine Predigt oder wurden mit zynischem Schweigen bestraft, wenn die geschickte Rede auf das Körnchen Wahrheit stieß, dem sich auch ein Meister seines Ranges nicht verschließen konnte. Waren denn nicht auch die Cruura anfällig für die Verlockungen der dunklen Seite? Diese als Krankheiten zu betrachten, welche durch die heiligen Kräfte der Thaumaturgie und den Schamanismus der Mentoren geheilt werden konnten, erschien ihm eindimensional. Die Praxis zeugte von Irrungen und tödlichen Fehlinterpretationen. Doch ein unbedachtes Wort in dieser Richtung konnte den wahren Zorn in dem alten Meister wecken.
Der Novize schüttelte diese Gedanken von sich, als Chromu die Batterien des interplanetaren Antriebs aktivierte. Die Scheibe des Planeten näherte sich rasend schnell. Auf den Monitoren erkannte man erste Einzelheiten. Narhan Talesan schaltete das Weltenei auf manuelle Steuerung. Seine Finger huschten über Sensorflächen, kippten Schalter, drehten Rädchen. Nach wenigen Augenblicken erreichten sie den Orbit. Der Meister des Ordens der Zeitgrenzer nickte seinem Begleiter zu. Harm Valeth schluckte. Seine Hand, die er zum Zeichen der Bereitschaft hob, zitterte leicht. Es gab kein Zurück mehr.
Chromu, Juwel der Sterne, beginne mit der Emo-Transformation. Sturz auf den Planeten in drei, zwei, eins - der gütige Allvater sei mit uns!
Narhan Talesan umklammerte das Ruder der Triebwerkssynchronisation und betätigte mit einem Fuß das Pedal der Schub-Dosierung. Harm Valeth legte beide Hände auf die Lehnen des Kontursessels. Seine Knospen weiteten sich, als die Schwärze des Alls aus dem Panoramafenster wanderte. Vor ihnen breitete sich das Verderben in alle Richtungen, griff nach dem kleinen Schiff, zog es unerbittlich in seinen gravitativen Bann. Schon zerrten die Kräfte der Atmosphäre an der Außenwandung. Chromus Bewusstwerdung erreichte einen ersten Höhepunkt. Mit dem nun deutlich hörbaren Fauchen der ionisierten Luftmassen begann die erste Stufe der Transfomation.
Die Cruura lauschten angespannt der Melodie der Naturgewalten. Ihre Knospen aber richteten sich auf den Monitor, der die Verwandlung des Schiffes in einer Echtzeit-Darstellung animierte. Harm Valeth beobachtete fasziniert, wie das Relief der Allmacht-Rune auf dem Bug in der Glut des thaumaturgischen Feuers erstrahlte, hochflüssiger Lava gleichend auseinanderfloss, in Schlieren an der Silberwandung des Schiffes emporkroch, sich verästelte, vereinigte, wieder verästelte, bis der ovale Körper eingesponnen in einen grellen Kokon psineuraler Energien jenen Augenblick der Transformation erreichte, an dem er ohne messbaren Zeitverlust das emotionale Wesen und die krankhaften Mutationen der planetaren Ganzheit aufnehmen, akkumulieren und verstehen konnte.
Chromu, bekämpfe Feuer mit Feuer!, erklang die Stimme des Meisters seltsam dünn im Brüllen der Luftmassen. Seine Knospen glommen euphorisch, und auch der Novize spürte die erhabene Anwesenheit der guten Mächte, die ihr Schicksal in untrennbarer Harmonie mit Chromu verbanden.
Auf dem Monitor, hinter dem Wall glühender Gase, vollzog sich der letzte Akt der Wandlung. Der spiegelnde Korpus des Raumschiffs wurde matt, pulste in monochromen Schwingungen durch alle Graustufen, bis sich unter der Glut des Energienetzes eine schwarze, rissige Metallhaut bildete. Aus den Flanken wuchsen Extremitäten, die wie kurze, kräftige Spinnenbeine anmuteten.
So wirkte Chromu, als galoppierte es auf einem Feuerschweif geradewegs in die unteren Schichten der Atmosphäre. Donner rollte über das Land, als das Schiff die Schallmauer durchbrach. Ein gelinder Sturm fegte über die Wälder der Ebene, sog Blatt und Zweig von den dunklen Böden, brach sich kreischend an kahlen Felsen und Ruinen, zerfetzte Netz und Nebel.
Das hohle Brausen verklang. Das Energiegespinst verblasste. Die Spinne Chromu sank langsam hinab. Ihre acht Beine senkten sich zeitgleich in den weichen Boden. Sie bewegte sich vorsichtig einige Körperlängen auf und ab, dann stand sie still. Sie wartete ...
Die Emo-Transformation war abgeschlossen, die Landung geglückt. Die beiden Cruura erhoben sich, große, schlanke Humanoide, gekleidet in das schwarze Ornat der Zeitgrenzer derer von Goh. Harm Valeth setzte den Memo-Sauger in einen Köcher, den er sich quer vor die Brust schnallte. Sie holten Mäntel aus den Konservierungsboxen, Schals und Handschuhe. Sie kleideten sich mit steifen Bewegungen an. Narhan Talesan ergriff seinen Stab; wie immer küsste er den in Silber gefassten blauen Diamanten, ehe er sich von dem Ladezustand der Waffe überzeugte. Von jetzt an würde er sie nur noch zum Essen und Schlafen aus der Hand legen. Vielleicht nicht einmal dann.
Er neigte den Kopf zur Seite, lauschte hinaus in die Kälte eines jungen Morgens. Still war es dort draußen. Der Himmel war von farbloser Blässe, die wenigen Schleierwolken von milchiger, greller Konsistenz. Ihn überkam ein seichtes Gefühl der Taubheit.
Bevor wir hinausgehen, mein lieber Harm - was sieht der Memo-Sauger, was ist hier geschehen, und wo liegt unser Ziel? Du erwähntest eine Schlange. Ich gestehe, in mir macht sich eine unbestimmte Unruhe breit.
Harm Valeth löste die Finger von den Griffen der Gravo-Koffer, die Experimentalutensilien und Waffen enthielten, streichelte den Kopf des kleinen Nagers und konzentrierte sich. Der Meister sah mit Stolz auf seinen besten Schüler, dem die göttliche Allmacht nicht nur hervorragende Rezeptor-Fähigkeiten, sondern auch die seltene Gabe des Memo-Bändigens geschenkt hatte. Der Memo-Sauger entstammte der Mutterwelt der Larionen. Ohne einen Bändiger, der seine Fähigkeiten nutzbar machte, war er nichts weiter als ein pelziger Pflanzenfresser. In den Händen eines fähigen Thaumaturgen verwandelte er sich jedoch in ein nützliches, gegen etwaige Feinde eingesetzt auch gefährliches Instrument. In den Händen des Novizen vergaß der Winzling den Geschmack von Nüssen unter faulendem Laub. Hatten freie Neuronenfelder einen Geschmack? Das jungenhafte Grinsen auf dem Gesicht des Zeitgrenzers erlosch, als Harm Valeth die Knospen des Wahren Blickes verschloss und mit brüchiger Stimme von dem berichtete, was Memo-Sauger zu vermitteln in der Lage war.
Die totale Umkehr biophotonischer Effekte erfolgte vor nicht mehr als vier, aber nicht weniger als zwei Sonnenläufen. Die Umkehr betrifft alle Wirbeltiere bis Stufe zwei.
Die letzten Centurien gehen in Erfüllung. Das, mein Freund, ist Armageddon. Schwarzes Blut versengt die Erde; Tropfen ihrer selbst fallen lautlos auf helles Gebein. Baumwipfel zerschlagen verzweifelt die Wolken. Ach, spürten wir noch einmal die Wellendruckmuster der kostbaren Schallinterpretationen. Niemals mehr singen die Schmetterlinge das azurne Lied des Himmels; der Taumel ist vorbei. Der letzte Laut menschlicher Zivilisation: Zerfall. Scheintod schleicht. In den Städten leben einzig die Schatten ... Harm Valeth stockte. Der Kopf des Memo-Saugers verschwand im Köcher.
Der Memo-Sauger hat Angst, sagte der Novize von Goh ungläubig. Er hat noch nie Angst gehabt!
Narhan Talesan erschrak bis in sein Innerstes. Ein Memo-Sauger, der Angst zeigte, galt als böses Omen. Es ging die Legende, dass ausschließlich die Sternenbestie in der Lage war, einen Memo-Sauger in tödliche Stasis zu versetzen. Aber Mordula war ein Phantom!
Mordula, hauchte Harm Valeth, dessen Gedanken auf ähnlichen Bahnen verliefen. Meister, unter diesen Umständen ist es ratsam, Verstärkung zu ordern. Wir sind allein nicht in der Lage, einen systemweiten Exorzismus zu vollziehen. Ziehen wir uns in den Orbit zurück und ...
Ist das eine rationale Memo-Interpretation, oder was? fragte der Zeitgrenzer streng. Der Novize zögerte kurz, dann neigte er den Kopf.
Nein, Meister.
Na also. Wir gehen hinaus, spülen die Nüstern mit kalter Luft und lassen die Rezeptoren sprechen. Chromu hat uns in die Nähe der negativen Kraftquelle geführt, welche ich noch vor Anbruch des neuen Tages neutralisiert haben will, damit wir so rasch wie möglich mit der Reinigungszeremonie beginnen können.
Der Novize folgte dem alten Mann in die Schleusenkammer. Der Prozess der Akklimatisierung dauerte eine Weile, und er nutzte die Zeit, um die Flughöhe und Folgeparameter der Gravo-Koffer zu programmieren.
Das zweiflügelige Schleusenschott öffnete sich mit einem schauderhaften Quietschen. Sie betraten eine Steintreppe, die zu beiden Seiten von verschnörkelten, schmiedeeisernen Geländern begrenzt war. Die unterste Stufe lag verborgen unter hohem, vom Rauhreif überzogenen Gras. Narham Talesan berührte den Handlauf. Das unebene, kohlenstoffreiche Metall hinterließ dunkle Spuren auf den Fingern. Er nickte anerkennend. Die Transformation war perfekt gelungen. Die Cruura standen vor dem Schiff und sahen, dass es auf einer Anhöhe gelandet war, von der man weit in das Land hinaussehen konnte. In der Ferne, einen guten Tagesmarsch entfernt, ragten verschwommen die Ruinen einer Stadt aus dem Morgendunst. Die Cruura blähten die Nüstern im schneidenden Wind. Nach einer Weile sahen sie sich an.
Harm Valeth nickte. Wir müssen dort hinunter. Da ist ein Gebäude, am Rande des Ruinenfeldes. Ich wittere Plasmakonzentrationen. Auch die Tierwelt ist nicht gut auf uns zu sprechen. Gestaltwandler schleichen durch die Wälder, Nachzehrer bewegen sich zwischen den Ruinen.
Wir machen uns augenblicklich auf den Weg, entschied Narhan Talesan und setzte seine Worte in die Tat um. Er eilte mit langen Schritten den Abhang hinunter. Der Novize und die Koffer folgten ihm.
Die Interpretation, erinnerte der Meister seinen Schüler, was ist mit der Interpretation?
Harm Valeth warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Chromu folgte ihnen in gebührendem Abstand. Sie würde sich von nun an dezent im Hintergrund halten. Ein Eingreifen war dem Schiff erst in der Endphase des Kampfes gestattet.
Die Interpretation, ja natürlich, antwortete er zerstreut. Außer uns existieren auf diesem Planeten keine Wesen der Gattung Säugetier. Ein umfassender Krieg hat nicht stattgefunden. Es wurde keine nennenswerte radioaktive Strahlung angemessen. Die hohen Konzentrationen erkalteten, dennoch zirkulierenden Plasmas deuten auf Vampirismus hin, allerdings in einem Ausmaß, das jeder überlieferten Beschreibung spottet. Selbst die niederen Säuger sind übereinander hergefallen. Chromu hat auf etwas reagiert, das lange Zeit im Verborgenen geruht hat, denn seine Transformation entspricht in keinster Weise dem letzten Stand der Zivilisation, bevor alles zusammenbrach. Etwas - oder jemand - dreht erfolgreich am Rad der Zeit. Aber seit kurzem ist dieser Prozess ins Stocken geraten.
Narham Talesan schnaufte. Es ist natürlich seine unermessliche Gier. Es ist immer die Gier, die ein solches Wesen schließlich sich selbst verzehren lässt. Die Schlange kostet ihr eigenes Plasma. Ich beginne nun, die Dinge zu verstehen, mein lieber Harm.
Vor ihnen ragten die Bäume eines Waldes empor. Der Meister entdeckte einen schmalen Pfad, der frei war von den stacheligen Wedeln der Nadelgehölze und immer dunkler wurde, je weiter sie ihm folgten.
Wer oder was ist es?, fragte Harm Valeth nach einer Weile. Seine Gedanken kreisten nur noch um das Phantom Mordula. Vielleicht hatte es sich auf diesem Planeten verkrochen. Wie lange mochte das her sein? Der Überlieferung nach wurde es vor Äonen von Bronth, dem heiligen Mond der Larionen vertrieben, zu einem Zeitpunkt, als das Universum noch jung war und sehr viel übersichtlicher als heute. Er tastete nach seinem kurzläufigen Silberbolzenwerfer, den Blick konzentriert in das modrige Labyrinth aus Baumstämmen gerichtet.
Pah! Mordula!, erwiderte der Meister, als habe er die Gedanken des Novizen gelesen. Ich gebe zu, hier war zweifellos ein außerordentlich talentierter Vampir am Werk, eine wahre Bestie. Und ich gebe auch zu, die ganze Sache hat einen cthulhuoiden Beigeschmack - aber Mordula? Lass es gut sein, Harm. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die handfesten Dinge. Ich habe da so eine Ahnung, dass wir das Ziel nicht ganz ohne Komplikationen erreichen.
Sie ließen den Wald hinter sich und wanderten in den folgenden Stunden durch urbanisiertes Land in Richtung Osten auf die Stadt zu. Narhan Talesan überdeckte seinen immer stärker werdenden Zweifel, was die wahre Natur des Vampirs betraf, mit forschem Schritt und dem scharfen Blick geschulter Knospen. Für seinen Schüler hatte dies Dutzende Lektionen in intergalaktischer Stereotypenlehre betreff Fauna und Flora der Ökosysteme von Sauerstoffplaneten zur Folge.
Der Novize ließ es in stoischer Ergebenheit über sich ergehen. Als die kraftlose Sonne im Zenit stand, entdeckten sie die ersten Spuren der Katastrophe. Narhan Talesan nutzte die Gelegenheit, sich im Schutz der über ihnen schwebenden Chromu auszuruhen, Harm Valeth aber ergab sich seiner Unruhe, die er ohnehin kaum noch zügeln konnte. Er erkundete das Gelände in einem Umkreis von tausend Schritten, stets darauf bedacht, den Sichtkontakt zur Chromu nicht zu verlieren.
Regeln gingen einem in Fleisch und Blut über, aber der Anblick getöteter Intelligenzen, insbesondere wenn das Böse den Tod gesät hatte, war eine individuelle Erfahrung und eine Angelegenheit des Charakters, des Mitleids und der Moral. Der Novize von Goh bemühte sich, die Dinge ausschließlich unter dem Blickwinkel der vor ihnen liegenden Aufgabe zu betrachten, aber der analytische Verstand litt erheblich bei dem Anblick der vielen Leichen in den unterschiedlichsten Stadien der Verwesung, die von mörderischen Klauenhänden aus ihren Gräbern gerissen und auf verschiedenste Arten geschändet worden waren. Nach einiger Zeit wurde der Verwesungsgestank trotz der eisigen Luft unerträglich. Harm Valeth kehrte um. Narhan Talesan empfing ihn wortlos, und sie verließen den Friedhof mit nun verhaltenen Schrittlängen.
Der Meister umklammerte seinen Stab mit beiden Händen, als sie die angrenzende Ortschaft durchquerten. Er zuckte zusammen, wenn sich zerfressene Gardinen aus den Fenstern bauschten, und das Klappern von Türen im Wind, der Flügelschlag und das Krächzen schwarzer Vögel zerrte an seinen Nerven. Wurde er allmählich zu alt für diese Arbeit?
Harm Valeth hingegen konnte seine Knospen kaum noch vom Boden lösen. Den entsicherten Silberbolzenwerfer in der Hand, entdeckte er neue Beweise für die infernalische Kettenreaktion des biophotonischen Umkehrungsprozesses. Auf eingezäunten Grasflächen lagen die Kadaver von Huftieren. Große Vögel kauerten auf deren Buckeln, beobachteten die seltsamen Wanderer mit verrenkten Köpfen. Die Beine eines Menschenkindes ragten unter einem Busch hervor.
Der Novize sah genauer hin. In dem Brustgerippe einer zerfallenen Leiche lehnte ein Holzpflock. Er hastete weiter, folgte dem Zeitgrenzer fluchend durch dornenreiches Gestrüpp und stand übergangslos auf einer asphaltierten Straße, die schnurgerade zur Stadt führte. Sie umrundeten einige ineinander verkeilte Wracks, die Harm Valeth als primitive Fortbewegungsmittel identifizerte. In den ausgebrannten Metallgerippen saßen Tote, deren weiße Zahnreihen einen harten Kontrast zu den verkohlten Hautschichten bildeten. Für den Augenblick war es genug. Er hob den Kopf und hielt sich dicht hinter Narham Talesan, der auf den weißen Strichen der Fahrbahnmarkierung dem dunkler werdenden Land entgegenschritt. Chromus Schatten und die beiden Koffer folgten den Cruura auf dem Fuße.
Die Straße neigte sich unmerklich. Narhan Talesan schätzte, dass sie mehr als eine gohnische Meile zurückgelegt hatten, als die Sonne hinter ihren Rücken den Horizont berührte. Ihre Strahlen tauchten die Ebene in ein dunkles Rot. Die einzeln stehenden Bäume inmitten weiter, brachliegender Felder warfen lange Schatten, und die Temperaturen sanken rasch. Als sie die ersten Häuser erreichten, tauchten blasse Sterne am Himmel auf. Vor ihnen, im letzten Licht der Dämmerung, lag das Chaos. Narham Talesan aber klatschte seinem Schüler auf den Rücken. Er sah nicht unzufrieden aus.
Na, endlich, brach er das lange Schweigen. Du spürst es auch, nicht wahr? Die Bestie ist nicht weit. Auch ist die Zeit ihres Erwachens gekommen. Nicht mehr lange, dann wird sie bemerken, dass sie nicht mehr allein ist auf dieser Welt. Sie wird uns wittern. Und sie wird kommen.
Da bin ich mir ganz sicher, bibberte der Novize. Wir sollten uns einen Ort suchen, wo wir das Biest gebührend empfangen können. Wir brauchen eine Arena, einen großen Raum, eine Halle oder so etwas. Ist sie einmal dort, kann sie uns so schnell nicht mehr entwischen.
So sei es, machen wir uns auf die Suche, antwortete Narhan Talesan. Er hob den Stab der neuronalen Wahrheit und wisperte einen Spruch aus dem Buch Pruleth. Der blaue Diamant erstrahlte in mildem Feuer. Harm Valeth entnahm einem der Koffer eine Stablampe. Im Zentrum der Lichtkugel, die nur wenige Schritte weit reichte, erkundeten sie mühevoll einen Weg durch die Trümmerlandschaft, die sich vor ihnen ausbreitete.
Da hob der Novize von Goh plötzlich den Bolzenwerfer und feuerte. Das Geschoss verließ mit hellem Singen den Lauf. Schräg über ihnen, auf dem Kamm einer zerbröckelten Mauer, fiel eine undefinierbare Gestalt lautlos in die jenseitige Dunkelheit. Die Cruura gingen hinter einer mit bunten Plakaten bedeckten Säule in Deckung, als zwischen ihnen ein mit erheblicher Wucht geschleuderter Stein zerplatzte.
Es beginnt, sagte Narham Talesan mit nüchterner Stimme. Aber der Spuk wird nicht lange dauern. Wir sind letztendlich reserviert, mein lieber Harm. Die Bestie wird seine Gouhle zurückpfeifen.
Harm Valeth leerte mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen das Magazin. Lautes Ächzen und Stöhnen verriet, dass er getroffen hatte. Was oder wer auch immer der Angreifer gewesen sein mochte, er zog sich zurück. Ein letzter Steinhagel traf die Koffer. Das hohle Trommeln hallte durch die Straßenschlucht, dann waren sie offensichtlich wieder allein. Die empfindlich geschwollenen Rezeptoren der Cruura witterten Plasma. Narhan Talesan sah seinen Schüler scharf an.
Du blutest! Sofort abwischen, schließe die Wunde! Es ist noch zu früh.
Harm Valeth tat, wie ihm geheißen. Trotzdem schien sich die Atmosphäre übergangslos zu verändern. Die geschärften Sinne der beiden Jäger tasteten sich von Haus zu Haus, von Querstraße zu Querstraße. Mit vorgehaltenen Waffen und einer Menge Respekt vor den Zeugnissen sinnloser Zerstörungswut, betrachteten sie die Fassaden der Häuser, von denen nicht wenige vollständig eingestürzt waren. Ein schneidender Wind kam auf, durchbohrte ihre Kleidung mit nadelfeinen Spitzen, wehte ihnen die langen Haare ins Gesicht. Ein auf- und abschwellendes Brausen und Heulen, verstärkt durch Millionen Fensterhöhlen, erfüllte die Luft mit bösen Schwingungen. Verdichtete Schatten krochen über Wände, hin und wieder erklang ein animalischer, langgezogener Schrei. Harm Valeth sah hinauf zu Chromu, die scheinbar unbeeindruckt einige hundert Schritte entfernt die Überreste eines Personentransporters erkundete. Dem erleichterten Aufatmen folgten einige Sekunden des Schreckens.
Meister, der Experimentalkoffer ist verschwunden!
Narhan Talesan stieß einen Fluch aus. Höllenbrut! Der Angriff galt nicht uns, sondern der Ausrüstung! Ohne das baryanische Photonennetz haben wir fast keine Chance.
Harm Valeth öffnete mit fliegenden Fingern den Waffenkoffer und entnahm ihm eine Harpune. Hastig stopfte er sich einige Nitro-Quecksilber-Phiolen in die Taschen seines Mantels. Der Meister lachte grimmig. Du hast Recht, wir haben einen Aufgabe zu erfüllen. Für eine Umkehr ist es zu spät. Jetzt aber rasch! Vielleicht gelingt es uns noch, den Ort der Konfrontation selber zu bestimmen. Linker Hand liegt das Gebäude, das wir von der Landestelle aus lokalisiert haben. Versuchen wir dort unser Glück.
Sie rannten über eine Betonfläche, die erstaunlich frei war von Trümmern. Auf der gegenüberliegenden Seite ragte ein Zaun aus geflochtenem Metall mehrere Körperlängen hoch auf, der sich in beiden Richtungen in der Finsternis verlor.
Narhan Talesan hob seinen Stab. Eine grellblaue Energiespirale löste sich vom Diamanten, traf den Zaun und pulverisierte ihn so weit, dass sie problemlos durch die Lücke schlüpfen konnten. Jenseits der Sperre lag ein weites, ebenfalls betoniertes Feld. Die Cruura assoziierten damit zeitgleich und unabhängig voneinander einen Ort der Raum- oder Luftschifffahrt. Dieser Gedanke bestätigte sich bei dem Anblick der altertümlichen geflügelten Maschinen, deren Konturen sich in dem stärker gewordenen Sternenlicht abzeichneten.
Da rüber, keuchte Narham Talesan. Er deutete auf ein langgestrecktes Gebäude von der Form einer halbierten Röhre. Aus dessen Fenstern fiel ein schwacher Lichtschein! Harm Valeth stieß einen Triumphschrei aus und stürmte vorwärts.
Harm, warte, gellte die Stimme des Meisters hinter seinem Rücken. Verflucht, warte!
Mit vorgehaltener Harpune taumelte der Novize durch eine schmale Tür und sicherte nach allen Seiten. Narham Talesan eilte heran. Er versetzte seinem Schüler einen derben Stoß, ehe er ihn in die Deckung einiger aufgestapelter Fässer zog.
Narr, der du bist! Noch vor Sekunden war hier alles stockdunkel. Wer, glaubst du, hat das Licht eingeschaltet?
Der Novize von Goh zuckte zusammen. Eine Automatik, vielleicht ..., stammelte er.
Automatik - pah!
Narham Talesan richtete sich langsam auf. Die Leuchtstoffröhren unter der Hallendecke strahlten grellweiß herab. In der Mitte des etwa fünfhundert Schritte langen Gebäudes lag der weiße Rumpf einer großen Flugmaschine. Die Rolltore am anderen Ende der Halle standen weit offen. Dahinter lag die undurchdringliche Schwärze der Nacht. Der Meister wandte sich rückwärts. Der Waffenkoffer war ebenfalls verschwunden. Er schlich zur Tür und sah durch einen Spalt hinaus. Seine Ahnung bestätigte sich. Wenige Schritte vor seinen Knospen bildeten Untote eine dichte Mauer. Ein Meer lidloser Augen reflektierte das Sternenlicht. Hier und da hörte man ein Stöhnen oder das Schlurfen von nackten Füßen auf dem Asphalt, pendelten Köpfe im Wind, flogen undurchdringliche Schatten mit weiten Schwingen über das Heer der Nachzehrer. Einzelne Arme ragten aus der Menge, als wollten sie die Chromu erreichen, die regungslos über dem Flugfeld schwebte und wartete. So wie die Untoten warteten.
Der Meister der Zeitgrenzer warf die Tür ins Schloss. Das Echo hallte wie ein Donnerschlag durch das Gewölbe. Wir haben uns wie Anfänger benommen, Harm. Das hier ist eine Falle, und wir sind blind hineingetappt.
Wie konnte das geschehen, Meister?, stammelte der Novize. Narhams Schultern bebten vor Zorn.
Ich hätte die Bestie bei Tageslicht suchen sollen, überhörte er die Frage seines Schülers. Ich habe das Omen des Memo-Saugers missachtet. Seit tausend Jahren habe ich keinen solchen Fehler begangen.
Meister!, schrie der Novize von Goh erstaunt auf. Der Memo-Sauger, er erwacht!
Nahram Talesan schnellte herum und ging in die Hocke. Schnell, was sieht er? Kann er etwas empfangen?
Harm Valeth sah den Meister an. Auf seinem Gesicht lag grenzenloses Entsetzen. Er ... er stirbt. Er stirbt vor Angst. Ich kann nichts erkennen. Alle Centurien verwehen. Da ist ein verwaschenes Bild von einer Erdhöhle unter dunklem Laub. Ein letzter Traum ...
Aus dem Dunkel hinter den offenen Rolltoren drang ein Kichern.
Die beiden Cruura hatten das Gefühl, von innen heraus zu gefrieren. Narham Talesan spürte, wie der Stab seinen kraftlosen Fingern zu entgleiten drohte. Harm Valeth sank in sich zusammen und sah verständnislos hinab auf den toten Memo-Sauger. Sein Verstand leerte sich in dem Maße, mit dem sich die Seelenverknüpfung auflöste und durch nichts ersetzt wurde als das graue Wallen an der Schwelle des Todes. Von einem gnädigen Schock erfasst, umklammerte er den Köcher, ein trauriges, fernes Lächeln auf den Lippen, unfähig, die Dinge um sich herum zu registrieren, geschweige denn zu verstehen.
Narhan Talesan blickte mitleidig auf seinen Schüler hinab. Er verharrte einen Augenblick, dann atmete er mehrmals tief durch, zog sich an seinem Stab auf die Beine und verließ die Deckung. Mit ruhigen Schritten trat er einer Bestie entgegen, die einmalig war in diesem Universum.
Mordula!
Wieder kicherte das Wesen, das nicht viel jünger war als das Licht der Sterne. Harm Valeths Kopf ruckte bei dem Klang ihres Namens vor und zurück. Ein langer Speichelfaden hing aus seinem Mundwinkel und befleckte das Ornat der Zeitgrenzer von Goh. Mit fahrigen Bewegungen schnallte er den Köcher ab, ließ ihn achtlos zu Boden fallen. Wie von einem seltsamen Eigenleben beseelt, krabbelten die Hände über den Körper und griffen hart zu, als sie die Harpune zu fassen bekamen.
Chromu, sagte er lahm und leise. Das Wort ging in dem Trommeln unter, das plötzlich durch die Halle dröhnte. Mörderische Schläge trieben tiefe Dellen in die Außenwände. Ein gewisser Rhythmus schwang darin, der Puls eines kalten, langsam schlagenden Herzens. Narham Talesan spürte kaum das Platzen der Rezeptoren, fühlte nur, wie ihm das Blut über Lippen und Kinn in die Halskrause tropfte. Es schmeckte bitter.
Mordula! schrie er ein zweites Mal.
Da kam sie!
Narham Talesan streckte den Stab in die Höhe und aktivierte mit einem Spruch aus dem Buch Pruleth die Kraft der neuronalen Wahrheit. In einen blau wabernden Energieschirm gehüllt, empfing er die Bestie, deren Gestalt er unter dem Mantel aus Schatten kaum erkennen konnte. Ihre Augen aber glitzerten wie geschliffene Edelsteine, warfen ein kaltes Licht auf den Schirm, der unter ihrem Blick zu schrumpfen schien.
Ihr Kreischen vermischte sich mit dem Schrei des Cruura, als die Körper aufeinanderprallten. Grelle Energieblitze zuckten durch die Halle. Stählern schimmernde Klauen bohrten sich in den Schirm des Zeitgrenzers.
Narham Talesan sah in den rot pulsierenden Rachen Mordulas, jagte Energiespiralen zwischen die funkelnden Zahnreihen, aber die Kraft der Allmacht traf auf einen zähen Widerstand. Eine mentale Welle des Hasses und der Belustigung schlug den Zeitgrenzer gleich einer unsichtbaren Faust zu Boden.
Hinter den Fässern schmetterte sich Harm Valeth den Lauf des Bolzenwerfers gegen den Kopf, als ihn die Vision einer Armee gepanzerter Larionen überfiel, die ein ganzes Weltenalter vom Jetzt entfernt in den Bergen von Bronth gegen eine schwarze Festung brandete. Leichen bedeckten das Schlachtfeld bis zum Horizont ...
Wer hat dich geweckt?, wimmerte er. Wie haben sie es geschafft?
Die Kraft des Stabes warf die Bestie ein letztes Mal zurück, gegen das Flugzeug, das unter dem Aufprall über den Boden rutschte und gegen die Hallenwand prallte. Narham Talesan schwankte, fiel auf die Knie. Der Schirm flackerte. Erlosch.
Der Ur-Vampir aus den Tiefen der Zeit erhob sich aus den Trümmern, zog eine brodelnde, zischende Bahn gefallener Seelen hinter sich her, als er sich gemessenen Schrittes auf den Zeitgrenzer zubewegte.
Chromu!, wimmerte Harm Valeth. Er stützte die Ellbogen auf den Boden und feuerte. Die Gestalt schluckte die Phiolen, ohne den Novizen zu beachten. Er beobachtete in dumpfer Fassungslosigkeit, wie die Bestie den Stab aus den Händen des Meisters riss, der dem Bann ihres hypnotischen Blickes erlegen war. Sie schleuderte die Waffe mit einer beiläufigen Bewegung hinaus in die Nacht.
Narhan Talesan öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Mordula beugte sich zu ihm herab und schlug ihre Zähne tief in seine Brust.
Das Trommeln verstummte. Harm Valeth saß da wie ein Kind, lauschte verstört dem Saugen und Schmatzen, betrachtete mit einem wehleidigen Gefühl im Herzen das Gesicht seines Meisters, das sich innerhalb eines Augenblickes in einen mit Pergamenthaut überspannten Totenschädel verwandelte. Die Knospen des Wahren Blickes verwelkten.
Der Cruura verschluckte mit verzweifeltem Würgen die eigenen Zähne, ehe er als ausgedörrtes Stück Fleisch zu Boden fiel und mit ungelenken, marionettenhaften Bewegungen dem gleißenden Licht der Halle zu entkommen versuchte.
In diesem Augenblick bahnte sich Chromu einen Weg durch das Deckengewölbe.
Mordula sprang dem Schiff mit einer fließenden Bewegung entgegen. Sie prallte gegen die gleißende Allmacht-Rune, versuchte vergebens, die Krallen in die Metallhaut zu schlagen.
Chromu drängte die kreischende Bestie zurück auf den Boden, der bei der harten Landung erzitterte. Glühende Kopfstacheln bohrten sich in den Schattenleib, versuchten ihn zu zerfetzen.
Mordula zerfloss unter der Attacke und breitete sich wie ein Mantel über das Schiff, das sich blitzartig in einen thaumaturgischen Schirm hüllte, über die Längsachse rollte und den Vampir mit einem Hagel larionischer Energiepfeile eindeckte.
Die Bewegungen der Kämpfenden waren so schnell, dass Harm Valeth ihnen kaum noch folgen konnte. Die Todfeinde umklammerten sich.
Ihre Schläge hieben tiefe Furchen in den Beton. Ein Splitterhagel traf den Novizen von Goh, fügte ihm tiefe Fleischwunden zu. Er wandte sich von den Kämpfenden ab, klammerte sich verzweifelt an den Gedanken, irgendwie zu seinem Vorteil eingreifen zu müssen, als die offenstehende Tür in sein Blickfeld geriet.
Bleiche Hände tasteten in den Raum und zogen sich wehklagend zurück, als Licht darauf fiel. Harm Valeth hob die Waffe. Ein Phiolenpfeil schnellte aus dem Schaft, explodierte mit dumpfem Knall und durchdringenden Blitz. Abgetrennte Gliedmaße prasselten gegen die Außenwand; einige flogen durch den Tührrahmen, landeten zuckend vor seinen Füßen. Das Geheul wurde lauter.
Der Novize belud die Harpune, wollte erneut feuern, da traf ihn eines der Fässer und presste ihm die Luft aus den Lungen. Keine zwei Schritte vor ihm zischte eine Klauenhand der Bestie vorbei, schlitzte mit einem hässlichen Geräusch die Tonne auf, überschüttete ihn mit ätzendem Treibstoff.
Ein mörderischer Schlag traf ihn am Kopf, fegte ihn von den Beinen, so dass er einige Dutzend Körperlängen entlang der Wandung über den Boden schlitterte. Die Harpune entglitt seinen Händen, verschwand zwischen den Trümmern des Flugzeugwracks. Seine rechte Knospe ertrank in einem Blutschwall.
Taubheit erfasste seinen Körper. Trotzdem stemmte er sich auf die Ellbogen, robbte, im eigenen Blut ausrutschend, hinter der Waffe her. Das Toben der Kämpfenden nahm an Lautstärke zu, aber Harm Valeth fixierte stur die Harpune.
Als er sie erreichte und die Finger auf den Kolben legte, erloschen die Leuchtkörper.
Dem Novizen stockte der Atem. Er griff sich an die Ohren. Tastete über die Knospen.
Stille.
Dann, nach einer unbestimmbaren Zeitspanne, ein leises Schleifen und Röcheln. Harm Valeths Blicke tasteten in der Finsternis umher. Schließlich gewahrte er die still daliegende Gestalt der Chromu. Der Schatten Mordulas ragte darüber empor.
Der Novize von Goh beschloss, nicht kampflos zu sterben. Mit einer letzten Kraftanstrengung hob er die Harpune und feuerte. Der Schuss ging weit daneben, traf eines der Fässer, das mit einem dumpfen Knall explodierte. Eine Wand aus Flammen hüllte die Bestie ein, fegte über den Buckel des Schiffes und verpuffte, ehe sie den Cruura erreichte.
Mordula brannte lichterloh! Ihr infernalisches Geheul lockte die Untoten, die sich als schwankende Masse in die Halle ergossen. Einsam und schrecklich anzusehen wankte von der anderen Seite der Gouhl Talesan in den Kreis des flackernden Lichtscheins.
Ein weiteres Fass verformte sich in der Hitze, zerbarst, überschüttete die Marionetten des Bösen mit flüssigem Feuer. Inmitten des Durcheinanders erhob sich Chromu und begrub die Sternenbestie mit einem überraschenden Sprung unter seinem gewaltigen Leib.
Harm Valeth schrie triumphierend auf, mobilisierte seine letzten Kraftreserven. Die Nitro-Geschosse mähten breite Schneisen in die wogende Masse. Kalte Hände glitten über seinen Körper, als er sich einen Weg zur Chromu bahnte, zerrten seinen Haaren, rissen an Haut und Kleidung, aber die Chemikalien, die sein Hirn fluteten, machten ihn unempfindlich gegenüber allen Schmerzen.
Chromu erwartete ihn. Der Novize schleuderte die Harpune von sich, schoss mit dem Bolzenwerfer auf einen Gouhl, der sich in seinen Oberschenkel verbissen hatte.
Kalter Schleim spritzte ihm ins Gesicht, als der Kopf mit einem matschigen Geräusch zerbarst. Dann ließ er sich nach hinten in die geöffnete Schleuse fallen, deren Flügeltüren sich gleich darauf wieder schlossen und dabei mit einem knirschenden Geräusch einen weiteren Kopf zerquetschten.
Knochensplitter fegten wie Geschosse durch den Raum. Eine schwarze breiige Masse floss an den Türen hinab und verteilte sich auf dem geriffelten Kunststoffboden, verflüchtigte sich in einem glitzernden Schemen voller Augen.
Harm Valeth öffnete das Innenschott, floh in das enge Cockpit, wo er sich schwer auf den Pilotensessel warf. Er brauchte mehrere Anläufe, bis die zitternden Finger die Sicherungsabdeckung der Notstartautomatik fanden. Er zerstörte den Deckel mit dem Kolben der Waffe und hieb mit dem Lauf auf den blauen Knopf.
Chromu löste sich schwerfällig vom Boden, schwebte langsam zur Decke empor. Sicherungsgurte schnellten aus dem Sitz, rasteten ein. Die Gravo-Batterien heulten auf. Warnlampen flackerten.
Harm Valeth bewegte die Lippen unbewusst im Gebet, starrte mit verschleiertem Blick auf die Außenmonitore. Der zertrümmerte Schatten Mordulas klebte in langen Fäden an der Unterseite des Schiffes wie zähflüssiges Plastik. Chromu feuerte unablässig Energiespiralen in den zerfallenen Körper. Allmählich gewannen sie an Höhe.
Der Novize von Goh hatte noch Zeit, einen Blick auf den Gouhl zu werfen, dessen Schüler er einst gewesen war. Der Untote reckte gierig die Arme empor. Seine Schreie verloren sich im Chaos der brennenden Leiber und explodierenden Fässer. Er zerfiel augenblicklich zu Staub, als er ein Schattenfragment der Sternenbestie berührte.
Dann waren sie frei!
Chromu katapultierte sich förmlich durch das Hallendach, befand sich weniger als zwei Atemzüge später in den oberen Schichten der Atmosphäre. Der Cruura schrie unwillkürlich auf, als ihm die Schwärze des Alls ins Gesicht zu springen schien. Auf dem Panoramafenster tauchten die ersten Sterne auf. Linker Hand fiel der Trabant hinter dem Schiff zurück.
Harm Valeth schluchzte, würgte und erbrach sich auf den Oberkörper. Schließlich war um ihn herum nur noch das leise Summen der Maschinen.
Eine Zeitlang befand sich das Bewusstsein des Cruura auf dem schmalen Grat zwischen Traum und Wirklichkeit, ehe das Gefühl für ein reales Verstreichen der Zeit die Oberhand gewann. Auch die Schmerzen, die er nun bis in die letzten Faser seines Fleisches spürte, hatten ihren Anteil daran, und ihm wurde klar, dass er dem Wahnsinn nur knapp entronnen war. Und wenn er nicht schnellstmöglich den Regenerationstank aufsuchte, konnte er immer noch an den Wunden sterben.
Zunächst aber musste er sich um das Schiff kümmern.
Chromu, beginne mit der Retro-Transformation!, sagte er matt.
Das Schiff rührte sich nicht. Die Monitore blieben dunkel. Harm Valeth runzelte die Stirn. Seine Finger suchten fahrig nach den entsprechenden Sensortasten und drückten sie nieder. Es erfolgte keine Reaktion.
Chromu, hörst du mich?
Er bekam keine Antwort. Chromu beschleunigte gleichmäßig auf dem vorgezeichneten Pfad zur Hypertransmission, eine schwarze Metallspinne mit angezogenen Gliedmaßen, die hin und wieder zuckten als gehörten sie zu einem lebendigen Wesen.
Rauhreif kroch wie im Zeitraffer über die Kontrollinstrumente. Harm Valeth erstarrte.
Und verstand.
Es war eine gottverdammte Falle, nicht wahr?, sagte er tonlos. So war es von dem Moment an geplant, an dem wir dieses System anflogen. Vielleicht schon früher.
Hinter ihm erklang ein leises Kichern.
Ich habe meinen Mantel abgeworfen, hauchte eine Stimme, die ihm kalt wie flüssiger Stickstoff in die Gehörgänge drang. Lange, weiße Finger mit diamantenen Nägeln legten sich sanft auf seine Schultern.
Nur den Mantel, mein Schatz.
Die Augen! Die Augen im Schleusenraum!
Dies ist ein schwarzer Tag für die Galaxis, flüsterte der Novize.
Sein Sterben dauerte Lichtjahre.
31. Dez. 2007 - Jörg Isenberg
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