|
Von hier bis zum Mond von Andreas Schröter
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Je älter die Leute werden, desto mehr denken sie an ihre Vergangenheit. Hach, was war das toll, als ich jung war, sagen sie sich. Die Frauen kamen in Scharen. Ich konnte mir eine aussuchen ... Alles Quatsch. Ich bin verdammt froh, schon 43 zu sein.
Und ich will Ihnen auch sagen, warum: 1978 war ich noch keine 43, da war ich 15. Und 15 ist ein saublödes Alter, sage ich Ihnen. Eigentlich möchte man doch nur John-Sinclair-Romane lesen, mit seinem Mofa durch die Gegend fahren, Fußball spielen und vielleicht ein paar Songs aus dem Radio aufnehmen, oder nicht? Stattdessen wird man dauernd abgelenkt durch Mädchen, die plötzlich mit allerlei verwirrenden Rundungen ausgestattet sind, und vor allem durch gleichaltrige (!) Jungen, die aus heiterem Himmel behaupten, sie hätten dieses oder jene Mädchen neulich an dieser oder jener Stelle berührt. Mein Tischnachbar Michael sagte einmal mitten in einer Lateinstunde: Ich hab der Kerstin neulich den Pullover hochgeschoben. Sie hat mich gelassen, fand das wohl ganz gut." Mein Gott! Wie sollte man angesichts solcher Neuigkeiten in Ruhe seine Geisterjäger-Romane lesen oder gar Latein lernen? Nicht, dass man es selbst auch nur im Entferntesten in Erwägung gezogen hätte, einem Mädchen den Pullover hochzuschieben oder etwas in der Art, aber gar nichts in dieser Richtung zu unternehmen, konnte auf Dauer auch peinlich werden. Scheiß-Gruppenzwang!
***
Na ja, in besagtem Unglückjahr 1978 kam es in dieser Hinsicht zu einem ultimativen Höhepunkt. Stellen Sie sich folgendes vor: Klassenfahrt an die Ostsee, außer uns noch mehrere fremde Klassen im selben Gebäude untergebracht. Mit Mädchen. Ich abends gegen neun weiß der Geier warum mit den beiden begnadetsten Pulloverhochschiebern meiner Klasse auf den Fluren in diesem Bau unterwegs.
Soweit, so schlecht.
***
Und dann das: Hach, was haben wir denn da für drei Hübsche", sagte Michael, als wir auf drei völlig fremde Mädchen stießen.
Sie kicherten.
Wo wohnt ihr denn?"
Sie kicherten. Doch dann kam überraschenderweise die Antwort: Gleich hier vorne."
Können wir nicht kurz reinkommen, hier auf dem Flur ist es so kalt." Peinlicherweise zeigte er bei dem Wörtchen so" mit Daumen und Zeigefinger, wie kalt genau.
Ich wurde knallrot im Gesicht und erlitt einen Schweißausbruch. Das Kichern der Mädchen weitete sich zu einer Art Kreischen aus. Gottseidank würde es gleich vorbei sein, dachte ich, wenn sie uns auf dem Flur stehen gelassen hatten, doch dann sagte eines der Mädchen zu meinem grenzenlosen Entsetzen: Klar, warum nicht, wir haben gerne solche netten Jungs wie euch unter uns." Bei unter uns" kannte das Kreischen keine Grenzen mehr.
Ich murmelte Michael ins Ohr, dass ich jetzt leider weg müsste Zahnarzttermin oder so. Doch, doch, den gibt's auch im Landschulheim auf Klassenfahrt abends um neun. Ausnahme sozusagen. Leider packte Michael mich am Kragen und zog mich in das Zimmer der Mädchen. Ich guckte auf die Uhr. Fünf nach neun. Um zehn mussten wir in unseren Zimmern sein. Noch 55 Minuten.
***
In Minute 25 vor dem erlösenden Ende spitzte sich die Lage bedrohlich zu. Michael sagte: Scheißenhell hier. Is' ja wie im Stadion bei Flutlicht. Können wir nicht das Licht n'bisschen dimmen. Wir ha'm doch `ne Kerze."
Klar, kein Problem für Iris, Maike und Stefanie aus Recklinghausen.
***
In Minute 15 vor dem Ende konnte man nicht mehr davon sprechen, dass die Situation irgendwie aus dem Ruder lief. Sie war bereits komplett aus dem Ruder. Bei dem Menschenknäuel links zu meinen Füßen konnte ich angesichts der bescheidenen Lichtverhältnisse beim besten Willen nicht mehr erkennen, welches Bein nun zu Stefanie, welcher Arm zu Martin und welches Pulloverstück eigentlich an eine andere Stelle gehörte. Das war links von mir. Rechts von mir ebenfalls in Fußhöhe hörte ich ein deutliches Schmatzen. Und konnte es etwa sein, dass das Gewimmel zwischen den Mündern von Michael und Maike ihre Zungen waren? Unglaublich so was! Völlig!
Ich selbst befand mich sitzenderweise auf einem Zweiersofa. Leider ganz und gar nicht allein. Neben mir saß Iris, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie mich penetrant von der Seite anschaute. Ich sagte mitten in das Gestöhne hinein: Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, welche Leistungskurse du in der 11/2 nehmen willst? Also, ich denke mal, ich könnte mich mit Englisch und Erdkunde, vielleicht aber auch mit Bio ..."
Wollen wir jetzt wirklich über die Schule reden?", sagte Iris so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte.
Ja, Herrgott noch mal, über was denn sonst?
***
In Minute eins vor dem anvisierten Aufbruch dreißig Sekunden vor zehn erlebte ich den schrecklichsten Countdown meines Lebens. Martin, Michael, Stephanie und Maike hatten sich erhoben, standen vor unserem Sofa und zählten laut die Sekunden runter: Dreißig, Neunundzwanzig los jetzt küsst euch endlich achtundzwanzig, siebenundzwanzig nun macht schon ..."
Ich saß stocksteif auf dem verdammten Sofa. Ich glaube, es war genau dieser Moment, in dem mein zwischenzeitlicher Berufswunsch Astronaut geboren wurde. Wie weit ist noch mal der Scheiß-Mond von diesem Scheiß-Sofa hier entfernt?
Drei, zwei, eins, null."
Ich stand abrupt auf und rannte mit Martin und Michael aus dem Zimmer, den Flur entlang, den Treppenabsatz hinunter bis zu unserer Zimmertür. Meine Klassenkameraden waren etwas schneller und schon früher hinter unserer Tür verschwunden. Als ich ebenfalls gerade hineinrennen wollte, spürte ich einen Griff an meinem Arm. Iris. Sie war mitgelaufen und riss mich jetzt herum. Dann presste sie sich an mich und drückte ihre Lippen auf meine. Ich spürte irgendwas Glitschiges. Sollte das etwa ...?
Ehrlich gesagt: Dieses Glitschige war bei genauerer Überlegung gar nicht so furchtbar schlecht. Es war sogar noch ein bisschen besser als Geisterkrimis lesen und sogar auch, selbst wenn man's nicht gerne zugibt, als Lieder aus dem Radio aufnehmen und möglicherweise weia! sogar als ein Flug zum Mond. Na ja, eigentlich war es so ähnlich wie ein Flug zum Mond. Nur ohne Raumschiff.
***
Als unser bekloppter Pauker die Zimmer kontrollierte, war ich als einziger noch nicht im Bett. Wieso tanzt du hier noch rum?", meinte er und gab mir einen Tadel. Das mit dem Tanzen traf es irgendwie und der Tadel war mir schnuppe. Iris hatte übrigens zum Abschied gehaucht: Ich hab gleich gemerkt, dass du nicht so einfach zu haben bist."
Genau!
28. Jan. 2008 - Andreas Schröter
Bereits veröffentlicht in:
Schreib-Lust Print #8 - 2007 72 Seiten / 4,40
[Zurück zur Übersicht]
|
|