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Türen von Harald A. Weissen
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Da war sie also, die unscheinbare Metalltür mit der reliefartig vorstehenden Nummer 607. Ich stand am dunklen Ende des langen Korridors im dritten Stockwerk und zerbrach mir den Kopf darüber, was wohl hinter ihr sein mochte. Welches Geheimnis da verborgen war. Ich wusste nur eines: Die Tür war gefährlich.
Aber der Reihe nach. Seit fast einer Woche arbeitete ich nun bereits hier in dieser Firma, die Verpackungen für die unterschiedlichsten Produkte - angefangen bei Spielzeugen, endend bei Pharmaerzeugnissen - entwirft und herstellt, und ich hatte noch immer nichts Konkretes zu tun. Keinen ernstzunehmenden Auftrag, keinen Kunden, den ich mit meinem Wissen betreuen konnte. Ich war beinahe ein Jahr arbeitslos gewesen und gierte nun danach, Produktivität an den Tag zu legen, meine Fähigkeiten als Grafiker in eine Firma einzubringen. Nicht, dass ich ein Arbeitstier bin, aber wenn ich schon etwas machen muss, will ich es wenigstens richtig machen.
Jeden Morgen finde ich auf meinem Schreibtisch einen einzigen einfachen Auftrag vor, für dessen Erledigung ich bestimmt nicht mehr als drei, vier Stunden benötige. Wer ihn dorthin legt, ist mir schleierhaft. Wenn ich morgens ins Büro komme, liegt er schon dort und wartet begierig darauf, erledigt zu werden. Danach bleibt es mir überlassen, wie ich die Zeit bis zum Feierabend totschlage. Niemand wendet sich an mich, niemand beachtet mich. Es ist fast so, als ob ich gar nicht existieren würde.
So wanderte ich schon am ersten Nachmittag neugierig durch die hallenden Korridore des mehrstöckigen Gebäudes, deren weißen, leeren Wände mich stets an Krankenhäuser erinnern. Lediglich der typische unterschwellige Geruch nach Medikamenten und Desinfektionsmitteln fehlte. Beim Fax- und Kopierraum angelangt, blieb ich stehen und beobachtete, wie eine junge Frau - hellbraunes, gewelltes Haar, Bluejeans und einen roten Rollkragenpullover - ihre Hände kopierte. Immer und immer wieder. Ich stand bestimmt fünf Minuten unter dem Türrahmen, aber sie kopierte mit einer beängstigenden Monotonie weiter ihre Hände. Der Lichtbalken fuhr von rechts nach links - erlosch - wieder von rechts nach links - erlosch abermals ... scheinbar endlos. Gerade als ich weitergehen wollte, musste ein leises Rascheln meiner Kleidung oder ein Luftzug sie aufmerksam gemacht haben. Ohne mit dem Kopieren inne zu halten, wandte sie sich um und blinzelte mich an. Nach einem Augenblick, der sich anfühlte, als ob die Zeit stillstehen würde, flüsterte sie: Gehen Sie nicht zur Tür. Fassen Sie sie nicht an ... denken Sie nicht einmal an sie.
Kann ich irgendwie behilflich sein? fragte ich, weil ich nichts Besseres wusste.
Ich habe sie angefasst. Und jetzt vergesse ich ständig meine Hände. Oft finde ich sie nicht mehr, und daher mache ich Kopien, die ich überall an die Wände hänge. Zuhause, im Büro, im Wagen. Überall.
Damit Sie sich an sie erinnern, schlussfolgerte ich und hatte durchaus Verständnis für die Logik hinter ihren Worten.
Nehmen Sie sich eine Kopie. Bitte, flehte sie mich an und kniff die Augen zusammen.
Langsam betrat ich den fensterlosen Raum und zog vorsichtig eine Kopie vom Stapel, der auf dem Bürotisch neben dem surrenden Apparat lag. Danke, sagte ich und betrachtete eingehend ihre bleichen Gesichtszüge von der Seite. Sie hatte kleine, hübsche, formvollendete Ohren, die zwischen dem schulterlangen Haar hervorguckten, und war wesentlich jünger, als sie auf den ersten Blick gewirkt hatte. Die Angst um ihre beiden Hände hatte offenbar etwas mit ihrem Gesicht angestellt.
Danken Sie mir nicht. Erinnern Sie sich einfach an meine Hände.
Ich nickte und betrachtete das dünne Papier, das ich ergriffen hatte. Darauf waren Hände - was sonst -, ganz normale, feingliedrige Hände, sauber geschnittene Nägel und am rechten Mittelfinger ein filigraner Ring. Ich erkenne nichts, das falsch wäre, sagte ich und studierte weiterhin die Kopie. Die junge Frau hatte wirklich schöne Hände.
Im Moment sind sie ja auch da.
Hören Sie. Ich kenne Sie nicht ... aber kann ich wirklich nichts für Sie tun? Wenn Sie ein Problem haben ...
Bitte gehen Sie. Lassen Sie mich alleine. Es ist gefährlich, mit mir zu sprechen.
Ihrem flehentlichen Wunsch entsprechend, verließ ich kommentarlos den Faxraum, faltete die Kopie zusammen und steckte sie in die Gesäßtasche meiner Hose. Dann machte ich mich daran, die restliche Zeit mit Nichtstun zu verbringen.
Der Abend, der diesem ersten Arbeitstag folgte, war nicht weniger aufwühlend. Yumiko, meine japanische Ex-Freundin, kam vorbei, um die wenigen Kleider zu holen, die noch immer in meinem Schrank darauf warteten, dass endlich etwas mit ihnen geschah. Weshalb sich Yumiko, nachdem wir nun seit über vier Monaten getrennte Wege beschritten, gerade diesen Abend für den Besuch ausgesucht hatte, war mir ein Rätsel.
Während sie in aller Seelenruhe, und scheinbar von der ganzen Sache komplett unberührt, ihre Sachen in Plastiktüten packte, ging ich in die Küche und beschloss spontan, zu kochen: Spaghetti alla Carbonara. Ich hatte gar keinen Hunger, aber wenn ich aufgewühlt bin, koche ich immer Pasta. Das wusste natürlich auch Yumiko und fragte mich, was denn los sei.
Yumiko, ich kann dich nicht aufgeben. Komm zurück zu mir, sagte ich, rührte die Sauce um und erinnerte mich sehnsüchtig an ihren schlanken Körper. An ihren Geruch. An ihre Art zu lachen, wenn sie glücklich war.
Das geht nicht. Du weißt es doch. Sie holte Teller und Besteck aus den Schubladen und platzierte alles auf dem Esstisch. Danach suchte sie den Pfeffer im Gewürzschrank, stellte ihn ebenfalls auf den Tisch und drehte das Radio an. Leise klassische Musik erklang.
Warum? Weil du mich betrogen hast? Das ist kein Problem, wirklich. Und das entsprach der Wahrheit. Ich konnte tatsächlich damit leben.
Das ist es nicht.
Was dann? Bitte sag mir doch, was der Grund ist. Du hast selbst gesagt, dass du ihn nicht liebst, du magst ihn nicht einmal. In meinem ganzen Körper schienen die Nerven wie Fische an Land zu zappeln. Seit Monaten drückst du dich davor, mir die Wahrheit zu sagen.
Ich bin nicht mehr die selbe. Ich bin schlecht und verdorben, glaub es mir doch.
Man wird nicht schlecht. Man ist es, oder man ist es nicht. Aber man wird nicht einfach über Nacht schlecht. Nahrungsmittel verderben, aber nicht Menschen.
So ging es noch eine volle Stunde weiter, während wir aßen, Rotwein tranken und stritten. Schlussendlich hatte sie Tränen in den Augen und nuschelte angetrunken: Na gut. Wenn du es wirklich wissen willst. Sein Kater ist an dem Abend gestorben.
Ich war verblüfft. An dem Abend, an dem du mit ihm ins Bett gestiegen bist?
Ja.
Und? Die Verblüfftheit wich Verwirrtheit. Die Verwirrtheit Verständnislosigkeit. Und letztendlich bildete alles ein heilloses Durcheinander in meinem Schädel.
Nichts und. Der Kater starb, einfach so. Peng! Er fiel neben dem Bett um und war auf der Stelle tot. Sein Herz hat aufgehört zu schlagen. Yumiko atmete erschöpft auf, kämpfte um Beherrschung.
Ich war sprachlos und versuchte angestrengt, einen Sinn in diese Sache zu bringen, aber immer wenn ich glaubte, ich hätte es, fiel alles wie lose Klötze auseinander. Schließlich legte ich Gabel und Löffel in den Teller und sagte: Wahrscheinlich war er schon alt.
Wahrscheinlich? Wahrscheinlich ... Bei dir ist immer alles wahrscheinlich oder vielleicht oder was weiß ich. Ihre Augen blitzten mich an. Hör zu ... danke für die Spaghetti. Aber ich muss jetzt gehen. Wie sind geschiedene Leute am Ende unserer gemeinsamen Reise. Begreife es endlich. Du wirst mich nie mehr wiedersehen. Ich verschwinde.
Und das war es dann auch schon. Yumiko erhob sich, griff nach ihren mit Kleidern prall gefüllten Plastiktüten und hetzte aus der Küche, ohne noch einen letzten Blick zurück auf ihre Vergangenheit zu werfen. Ich hörte wie einige Sekunden später die Haustür zuschlug und war unfähig, mich zu rühren. Wie eine angeklebte Holzpuppe saß ich am Tisch, blickte in den Teller, der langweilig, leer und rund vor mir stand, und dachte an den toten Kater.
Irgendwann, es musste wohl schon kurz vor Mitternacht gewesen sein, zog ich aus einem Büchergestell ein Photoalbum hervor, setzte mich deprimiert auf den Wohnzimmerboden, und schlug es auf. Yumiko. Auf jeder Seite. Mindestens auf jedem zweiten Bild. Warum quälte ich mich bloß damit? Stumm und bedächtig blätterte ich die Seiten durch - ein Sammelsurium längst vergangener Zeiten, so weit entfernt, dass sie wie Träume anmuteten - und verharrte reglos, als ich ziemlich genau in der Mitte des dicken Albums angelangte. Da waren Hände. Es handelte sich um einen unscharfen Schnappschuss vom letzten Sommer, als ich Yumiko dabei überrascht hatte, wie sie mit kritischem Blick vor dem Spiegel im Schlafzimmer stand und ihre nackten kleinen Brüste und ihren flachen Bauch musterte. Sie hatte nicht bemerkt, dass ich sie schon seit einigen Minuten amüsiert von der Türe her beobachtete. Als ich das Photo schießen wollte, konnte sie jedoch in allerletzter Sekunde die Hände hochreißen. Und so waren es eben ihre Hände, die ich abgelichtet hatte.
Nachdem ich mich vom Anblick dieser eigenartigen Aufnahme losgerissen hatte, erinnerte ich mich an das Blatt Papier, das zusammengefaltet in der Gesäßtasche meiner Hose steckte. Ich zog es hervor, faltete es auseinander und legte es neben das Photo von Yumikos Händen. Die kopierten schönen Hände der jungen Frau, obwohl in Grautönen festgehalten, glichen in verblüffender Art und Weise Yumikos fleischfarbenen Händen.
Ich musste wissen, wer diese junge Frau aus dem Faxraum war.
Nach einer unruhigen, kurzen Nacht betrat ich am nächsten Morgen das Büro, in dem mein Schreibtisch stand. Darauf fand ich einen Umschlag, meinen handgeschriebenen Namen auf der Vorderseite, in dem der Auftrag für den heutigen Tag steckte. Ein Kinderspiel. Bereits kurz vor Mittag war alles erledigt und ich musste mir ernsthafte Gedanken darüber machen, wie ich bis 18.00 Uhr durchhalten wollte.
Als erstes holte ich mein Sandwich aus dem Kühlschrank im Pausenraum und setzte mich an einen runden Holztisch. Dieser stand unter einer Fensterfront und bot einen herrlichen Ausblick auf eine hügelige Waldlandschaft. Aber ich nahm nichts von draußen wahr, war nur auf das Innere fixiert: Identische Hände und tote Kater und geplatzte Träume. Sie geisterten wie Schreckgespenster durch meine Gedanken und verdrängten den ganzen Rest.
Ist noch frei hier, Kumpel? erklang plötzlich eine krächzende Altmännerstimme und riss mich aus meiner Grübelei.
Klar. Ich betrachtete neugierig die Gestalt, die sich neben mich setzte und dabei leise, komische Laute von sich gab. Der kleine Körper wurde von einem dunkelblauen, ölfleckigen Overall komplett verdeckt. Auf einem dürren, faltigen Hals befand sich ein Kopf, in dem zwei tiefliegende, kleine Augen unter buschigen Brauen steckten, die mich eindringlich anstarrten. Ein grauer Haarkranz umfasste eine glänzende Glatze, und seine Lippen waren so dünn, dass man beinahe glauben mochte, er habe gar keine.
Ich bin der Hauswart, krächzte der Alte und stellte ein rostiges Bügeleisen auf den Tisch.
Aha ... ich bin der neue Graphiker. Ich reichte ihm meine Hand, aber er ergriff sie nicht, neigte lediglich seinen Kopf zur Seite und fixierte sie mit seinen Habichtaugen. Ähm, gibts hier viel zu tun? Für einen Hauswart, meine ich.
Aber sicher doch, er blinzelte und blickte mir wieder ins Gesicht. Dabei strich er sanft, ja fast liebevoll, mit einem Finger über sein Bügeleisen. Ich tausche die Glühbirnen aus.
Ich hab hier noch keine gesehen. Birnen meine ich. Alles ist voll von Fluoreszenzröhren - ich mag ihr Licht nicht. Es ist grell und bereitet mir Kopfschmerzen.
Bist du ein Klugscheißer oder was? Er kniff ein Auge zusammen und rümpfte die Nase. Hör mal zu, Kumpel. Wenn ich sage, dass ich Glühbirnen ersetze, dann tue ich es auch. Und wenn ich sie ausgewechselt habe, schlage ich sie tot. Bamm! Das erhobene Bügeleisen donnerte laut auf den Tisch. Bamm! Bamm! Bamm! Immer wieder, Kumpel! Voll drauf. Bis nur noch tausend Splitter und ihre stinkenden, verrottenden Eingeweide übrig sind. Kapiert?
Wahrscheinlich, sagte ich vorsichtig.
Wahrscheinlich? Hör mal, bist du normal? Entweder kapiert man was, oder man tut es nicht. In dieser Sache verstehe ich keinen Spaß.
Es ist nur so, dass ich mir nicht vorstellen kann, weshalb man Glühbirnen, die bereits kaputt sind, noch ..., ich zögerte und suchte nach dem richtigen Wort vernichten muss.
Kumpel, ich habe nie gesagt, dass sie kaputt sind. Ich wechsle sie bloß aus und mach sie tot. Er zögerte, leckte sich über die nicht vorhandenen Lippen und starrte mich eingehend an. Nach einer Weile nickte er einmal - als habe er einen Entschluss gefasst - und sprach weiter. Ok. Du bist neu hier, Kumpel. Also kennst du die Täuscher nicht. Oder?
Ich schüttelte den Kopf.
Die Täuscher leben in den Wänden. Überall hier. Und immer wenn niemand hinguckt, kommen sie hervor und stehlen Glühbirnen, die älter als eine Woche sind. Sie brauchen sie, um ihre finsteren, kalten Höhlen zu beleuchten. Dort unten ist es wirklich scheißkalt und so feucht, dass dir der Schimmel an den Füssen wächst. Weil die Täuscher aber Pläne zum Sturz der Regierung schmieden, dürfen sie niemals und unter keinen Umständen Licht haben. Also tausche ich die Birnen aus, bevor sie älter als eine Woche werden.
Wie sehen die Täuscher denn aus?
Na das weiß keiner, weil sie ja nur hervorkommen, wenn niemand hinguckt.
Das machte durchaus Sinn. Gedankenverloren biss ich in mein Sandwich und wiederholte die Worte des runzligen Alten langsam in meinem Kopf. Dann hatte ich eine Eingebung. Ich hab da mal eine Frage, sagte ich vorsichtig und legte das Brot zurück auf den Tisch. Stehlen diese Täuscher manchmal auch Hände?
Hände?
Ja, ich meine, ob sie anstelle von Glühbirnen menschliche Hände stehlen.
Er dachte nach und rieb sich die Schläfen. Nee, davon weiß ich nichts. Warum fragst du?
Ich hab gestern jemanden im Faxraum angetroffen. Eine junge, hübsche Frau. Sie kopierte ihre Hände und ich dachte ...
Die ist verrückt, unterbrach er mich brüsk. Lass die Finger von ihr, Kumpel. Klar? Sie bringen alle nur Unglück ... die Frauen. Er räusperte sich lautstark und erhob sich. Ich muss jetzt weiter. Seine Hand schloss sich fest um den Griff des Bügeleisens. Pass auf dich auf, Kumpel. Kann gut sein, dass wir uns nicht mehr sehen.
Wie heißt sie? fragte ich, noch bevor er verschwinden konnte.
Keine Ahnung. Er zuckte mit den Schultern, drehte sich um und schlurfte, abermals leise Geräusche von sich gebend, davon und um die nächste Ecke. Und fort war er.
Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, eine Amsel zu beobachten, die sich auf dem Fenstersims gleich vor mir niedergelassen hatte. Sie war ein ausgesprochen hübsches Exemplar und schien sich dessen bewusst zu sein. Wie sie von links nach recht stolzierte, den Kopf immer wieder drehte und mit dem Schnabel im Gefieder wühlte. Abermals erinnerte ich mich dabei an Yumiko, wie sie vor dem Spiegel gestanden, wie sie kritisch ihre kleinen Brüste gemustert hatte, während ich mich mit dem Photoapparat anschlich. Amsel und Frau, Frau und Amsel ... Ich wollte an nichts denken, und bei dem anstrengenden Versuch, genau das zu tun, verwickelte ich mich immer tiefer in meine Gedanken, die ihre Krallen wie Geier in mich stießen und sich von meinem Innersten ernährten. Ich spürte es am ganzen Körper, fühlte mich ausgelaugt und ausgesogen.
Dann muss ich wohl eingeschlafen sein.
Es war eigenartig. Eigenartig daher, da ich wusste, dass ich gerade träumte, obwohl es sich überhaupt nicht wie ein Traum anfühlte.
Auf jeden Fall lag ich in einer gewölbeartigen Höhle. Ein spärlicher Lichtschimmer kam von einer einzelnen Glühbirne, die direkt über mir an einem Kabel hing, das seinerseits in der Decke verschwand. Irgendwo in der undurchdringlichen Dunkelheit, außerhalb des bleichen Lichtkreises, tropfte Wasser, etwas flatterte hektisch in der Ferne davon und ich hörte eine Katze miauen - es war der tote Kater, da war ich mir absolut sicher. Ich wollte mich umdrehen und nachsehen, aber es war mir nicht möglich. Mein Körper war zu schwach, zu ausgelaugt, zu verbraucht. Ich lag reglos auf dem kalten Boden, atmete gleichmäßig die schale Luft ein und aus und erhaschte aus dem Augenwinkel unzählige Schatten, die mich belauerten. Die nur auf den richtigen Moment warteten, um über mich herzufallen. Dann hörte ich Schritte, leise tapsende Schritte, und sah, wie die Höhle, in der ich lag, noch etwas heller wurde.
Endlich habe ich dich gefunden, hörte ich Yumiko erleichtert flüstern, und kurz darauf rückte sie in mein Blickfeld. Sie war nackt, bis auf einen gelben Helm, an dessen Front eine starke Lampe angebracht war. Komm schon, steh auf. Wir müssen verschwinden, solange die Batterien noch funktionieren.
Ich kann nicht ... unmöglich, sagte ich, weiterhin wie gelähmt am Boden liegend. Ich bin zu schwach.
Na gut, dann nimm halt meine Energie. Ich brauche sie ja ohnehin nicht mehr. Sie bückte sich zu mir herunter, öffnete die Hose und griff sachte nach meinem Glied. Danach machte sie sich entschlossen daran zu schaffen.
Schwer atmend, aber zur Reglosigkeit verdammt, spürte ich, wie ihre schönen Hände wie durch ein Wunder an zumindest einem Ort Kraft in mich rieben. Mein Prachtstück wurde hart wie Stein. In einer flüssigen, anmutigen Bewegung setzte sie sich auf mich und ich spürte, wie ich in sie eindrang, wie die feuchte Wärme ihres vertrauten Geschlechtes mich umschloss und wir eine Einheit wurden.
Hör gut zu, sagte sie keuchend und bewegte sich rhythmisch auf mir, klammerte sich an mich, als wäre ich ein Rettungsanker im endlosen Ozean der Angst, wenn du meine ganze Energie hast, nimmst du den Helm und verschwindest. Der Kater wird dir den richtigen Weg weisen, da ich nicht mehr hier sein werde. Sie küsste mich sanft, bewegte sich etwas stärker und ich roch ihren süßen Atem.
Wo wirst du sein?
Na in dir, Dummkopf. In deinem Herzen. Und bitte ... denk nicht schlecht über mich. Ich wollte das alles nicht. Aber es ließ sich eben nicht vermeiden. Sie legte ihren Oberkörper auf mich und ich schloss sehnsüchtig die Augen. Oh, wie gerne hätte ich sie umarmt, wie gerne wäre ich mit meinen Händen über ihren wundervollen Rücken geglitten, hätte jeden einzelnen Wirbel ertastet, ihre zarte, weiße Haut gefühlt, die Rundung ihres Hinterns gestreichelt ... aber ich konnte nur steif daliegen und abwarten, was geschehen würde.
Was ist mit dem Kater? fragte ich leise und wünschte mir, dieser Moment würde niemals enden, würde uns beide verschlucken und in seinem transzendenten Magen verdauen.
Er ist unser Sohn, hauchte Yumiko in mein Ohr.
Unser Sohn? Wie kann das sein? In diesem Moment spürte ich, wie Kraft erst in meine Füße, dann in meine Beine floss. Wie können wir einen Sohn haben und du verlässt mich?
Schicksal.
Schicksal? Ich verstand es nicht, spürte aber, wie neue Kräfte meine Lenden und meinen Bauch, meinen Torso durchdrangen. Bis hoch in die Schultern krochen diese käfergleichen Energien und erfüllten meine Arme und Hände mit Macht. Ich griff nach Yumiko, sehnte mich danach, mit meinen Fingern über ihre leicht geröteten Wangen zu streicheln, doch ich glitt einfach durch sie hindurch. Sie löste sich auf, während der Orgasmus krampfartig durch mich raste. Ihre Gestalt verblasste immer mehr und ich konnte nichts dagegen tun, wollte sie festhalten, an mich krallen. Bleib bei mir! wollte ich schreien, aber selbst dieser Aufschrei wurde mir verwehrt. Er blieb wie ein staubtrockener Klumpen in meiner Kehle stecken und drohte, mich zu ersticken.
Dann war sie fort, eine Erinnerung, ein Gedanke, ein Traum, und ich war alleine. Aber ist es der Mensch nicht ohnehin? Alles was man hat, ist sich selbst, und sogar das kann man manchmal verlieren oder vergessen. Erschöpft blieb ich liegen.
Yumiko, flüsterte ich irgendwann und griff erneut ungläubig ins Zwielicht, das von der einzelnen Glühbirne über mir und der starken Lampe an dem gelben Helm herrührte. Aber mein Mädchen war nicht mehr da.
Ein hallendes Miauen erklang und der Kater schlenderte gelassen in den Lichtkreis. Wie er so in der kalten Luft schnupperte und sich umsah, glich er Fred Astair, der von der Bühne her sein Publikum musterte, nur Sekunden bevor er mit seiner wilden Tanznummer loslegen und die Menschen verblüffen würde. Dann sah mich der Kater an, blinzelte mit einem Auge und drehte sich gemächlich um. Diese Geste schien eindeutig zu sagen: Komm endlich, vertrau mir. Und ich erhob mich, griff nach dem Helm und setzte ihn auf.
Gemeinsam - der Kater vorneweg, ich hinterher - gingen wir gelassen in die Dunkelheit vor uns. Was hatten wir schon zu verlieren?
Ein sachtes Klopfen auf meine Schultern riss mich aus dem Traum, der sich überhaupt nicht wie ein Traum angefühlt hatte. Der Schlaf wich sofort, aber nicht die Gewissheit, dass Yumiko weg war. Ich würde sie nie mehr wiedersehen.
Abermals berührte jemand meine Schulter.
Was denn? keuchte ich und schrak auf. Meine rechte Gesichtshälfte fühlte sich taub und gefühllos an, als hätte jemand pausenlos und schwungvoll mit einem Baseballschläger drauf gehauen. Ich musste wohl lange auf ihr gelegen haben ... Immerhin war es draußen vor dem Fenster bereits pechschwarz und finster. So finster, dass man glauben mochte, dass lediglich dieser eine Pausenraum noch existierte. Darum herum nur endloses Nichts.
Pssst. Eine thailändische junge Frau - sie mochte 18 oder 28 Jahre alt sein, das war schwer zu sagen - bückte sich von der Seite langsam zu mir herunter. Sie legte eine Hand - die in einem engen, gepuderten Latexhandschuh steckte, wie ihn sonst nur Chirurgen trugen wenn sie operierten - auf meine Schulter. Mit vor Angst vibrierender Stimme flüsterte sie nahe an meinem Ohr: Es ist schon nach acht. Du solltest gehen.
Oh, Mist, murmelte ich verwirrt und gähnte. Die Einzelheiten des Traumes standen mir nach wie vor klar und deutlich vor Augen und trübten meinen Sinn für das Reale. Ich schaute das gut gekleidete Mädchen genauer an, dann mich selbst im reflektierenden Fensterglas vor mir, und wieder sie. Seltsam, eine richtige und eine seitenverkehrte Welt, die doch beide die selbe Quelle, den selben Ursprung hatten: Mich. War es also möglich, dass mein Spiegelbild gerade jetzt das selbe dachte? Dass es die Quelle war und ich das Spiegelbild? Ich - wie auch mein anderes Ich in der Scheibe - schüttelte meinen Kopf um die verwirrenden Gedanken abzuwerfen und konzentrierte mich auf die junge Frau.
Ihr ängstlicher Gesichtsausdruck sandte Zeichen von Panik aus, ihre gesamte Gestik wirkte ziellos und verloren, und sie schaute sich gehetzt im Pausenraum um. Abermals flüsterte sie direkt in mein Ohr: Bitte, nicht so laut. Du solltest jetzt wirklich gehen. Und wenn du gehst ... um Gottes Willen schleiche ... und berühre keine Wände. Um diese Zeit ist es hier sehr gefährlich. Manchmal verschwinden Menschen.
Weshalb?
Die Welt ist hungrig, darum.
Verstehe.
Nein, tust du nicht. Die Angst in ihren dunklen Augen wich nackter Verzweiflung und sie ballte die gehobenen Hände zu Fäusten. Schließlich schüttelte sie den Kopf und hastete aus dem Raum, ohne sich noch einmal umzusehen.
He! rief ich ihr nach. Aber mein Ruf verhallte wie der Schrei einer Eule im nächtlichen Wald. Ich rieb mir gähnend die Augen und erhob mich vom Stuhl. Stundenlang hatte ich hier geschlafen und niemand - bis auf das thailändische Mädchen - hatte es für nötig befunden, mich aufzuwecken. Konnte also gut sein, dass ich morgen anstelle eines neuen Auftrages die Kündigung oder zumindest eine Verwarnung auf dem Schreibtisch liegen hatte. Und das nach zwei Tagen. Beeindruckende Leistung.
Unentschlossen schaute ich mich um, doch so sehr ich auch schaute, es änderte sich nichts. Das Gebäude strömte eine totalitäre Stimmung der Leere aus. Keine Stimmen, keine Schritte, keine Zeichen von Leben. Da war nur das leise Summen der Beleuchtung über mir und die bedrückende Gewissheit, der Nachhall des Traumes, dass Yumiko weg war. Verschwunden. Von der Welt verschlungen.
Ich steckte die Hände in die Vordertaschen meiner Hose und verließ den Pausenraum, trat auf den Flur und schlenderte gemächlich in Richtung des Großraumbüros, wo ich meinen Arbeitsplatz hatte.
Nachdenklich betrachtete ich die schneeweißen, kahlen Wände - links, rechts, dann wieder links - und achtete instinktiv darauf, dass ich sie nicht berührte. Die Welt ist hungrig hatte das thailändische Mädchen gesagt. Und ja, ich glaubte ihr. Das Gefühl der Bodenlosigkeit war ein guter Bekannter von mir. Ob das mit den Täuschern in Zusammenhang stand, die offenbar immer dann aus den Mauern kamen, wenn gerade niemand hinsah? Gut möglich. Man konnte die Sache definitiv nicht widerlegen.
Aufmerksam ging ich weiter. Die weiß getünchten Wände wurden regelmäßig von grünen Türen unterbrochen. Türen ... welche mochte wohl diejenige sein, von der die junge Frau aus dem Faxraum gesprochen hatte? Was mochte dahinter verborgen sein? Und wie passte die ganze Geschichte mit den identischen Händen dazu?
Vor dem Büro blieb ich einige Sekunden stehen und zögerte, die Klinke zu berühren. Dann fasste ich mir ein Herz, griff danach und betrat den Raum. Es brannte noch immer Licht. Flink schnappte ich meine Sachen und machte mich auf den Nachhauseweg.
Etwa eine halbe Stunde später öffnete ich die Haustür meiner 3-Zimmer-Wohnung, die sich im Erdgeschoss eines 5-stöckigen Wohnblocks befand. Ich hängte Jacke und Tasche an den Kleiderständer, zog meine Schuhe aus und ging in die Küche. Aus dem Kühlschrank nahm ich ein Ananas-Yoghurt und verschlang es förmlich. Danach folgten zwei trockene Semmeln vom Morgen und einige Aprikosen aus der Dose. Eine Tafel Schokolade aus dem Schrank. Eine Aufbackpizza aus dem Tiefkühler. Bier.
Als alles weg war, überlegte ich mir, was ich noch unternehmen würde. Ich beschloss, dass ich nicht mehr ausgehen wollte ... mit wem auch. Anstelle dessen griff ich nach dem Telefon und versuchte, Yumiko zu erreichen. Ich musste mehr über den Kater und den Traum wissen. Und ich wollte ihre Stimme hören. Aber sie nahm auch nach mehrmaligem Läuten nicht ab. Enttäuscht legte ich den Hörer zurück auf die Gabel und blieb regungslos neben dem Apparat sitzen.
Zehn Minuten später wählte ich erneut ihre Nummer, doch das Ergebnis war dasselbe. Tief in mir wusste ich, dass ich sie nie mehr wieder erreichen würde. Yumiko war weg.
Schließlich holte ich mir ein Buch von Bukowski aus dem hölzernen Wandgestell, das ich schon lange im Kopf hatte. Eigentlich wollte ich mich nur für eine Stunde ablenken, aber ich las ... und las ... und las ... Und als ich damit fertig war, graute der Morgen und ich klappte das Buch zu und fühlte mich elend.
Du siehst echt Scheiße aus, sagte der Typ, der mir gegenüber seinen Schreibtisch hatte. Ich vergaß ständig seinen Namen. Insgeheim nannte ich ihn aber Fanta-Lemon, weil er ein bescheuertes, hässliches Hemd anhatte, das dieser Bezeichnung durchaus gerecht wurde.
Danke.
Hast ne harte Nacht hinter dir, was? Ich sehe das. Weiber? Er sprach das Wort Weiber langsam aus, mit einem Glitzern in seinen Schweinchen-Augen, und Speichel lief ihm aus dem Mundwinkel über sein kantiges, unrasiertes Kinn.
Ich schüttelte schwach den Kopf und betrachtete den jungfräulichen Umschlag, der auf der Tischplatte vor mir lag. Auftrag oder Kündigung? Positiv oder negativ? Ja, das war eine gute Frage. Wenn nur das enervierende Hämmern und Poltern in meinem Schädel nicht wäre. Ich verfluchte Bukowski und seine Schreibe. Ich verfluchte meine Schlaflosigkeit.
Wenn ich mal mies geschlafen habe, brüstete sich Fanta-Lemon lautstark, lass ich mich massieren. Stundenlang. Ich hab da so eine Adresse. Tolle Frauen! Willst du sie?
Nein, danke.
Bist du zu feige, um dich vor Frauen auszuziehen?
Gute Frage. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht. War ich feige? Nun ja, ich suche bestimmt keine Konfrontationen. Aber wenn sie unausweichlich sind, stehe ich meinen Mann. Mit Nacktheit hatte ich auch noch keine Schwierigkeiten gehabt. Nein, ich bin nicht feige, sagte ich und setzte mich hin.
Dann isses ja gut. Dachte schon, du bist ne Schwuchtel oder so. Er stand da und stützte sich mit den Fäusten auf die Tischplatte seines Arbeitsplatzes, als wäre er der Renegat von Rom. He! Jetzt sag schon ... weshalb bist du so mies drauf? Ich meine ... he! Die Sonne brennt einem förmlich die Haare vom Arsch, die Weiber tragen kurze Röcke. Macht dich das nicht glücklich? Ein klein wenig nur?
Wahrscheinlich schon. Hör mal, begann ich und schloss meine Augen für einen Moment, ich hab was Dringendes zu erledigen.
Na klar. Hab schon verstanden. Er zögerte, gab aber noch nicht auf. Ich weiß, was du brauchst. Hier. Ein Blatt Papier flatterte zu mir herüber. Lies das mal, vielleicht interessiert es dich ja. Dann setzte er sich ebenfalls und starrte auf den Bildschirm seines Computers.
Desinteressiert griff ich nach Fanta-Lemons Blatt, drehte es um und las, was darauf stand: EINLADUNG ZUR WÖCHENTLICHEN SCHREITHERAPIE. MITTWOCH. 14.00 UHR. BÜRO 71. SCHREI DICH GESUND! Ich las den Text ein zweites Mal sorgfältig durch und legte das Papier neben den Umschlag, der noch immer unberührt dalag. Das klang interessant. Und außerdem bestand die Möglichkeit, dass die junge Frau im roten Rollkragenpullover auch anwesend sein würde. Ich beschloss, hinzugehen ... das heißt, falls ich am Nachmittag noch ein Angestellter dieser Firma sein würde.
Kommst du auch? rief Fanta-Lemon von der anderen Seite und ich hob meinen Blick.
Wortlos nickte ich, zögerte einen Augenblick und griff dann nach dem weißen Umschlag. Ich riss ihn auf, und ... Es war ein Auftrag. Erleichterung durchflutete mich wie eine frische Brise am Morgen, wenn noch keine Autos auf den Strassen sind und die ersten Vögel lauthals ihren unschuldigen Morgengesang anstimmen.
So verbrachte ich die Zeit bis zur Mittagspause, schüttete Unmengen von starkem Kaffee in mich hinein und versuchte angestrengt, mein penetrantes Gegenüber zu ignorieren. Als der Mittag endlich kam, war der Auftrag erledigt und ich ebenfalls. Erschöpft setzte ich mich an den Tisch im Pausenraum, an dem ich schon gestern gesessen und geträumt hatte. Tatsächlich verging keine Minute und Fanta-Lemon gesellte sich zu mir.
Jetzt sag schon ... was bedrückt dich? begann er von neuem und klopfte kumpelhaft auf meine Schultern. Wer den Kummer zurückhält, wird im Alter blind ... eine Weisheit meiner Oma. Und sie hat echt Ahnung von so was. Er lachte laut auf und rückte näher.
Ich dachte nur einige Sekunden darüber nach und die Worte begannen aus mir zu sprudeln. Wie Wasser, das unaufhaltbar durch einen gebrochenen Damm strömt. Ich erzählte ihm von der Begegnung mit der jungen Frau im Faxraum, und dass ich sie dringend sehen musste. Von Yumiko, die mich verlassen hatte, die ich aber gleichfalls wiedersehen musste. Die Hände und den Kater allerdings verschwieg ich.
Oh, du bist scharf auf sie, sagte Fanta-Lemon genüsslich, nachdem ich geendet hatte. Er rieb sich das kantige Kinn mit dem rechten Handrücken. Ein schmieriges Grinsen gedieh wie eine giftige Dschungelpflanze in seinem Gesicht.
Kennst du sie?
Tja, ich hab sie schon mal gesehen. Muss aber eine Weile her sein. Gutes Fahrgestell. Er biss gedankenverloren in eine Banane und schaute - wenn das bei ihm wirklich möglich war - nachdenklich in die Runde. Ein seltsames Mädchen, die Kleine. Sehr seltsam.
Weshalb?
Nun, es gibt da so eine Geschichte. Wirklich unheimlich, wenn man darüber nachdenkt.
Lass hören, bat ich und knüllte das Zellophanpapier zusammen, in dem mein Sandwich eingewickelt war. Dann faltete ich die Hände auf dem Tisch und räusperte mich.
Also gut. Ich weiß leider nicht alles, also entschuldige, wenn es Lücken in der Erzählung gibt. Lass mal sehen ... Erneut schien er angestrengt im überfüllten Mülleimer zu wühlen, der sein Gedächtnis war. Ah ja, jetzt hab ichs wieder. Ihr Name ist Six.
Six? Du meinst wie das englische Wort Six für sechs?
Ja, jeder nannte sie so und tat alles, um in ihrer Nähe zu sein. Von Anfang an. Mit ihrer gutmütigen Art und dem Fahrgestell war es wohl auch kein Wunder. Alle, wirklich alle - egal ob Mann oder Frau -, waren verrückt nach ihr. Es spielte auch keine Rolle, ob jemand verlobt oder bereits verheiratet war. In ihrer Gegenwart war es unmöglich, sie nicht zu begehren, als wäre sie ein Magnet für Begierden. Ich kanns nicht besser erklären.
Fanta-Lemon verstummte für eine Weile und starrte nach draußen, doch sein Blick wirkte abwesend, fast leer. Ich unterbrach ihn nicht dabei, da ich nicht wusste, ob er nach Details der Geschehnisse suchte, oder ob ihn etwas aus der Vergangenheit bedrückte.
Schließlich ging ein Ruck durch ihn, er blinzelte und grinste mich an. Das Mädchen hatte nur Augen für jemanden aus dem Lager, einen jungen Mann. Zuerst trafen sie sich heimlich, später dann war es offiziell. Zwischen den Beiden muss die Leidenschaft so heiß und hell wie ein Buschfeuer in Afrika gelodert haben. Er holte Atem und seufzte ergeben. Tja, aber das Glück hielt nicht lange an. Der junge Mann hatte einen Unfall. Ein Gabelstapler überrollte ihn, hat ihn wirklich und wahrhaftig platt wie Honigkuchen gewalzt. Natürlich hat man nie herausgefunden, wer das Gefährt gesteuert hat. Aber ..., er senkte die Stimme und neigte sich zu mir herüber, es gibt Gerüchte.
Was für Gerüchte denn? fragte ich wie gebannt und meine Stimme war gleichfalls nicht mehr als ein verhaltenes Flüstern.
Jemand aus der Chefetage soll ebenfalls ein Auge auf Six geworfen haben. Dem ist das Ganze scheinbar so nahe gegangen, dass er kurzerhand den jungen Lageristen umbringen ließ. Das vermutete wohl auch das junge Mädchen. Aber sie konnte nichts unternehmen, war am sprichwörtlich kürzeren Hebel. So wurde sie traurig und still und sie weinte oft. Und wo das Mädchen ging und weinte, verdorrte mit jeder einzelnen Träne, die am Boden aufschlug, eine Pflanze in der Nähe. Das ist alles, was ich weiß.
Alles? In welchem Büro arbeitet sie denn?
Fanta-Lemon dachte nach, schüttelte dann den Kopf. Keine Ahnung. Um ehrlich zu sein, dachte ich, sie wäre irgendwann verschwunden. Muss mich wohl getäuscht haben. Wenn du sagst, dass du sie am Montag gesehen hast, wird sie wohl noch hier arbeiten.
Um 14.00 Uhr fand ich mich als Letzter in Büro 71 ein und war schon neugierig, was die kommenden Minuten offenbaren würden. Schon beim Eintreten sah ich enttäuscht, dass das Mädchen, das ich zu finden gehofft hatte, nicht hier war. Tatsächlich waren erstaunlich wenig Leute anwesend. Mich eingeschlossen nur gerade mal fünf Stück.
Hey, komm rein!, rief Fanta-Lemon und wedelte energisch mit den Armen. Drei weitere Augenpaare wandten sich mir zu, beobachteten mich erfüllt von Neugierde.
Hallo, sagte ich und trat ein. Unsicher stellte ich mich neben meinen Bürogenossen und bemerkte, dass der Raum komplett leer und absolut weiß war. Weiße Wände, weißer Teppich, weiße Lampen, sogar die Fenster waren lückenlos weiß bemalt worden.
Scheint so, als wären das alle, bemerkte eine schwarzhaarig junge Frau, ging zur Tür und schloss sie. Wir haben einen Neuling, einen richtigen Freshman unter uns. Sie ließ das Wort Freshman wie Eis auf der Zunge zergehen und nickte mir zu. Willst du gleich anfangen?
Mir war der Schock wohl anzusehen, denn beinahe im gleichen Moment schüttelte sie den Kopf und sagte: Schlechte Idee. Na gut, dann beginne heute ich mal.
Danke, murmelte ich und ein Stein fiel mir vom Herzen.
Langsam schlenderte sie zur Mitte des hellen Raumes, schaute zu Boden, und ihr dunkles langes Haar verdeckte das Gesicht komplett. So, heute erzähle ich euch etwas, dass ich noch niemandem erzählt habe. Sie verstummte wieder und atmete hörbar einige Male ein und aus, als föchte sie einen unangenehmen inneren Kampf aus. Als ich noch klein war, ein kleines, unschuldiges Mädchen, starb ich tausend Tode, wenn etwas kaputt ging, das mir gehörte. Sei es auch noch so unbedeutender Tand. Ich besaß da mal eine wundervolle Tasse, deren Henkel ein rosaroter Delphin war. Meine Mutter ließ sie beim Abwaschen fallen und sie zersprang in tausend Splitter. Kleine, winzige, sinnentleerte Splitter. Ihr Atmen wurde stärker, als nähere sich der Kampf in ihr einem theatralischen Höhepunkt. Ich habe geweint, so sehr geweint, und alle Splitter und Scherben und die kleinen Teilchen aufgesammelt und versucht, die Tasse wieder zusammen zu kleben. Zuerst mit Klebeband, dann mit Leim. Stundenlang, tagelang, wochenlang. Es ging nicht. Jetzt schluchzte sie laut. Es hat so weh getan. So weh ... Dann brach sie am Boden zusammen, schlug mit den Fäusten auf ihn ein und schrie sich die Lunge aus dem Leib.
Nach einer minimalen Verzögerung setzten auch die anderen in dem Schreien und Brüllen ein, und das ging dann gute fünf Minuten so weiter. Zu keiner Bewegung fähig stand ich mit großen, staunenden Augen da. Das Ganze war aufwühlend und ich dachte schon, dass die - wenn sie so weitermachten - sicher bald Blut kotzen müssten.
Als die geschätzten fünf Minuten aber um waren, erhob sich das schwarzhaarige Mädchen, schnäuzte sich die Nase und sagte: Danke. Danke. Es geht mir jetzt besser.
Ok, sagte ein Mann, den ich nicht kannte und trat vor. Er trug eine graue Bundfaltenhose und schwarze, teuer aussehende Lederschuhe. An seinem blütenweißen Hemd hatte er die Ärmel hochgerollt. Ich arbeite seit Jahren hier und ihr kennt mich alle. Nun, ihr glaubt, dass ihr mich alle gut kennt. Aber etwas habe ich euch immer verheimlicht, etwas ... irgendwie ... Spezielles. Also bitte ich euch, lacht mich nicht aus. Denn dann werde ich wieder wütend und schlage jemanden tot. Ihr wisst, dass ich das manchmal mache. Das ist mein Ernst. Mit leicht zusammengekniffenen Augen drehte er sich im Kreis, aber niemand lachte oder verzog auch nur eine Miene. Ich bin ein Hermaphrodit. Zweigeschlechtlich. Ich habe einen Pimmel und eine Pflaume. Und ich
treibe es mit Männern und Frauen. Für eine Sekunde blickte er vom Zorn eines wilden Stieres belebt in die Runde. Ihr wisst, dass meine Ex-Frau tot ist. Was ihr nicht wisst, ist folgendes: Ich hab sie mit der Schneeschaufel totgeschlagen, weil sie meine Zweigeschlechtlichkeit immer als Zielscheibe für ihre derben Witze missbrauchte. Seither treibe ich es nur noch mit Nutten und Strichern. Und die schlage ich manchmal auch tot. Dann rannte er unerwartet schreiend zur Wand rechts von ihm und begann mit der Faust so richtig wild drauflos zu schlagen. Immer voll rein in die Wand - weiterhin schreiend wie ein Schwein, das gerade geschlachtet wurde - bis seine Finger blutiger Fleischmatsch waren und rote Tröpfchen den Teppich sprenkelten.
Nach einer Weile verstummten die Schreie der Gruppe und er ließ von der Wand ab, drehte sich um und ging zu dem Mädchen mit dem schwarzen Haar. Sie umarmten sich kurz, starrten dann zu Fanta-Lemon, der sogleich vortrat.
Ihr alle glaubt, es gehe mir immer nur ums Vögeln, um eklige schlechte Witze. Außerdem haltet ihr mich für dumm und oberflächlich. Ich erzähle euch, warum ich so bin. Obwohl die Erinnerungen schmerzen. Aber nachher wird sicher alles leichter zu ertragen sein. Ich hoffe es so sehr. Sein ganzes Gesicht schien vor Kummer zu schmelzen und ich verspürte Mitleid mit dem Kerl, obwohl ich noch nicht einmal wusste, um was es eigentlich ging.
Kurz vor Abschluss der Schule - ich muss so um die 15 gewesen sein - verliebte ich mich in ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Sie hieß Paris, hatte blondes langes Haar, das sie stets zu zwei Zöpfen flocht, und war blind. Aber das war mir egal. Ob sie nun sehen konnte oder nicht, sie war das Schönste, Sanfteste und Reinste, das ich in meinem ganzen lausigen Leben angetroffen habe. Ihre Art zu sprechen, ihre Art mit dem Blindenstock zu gehen, ihre Art mit den Menschen umzugehen ... ich war verzaubert. Fanta-Lemon fuhr sich mit einer Hand über die Augen und kurz sah ich, dass sie gerötet waren. Tränen rannen über seine Wangen. Oh, ich liebte sie so sehr und wollte alles für sie tun. Das Leben hatte sie mit Blindheit geschlagen, aber ich wollte für sie da sein, ihr alles geben, was sie alleine nicht haben konnte. Wie es so ist, als schüchterner, unerfahrener Junge, brauchte ich Monate, bis ich den Mut beisammen hatte, sie endlich anzusprechen. Und wie erstaunt, wie überglücklich war ich, zu erfahren, dass sie sich ebenfalls seit langer Zeit für mich interessierte. Sie wusste nicht, wie ich aussah, aber das war ihr ohnehin einerlei - sie sah ja nichts. Das Sprechen fiel ihm immer schwerer. Sie mochte meine Stimme, oh ja, und auch meine Ausstrahlung. Er ging in die Hocke, da er es scheinbar nicht zustande brachte, uns anderen weiterhin anzusehen. Kurz darauf waren wir ein glückliches Paar. Aber das gemeinsame Glück währte nicht lange. Paris erhängte sich im Dachstock. Am Tag nach dem Selbstmord, erreichte mich ein Brief von ihr, den sie zwei Tage zuvor zur Post gebracht hat. Sie hat schon da gewusst, was sie tun würde und wollte sich bei mir für alles bedanken, das ich für sie getan hatte. Er zögerte und vergrub das Gesicht in den Händen. Aber es war nicht genug.
Warum hat sie sich erhängt? flüsterte ich und merkte erst, als er schon raus war, dass ich den Gedanken in Worte gefasst hatte.
Fanta-Lemon schluchzte einige Male und antwortete: Ihr Vater - ihr Stiefvater - hat sie jahrelang missbraucht und vergewaltigt. Sogar Freunde von ihm hatten das getan. Manchmal zu zweit oder zu dritt. Wie wilde Tiere haben sie erst Paris kleine unschuldige Seele kaputt gemacht und danach ihren zerbrechlichen Körper. Und ich konnte nichts dagegen tun. Ich war nur ein ängstlicher Junge. Jetzt schrie er und ich hatte noch niemanden so schmerzerfüllt schreien hören. Die anderen setzten in das tosende Gebrüll ein und es schien, als wollten sie, als könnten sie nicht mehr damit aufhören.
Schließlich endete es aber doch, und als alle sich wieder unter Kontrolle hatten, trat eine mollige, rothaarige Frau mittleren Alters vor. Hört mal. Das ist genug für heute. Ich denke unser neuer Freund hier, sie deutete auf mich, kann sich nun ein gutes Bild davon machen, wies an der Schreitherapie so zu- und hergeht. Nächsten Mittwoch wird er beginnen. In ihm steckt viel Potential für unterdrückten Schmerz. Sehr, sehr viel Potential. Sie kam zu mir und umarmte mich lange, drückte ihren drallen Busen an meine Brust. Alle kamen sie und taten es ihr gleich.
Du kannst jetzt übrigens nach Hause gehen, wandte sich Fanta-Lemon mit rotgeäderten Augen an mich. Die Geschäftsleitung hat das mal beschlossen.
Oh. Das war mir nur recht. Ich musste raus hier.
Zuhause legte ich mich erst einmal aufs Bett und wollte schlafen, aber mehr als ein Dösen brachte ich nicht zustande. Also stand ich wieder auf und durchwanderte unruhig die ganze Wohnung. Wo war mein Schlaf hin? Wo hatte er mich verlassen? Und verdammt, warum? In der Küche holte ich eine kalte Dose Bier aus dem Kühlschrank und setzte mich damit ins Wohnzimmer neben das Telefon. Yumiko ... ich musste sie sprechen. Unbedingt.
Aber sie nahm nicht ab. Weder auf ihrer Privatnummer, noch auf dem Handy. Obwohl ich diese Art der Kommunikation verachte, schrieb ich ihr ein SMS. Doch auch dieser kurze Text kam entweder nicht an, oder er wurde mutwillig nicht beantwortet. Wo war sie? Was machte sie gerade? So lange und intensiv ich mir auch den Kopf darüber zerbrach, ich kam auf keine Lösung. Letzten Endes blieb mir nichts anderes übrig, als das zu tun, vor dem mir der bloße Gedanke schon Entsetzen bereitete: Ich musste IHN kontaktieren, ihren Liebhaber. Der Mann, der Chaos in mein Leben gebracht hatte.
Ich wusste wie er hieß und wo er wohnte, soviel hatte ich aus Yumiko herausbekommen. Und mit diesen Angaben war es kein weiteres Problem, die Telefonnummer von der Auskunft zu verlangen.
Danach holte ich mir zur Verstärkung eine zweite Dose Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und trank. Als sie leer war, betrachtete ich die unschuldige Hülle des Telefons. Wie es so dastand und nichts tat, kam es mir zufrieden und recht ausgeglichen vor. Ganz so, als hätte es die absolute Klarheit und Kontrolle über sich selbst, seine Aufgabe und seine Existenz. Wie befriedigend musste solch ein Zustand doch sein. Wie harmonisch. Kopfschüttelnd griff ich nach dem Hörer und presste ihn ans rechte Ohr. Ich musste es hinter mich bringen, jetzt. Mit zitternden Fingern drückte ich die einzelnen Tasten und bei jeder fühlte ich mich ein klein wenig elender als bei der Vorherigen.
Nach dem ersten Läuten wurde bereits abgenommen und ich wusste noch immer nicht, was ich eigentlich sagen wollte. Da war nichts als ein Gefühl umfassender Leere in mir. Als sei ich eine Hülle ohne Inhalt, ein Wort ohne Sinn ... eine schlichte Fassade. Yumiko? flüsterte er mit besorgter Stimme in den Hörer, Yumiko, bist du es?
Nein, antwortete ich und räusperte mich. Ich bin ... war ... ihr Freund. Du kennst den Grund ja.
Stille am anderen Ende der Leitung, und selbst in der engen Wohnung schien es, als hielte die Erde aufmerksam den Atem an. Aufgewirbelte Staubkörner schienen in der Luft hängen zu bleiben, Geräusche wurden ausgeblendet und jede physikalische Veränderung eingestellt. Alles war erstarrt. Und so schaute ich mich in dem Raum um.
Urplötzlich aktivierte sich der zeitliche Fluss wie von selbst wieder und ich fragte: Wo ist sie? Sag mir, wo Yumiko ist.
Ich weiß es nicht. Ich suche sie ja auch. Seine Stimme vibrierte, als stünde er unter einem leichten emotionalen Schock. Sie hat am Montag kurz nach Mittag angerufen und gesagt, sie werde mich besuchen kommen. Das hat sie aber nie getan.
Am Montag Abend war sie noch kurz bei mir. Holte einige Dinge ab.
Sie erwähnte mal, dass sie das wolle. Ja.
Hat sie sich danach noch mal bei dir gemeldet? Ein weiterer Anruf? Ein Brief? Irgendeine Nachricht vielleicht?
Nichts. Tut mir leid. Totale Funkstille. Ich nehme nicht an, dass du etwas von ihr gehört hast. Oder doch?
Ich schüttelte langsam den Kopf. Nein. Rein gar nichts.
Hoffentlich ist nichts passiert.
Hoffentlich nicht ... ich hab da noch eine Frage. Hört sich vielleicht seltsam an ... aber in was für einer Beziehung stand Yumiko zu deinem Kater. Dem Kater der -
Gestorben ist, unterbrach er mich und atmete einige Male laut in den Hörer. Das war recht eigenartig. Zuerst dachte ich, dass sie ihn einfach mochte, wegen seines weichen Felles und dem Fleckenmuster darauf, der feuchten Nase und seinem sanften Charakter. Das mögen die Frauen immer. Aber das war es nicht.
Was dann? Ein sirrendes Gefühl der Vorahnung beschlich mich und grub seine langen, dünnen Knochenfinger wie Sonden in mich.
Sie war von Anfang an fasziniert von ihm. Aber nicht in der Art, wie es die Leute sonst sind. Yumiko sprach nicht in dieser Babysprache mit ihm, die die Mädels üblicherweise bei kleinen Kindern und Haustieren verwenden. Sie versuchte auch gar nicht erst, sich bei ihm beliebt zu machen, indem sie ihn übermäßig fütterte oder mit ihm herumspielte. Wenn ich es mir recht überlege, glaube ich nicht, dass sie sich überhaupt jemals berührt hatten. Körperlich, meine ich. Geistig standen sie sich sehr nahe, oh ja, ganz bestimmt. Aber nicht körperlich. Da lief ganz sicher nichts zwischen ihnen.
Komisch, wandte ich ein, Yumiko kann sonst die Finger nicht von Tieren lassen.
Das hat sie mir auch erzählt. Na, jedenfalls war das ok, ich hatte kein Problem damit. Bis ich eines Nacht aufgewacht bin und festgestellt habe, dass sie nicht im Bett war.
Das versetzte mir einen Stich im Herzen. Ich hatte bei dem ganzen Gerede um den Kater ganz vergessen, mit wem ich da sprach. Aber als er erwähnte, wie Yumiko bei ihm geschlafen hat - zu einer Zeit, als ich noch nichts von ihm gewusst habe -, wurde mir bange und ich drückte die leere kühle Dose an meine Stirn um nicht die Kontrolle zu verlieren.
Er fuhr mit seiner Erzählung fort. Na gut, dachte ich mir, dann ist sie sicher auf dem Klo und wird jeden Moment wieder ins Bett kommen. Aber als sie auch nach einer halben Stunde noch nicht zurückgekommen war, begann ich mir langsam Sorgen zu machen. Ich stand auf und ging durch die dunkle Wohnung, die nur durch den bleichen Mondschein erhellt wurde, der durch die Fenster eindrang. Und als ich im Flur war, hörte ich sie sprechen, ganz leise nur und in einer fremden Sprache. Aber es war eindeutig Yumikos Stimme.
Fremde Sprache? fragte ich und merkte erst, dass ich gesprochen hatte, als der Gedanke schon Klang und Ton geworden war.
Genau. Ich vermute mal Japanisch. Oder eine andere asiatische Sprache. Ich kenne mich da nicht so aus.
Dann wars sicher Japanisch. Sie spricht nur Deutsch, Englisch und Japanisch. Ich stellte die Dose wieder auf das Tischchen, auf dem der Telefonapparat stand, und sehnte mich nach weiteren alkoholischen Getränken.
Wie auch immer. Ich folgte der Stimme bis zur Küche. Und da hockte sie im Dunkeln am Boden neben dem Fressnapf und sprach zu dem Kater, der direkt vor ihr saß und aufmerksam zuhörte. Als sie geendet hatte miaute er leise und auf eine Art, wie ich sie nie von ihm gehört hatte. Das hörte sich tatsächlich an, als würde er ganze Sätze miauen. Ich kann nicht sagen, wie lange das gedauert hat, aber irgendwann wurde ich die Beobachterei leid und ging zurück ins Bett. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Yumiko schon weg.
Hast du sie darauf angesprochen? fragte ich. Ich meine, hast du gefragt, was sie mit dem Kater zu besprechen hatte?
Ich wollte schon. Aber das ganze fand etwa in der Zeitspanne statt, als du erfahren hast, was zwischen Yumiko und mir läuft. Während all dem Stress habe ich es dann vergessen und erst wieder daran gedacht, als der Kater gestorben ist.
Ein Gedanke, eine Reminiszenz kam über mich und ich erinnerte mich an den Traum, der mich vor Kurzem im Pausenraum überwältigt hatte. Wie findest du den Gedanken, dass der Kater Yumikos und mein Sohn sein könnte? fragte ich ihn.
Stille. Dann: Ehrlich gesagt ... ziemlich verrückt.
Das hatte ich mir gedacht. Ich hatte auch nicht ernsthaft angenommen, dass er es wirklich in Betracht ziehen würde. Verbleiben wir doch so, schloss ich, wenn einer von uns etwas von Yumiko hört, meldet er sich beim anderen. Ok?
Klar doch.
Wir verabschiedeten uns und als der Hörer wieder auf der Gabel lag, seufzte ich verwirrt auf und ließ meine Hände zwischen den Knien baumeln. Ich hätte den Typen gerne gehasst. Aber grundsätzlich braucht es bei mir sehr viel, bis ich jemandem so starke Gefühle entgegen bringe, und dann war es so, dass er ganz sympathisch klang. Er sorgte sich um Yumiko, und das sprach für ihn. Sicher würde er nie mein Freund sein, aber ich musste das monströse Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte, drastisch revidieren.
Gähnend erhob ich mich vom Sessel und ging zum Kühlschrank, nahm die letzte Dose Bier daraus hervor und öffnete den Verschluss. Der zischende, Schaum bildende Inhalt klang voller Versprechen, erfüllt von Leben und Lebhaftigkeit. Eigentlich klang er nach allem, was ich im Augenblick nicht war. Deprimiert und Niedergeschlagen ging ich zurück ins Wohnzimmer und legte eine CD von Bad Sector ins Laufwerk. Auf dem Sofa liegend, gab ich mich den düsteren Klanglandschaften hin.
Aber Schlaf fand ich erneut keinen.
Es war Donnerstag, der vierte Tag meiner Anstellung in der Firma.
Die ganze Nacht hatte ich kein Auge zugekriegt und war mir vollauf bewusst, dass ich dementsprechend aussah. Abgetakelt und verbraucht. Nach einer wie auch immer gearteten Lösung für mein jüngstes Problem mit der Schlaflosigkeit suchend, kämpfte ich mich die scheinbar endlosen Treppen des Gebäudekomplexes hoch.
Aha. Der neue Graphiker, sprach mich jemand mit krächzender Stimme laut von hinten an. Erschrocken zuckte ich zusammen. Hätte nicht gedacht, dass ich dich nochmals hier sehe, Kumpel. Zufälle gibts.
Langsam drehte ich mich auf dem Absatz um. Als Erstes sah ich die glänzende Glatze, die von einem spärlichen Haarkranz eingefasst war. Dann schaute ich der Gestalt ins Gesicht und setzte mich auf eine saubere Marmorstufe. Der Hauswart, erwiderte ich müde. An einem breiten Ledergürtel, der über dem ölfleckigen Overall seine Mitte umspannte, hing an einer speziellen Aufhängung das rostige Bügeleisen.
Du siehst echt Scheiße aus. Weißt du das? Als hätte dich eine fette Kuh gefressen und halb verdaut wieder rausgespuckt.
In letzter Zeit finde ich kaum Schlaf.
Er nickte, einen mitfühlenden Blick in den Augen. Manchmal ist der Schlaf ein ziemlicher Schweinehund und rebelliert was das Zeug hält. Der will dann einfach nicht mehr tun, für was er eben da ist. Packt seine sieben Sachen und verduftet auf Nimmerwiedersehen, als wärs das Natürlichste auf der Welt. Auf und davon. Bis du den wieder findest und ihn dazu bringst, zurückzukommen und bei dir zu bleiben - das kann ich dir sagen, Kumpel -, können Tage und Wochen vergehen. Vielleicht wirst du ihn nie mehr wieder finden. Am besten stellst du dich schon mal darauf ein.
Ohne Schlaf kann ich nicht leben, sagte ich und schloss die Augen.
Du tust mir leid, Kumpel. Echt. Aber bei dem Problem kann dir niemand helfen.
Schlaftabletten vielleicht? schlug ich vor und klammerte mich an diese Idee, als wäre sie ein Rettungsseil. Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen?
Kannst du gleich vergessen. Ist ein Mythos, dass die was taugen. Aber sags nicht weiter, ich will nicht, dass die Pharmaindustrie Einbussen macht und mir deswegen Agenten auf den Hals hetzt. Scheiße nein! Ich hab schon genug mit den anderen zu tun.
Den Täuschern?
Er nickte wortlos und verschränkte seine Arme vor der Brust. Hör mal, sagte er. Ich hab darüber nachgedacht. Über die Kleine, die ihre Hände kopiert hat, meine ich. Eine Weile sah er mich nur nachdenklich an, als wäge er einen Gedanken gegen einen anderen ab. Schließlich zog er die Stirn kraus und sagte mit leiser, verschwörerischer Stimme: Das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, war im Keller. Im alten Heizungskeller, um genau zu sein. Aber frag mich nicht, was sie dort unten wollte. Er gab ein schnaubendes Geräusch von sich. Sie saß dort mit einer Taschenlampe, hat lauthals geweint und mit Kohlestücken Strichmännchen an die Wand gemalt. Als ich Licht gemacht habe, ist sie auf und davon ... Weiber ... .
Ich schaute auf. Da war es wieder, dieses sirrende Gefühl einer Vorahnung. Ich war auf der richtigen Spur. Die losen Enden der Geschichte kamen wie straff gespannte Gummibänder zu mir zurückgeschnellt. Wo finde ich diesen alten Heizungskeller? fragte ich aufgeregt. Wenn ich endlich herausfinden würde, was mit dem hübschen Mädchen aus dem Faxraum los war, würde ich vielleicht auch Yumiko auf die Schliche kommen. Immerhin hatten die beiden identische Hände.
Hmm. Der Hauswart zögerte und kniff ein Auge zusammen. Ist ziemlich dreckig in dem Loch. Alles voller Ratten und Schaben. Dort leben Hunderttausende, vielleicht Millionen von den verlausten Biestern. Die ficken und vermehren sich, was das Zeug hält, lassen in der Sache der Arterhaltung nichts anbrennen. Bist du sicher, dass du in den alten Heizungskeller willst?
Ich nickte entschlossen.
Gut. Komm mit, Kumpel. Aber gib nachher nicht mir die Schuld, wenn deine Klamotten verschmiert sind. Da versteh ich nämlich echt keinen Spaß. Er wollte sich schon umdrehen, als er plötzlich innehielt und gedankenverloren sagte: Etwas Wichtiges noch. Hätte ich doch glatt vergessen. Er rieb sich die Nase mit dem Daumen der linken Hand. Dort unten darfst du unter keinen Umständen sprechen oder einen anderen Laut von dir geben. Nicht mal furzen darfst du. Hast du das kapiert? Es ist gefährlich.
Weshalb?
An manchen Orten in der Welt sind die Mauern dünn. Man weiß nie genau, was oder wer dahinter steckt. Es kann sein, dass dich ganz unerwartet etwas packt und irgendwohin zerrt, wo es gleich wie hier aussieht, aber alles andere als gleich ist. Und jetzt frag nicht weiter. Gib einfach keinen Laut von dir, dann bist du sicher. Er drehte sich vollends um und schritt die Treppe hinunter, beachtete mich nicht weiter.
Ich folgte dem Hauswart mehrere Stockwerke in den Untergrund, hinab in den dunklen Bauch der Erde, und als es nicht mehr tiefer ging, folgten wir einem engen Gang, an dessen Decke Rohre und Leitungen hingen. Sporadisch montierte Glühbirnen warfen schummerige Lichtkegel und alte Spinnweben schwenkten in einem kaum wahrnehmbarem Luftstrom, der wie fauler Atem durch die Gänge kroch. An den Backsteinwänden wuchs Moos und hier und da tropfte Wasser von der Decke, spülte Fugenmaterial aus den Ritzen zwischen den Steinen. Es bildete moderige, übelriechende Lachen am Lehmboden. Leises Zischen von alten Ventilen und Maschinen und das hallende Quietschen abgehungerter Ratten und anderem namenlosen Ungeziefer zauberte eine Gänsehaut auf meine Arme und Schultern.
Wir passierten mehrere Kreuzungen von immer engeren Gängen, gingen an geschlossenen, manchmal auch geöffneten Türen vorbei, hinter denen die Räumlichkeiten stets in absoluter Dunkelheit lagen. Es hätte sich dabei genau so gut um die Verkörperung des Nichts handeln können. Ich hätte es nicht bemerkt.
Je weiter wir gingen, umso verwahrloster wurde das Gemäuer. Verfaulte Essensreste und Zeitungsbündel stapelten sich den immer schieferen Wänden entlang, Skelette und Kadaver von Mäusen und anderen Nagern knirschten bei jedem Schritt unter unseren Sohlen und halb aufgelöste Verpackungen von Süßigkeiten verströmten einen schalen Geruch. Predigten Alter und Zerfall. Eisenschrott machte es oft schwierig, einen Gang zu begehen und die Anzahl der Rohre an der Decke nahm beständig zu. Oft mussten wir gebückt gehen und ich begann mich zu fragen, ob es wirklich eine gute Sache war, den alten Heizungskeller aufzusuchen.
Irgendwann blieb der Hauswart stehen. Ich prallte an seinen Rücken, da ich nicht gemerkt hatte, dass wir am Ziel unserer Reise waren. Tief in Gedanken versunken versuchte ich, mich an den Rückweg durch das Labyrinth zu erinnern. Aber es ging nicht. Zu viele Kreuzungen. Zu viele Möglichkeiten. Zu viele Wege die zu viele Orte miteinander verbanden. Und es spielte auch gar keine Rolle, ob wir uns gerade auf der Erde oder in ihr befanden - von allem gab es zu viel, viel zu viel. Und es war erdrückend.
Mit undeutbaren Gesichtszügen wies der Hauswart in einen dunklen Schlund der Schwärze vor uns. Ein Durchgang ins Nichts. Er drückte mir eine eiserne Taschenlampe in die Hand, die er aus dem Overall geholt hatte und deutete erneut in die Öffnung. Dann hielt er einen Finger senkrecht vor seine kaum vorhandenen Lippen.
Ich nickte ihm zu, knipst die Taschenlampe probehalber einige Male an und aus. Sie lag schwer und Vertrauen erweckend in meiner Hand und ich leuchtete damit in die Schwärze des alten Heizungskellers. Der gelbe Lichtstrahl schnitt wie ein Messer durch die Dunkelheit und offenbarte eine schmale, feuchte Treppe, die in einen etwas tiefer gelegenen Raum führte, der von einem gewaltigen verrosteten Öltank dominiert wurde. Der Boden darum herum war von einer schmierigen, schillernden Flüssigkeit bedeckt und an den Wänden ringsum korrodierten Dutzende von Rohren. Lösten sich auf.
Vorsichtig ging ich die vier Stufen hinunter und schwenkte den Strahl langsam von Links nach Rechts. Wo mochte das Mädchen - Six - wohl gestanden und weinend gemalt haben? Ich setzte einen Fuß in die Flüssigkeit und versank bis zum Knöchel darin. Für einen Rückzieher war es jetzt zu spät, die teuren Schuhe rettungslos ruiniert.
Nach wenigen Metern glaubte ich zu erkennen, wo Six gestanden haben musste. Ein Stück weiter vorne, rechterhand, fast in der Ecke. Dort waren die Rohre offensichtlich schon vor langer Zeit verrostet, lagen als undefinierbarer rötlicher Haufen am Boden und wurden von gnadenlosem Wasser zerfressen. Unaufhaltsam. Bis irgendwann nichts mehr von ihnen übrig sein würde. Und dort glaubte ich schwarze Formen auf der Backsteinwand zu erkennen.
Skeptisch näherte ich mich, ging davor in die Knie und leuchtete mit der Taschenlampe auf die kindlichen Kohlezeichnungen. Da waren eine Frau, eine weitere Frau mit zwei wagrechten Strichen anstelle runder Augen, und eine Katze mit buschigem, hoch aufragendem Schwanz. Neben den drei Lebewesen war ein Rechteck hingemalt, das am oberen Ende zwei Angaben aufwies: 3. Stockwerk / Raum 607.
Das konnte die Tür sein, von der das Mädchen - Six - gesprochen hatte. Aber was hatte sie neben den Frauen und dem Kater zu suchen?
Ich wusste nicht weiter. Der Punkt, an dem jede Logik aufhört, war erreicht.
Langsam erhob ich mich wieder, drehte mich um schritt durch die ölige Flüssigkeit zurück zur Treppe. Nach wie vor stand der Hauswart in dem engen Gang, inspizierte mit kritischem Blick das komplexe Netzwerk der Rohre und Leitungen an der Decke. Als ich aus dem Keller auftauchte blickte er mich fragend an.
Ich nickte andeutungsweise und wir machten uns auf den langen Weg zurück. Hinaus aus dem Labyrinth des Minotauren, raus aus den verworrenen Eingeweiden der Erde. Zurück ans Licht des Tages.
Als die Welt uns wieder ausgespuckt hatte, verabschiedeten wir uns voneinander und ich schlich wie in einem Traum wandelnd ins Büro. Sämtliches bewusste Denken war eingestellt und ich hing in einer gedanklichen Endlosschlaufe fest. Drehte mich im Kreis. Vor mir sah ich immer und immer wieder, mit kurzen Unterbrechungen, die Kohlezeichnungen. Yumiko, Six, der Kater und die Tür - 3. Stockwerk / Raum 607.
Träge ließ ich mich in den Sessel fallen, neigte den Kopf nach hinten und starrte zur Decke hoch. 3. Stockwerk / Raum 607. Was mochte wohl dahinter sein? Was war in dem Raum, das so gefährlich sein sollte? Oder war es der Raum selbst?
Wo warst du? hörte ich eine Stimme, die mich zurück in die Wirklichkeit holte. Aber es war weniger ein Zurückholen als vielmehr ein sachtes Auftauchen vom schlammigen Grund eines düsteren Teiches. Langsam trieb ich höher, die Seerosenblätter über mir glitten zur Seite und offenbarten einen Blick in den Himmel.
He, wo warst du? Fanta-Lemons Stimme.
Ich setzte mich gerade hin, rückte an den Schreibtisch und faltete die Hände auf dem Tisch zusammen. Hatte was Dringendes zu erledigen. Na gut, das klang nicht überzeugend.
Er schüttelte den Kopf und sah mich mit einem belehrenden Ausdruck in den Augen an. Wir haben hier viele Freiheiten. Das weißt du ja bereits, begann er und befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen. Aber wenn du das ausnützt, tja, dann bricht der Vulkan aus. Und wenn er das tut, musst du die Konsequenzen tragen.
Konsequenzen, sagte ich. Was für Konsequenzen?
Ich weiß es nicht, hab nie das Schicksal herausgefordert. Aber man erzählt sich schlimme, schlimme Geschichten. Er blickte zur Seite und atmete ein und aus. Eine durchaus tierische Geste. Ich meine es doch nur gut mit dir. Glaubst du etwa, ich fände es toll, wenn du eines Morgens nicht mehr hier sein würdest? Mann! Ich mag dich. Schade dir doch nicht selbst. Es gibt im Leben genügend andere, die das tun.
Abermals fragte ich: Was für Konsequenzen? Ich war überzeugt, dass er wesentlich mehr wusste, als er zugab. Von allem mehr. Du weißt doch etwas.
Nein.
Ich schaute ihn lange an und brachte es nicht zustande, zu schweigen: Da ist was faul.
Fanta-Lemon schoss von seinem Stuhl in die Höhe und kam um die Tische herum. Auf sein Gesicht hatte die unterdrückte Wut tiefe, hässliche Furchen gegraben. Hör mal zu, zischte er und ging neben mir in Knie, fordere hier niemanden heraus. Kapiert? Wenn ich sage, ich kenne die Konsequenzen nicht, dann ist es auch so. Er schlug die Hände zusammen - einmal, zweimal - und das Klatschen hallte laut und deutlich durch den ganzen Raum. Aber keiner der anderen Anwesenden schenkte uns Beachtung. Dann flüsterte er so leise, dass ich es kaum verstand: Die Welt ist hungrig. Frag nicht mehr weiter. Bitte.
Die Welt ist hungrig. Diese Feststellung hatte ich diese Woche schon einmal gehört. Aber von wem? Ich versuchte, mich angestrengt zu erinnern, während Fanta-Lemon aufstand und zurück an seinen Arbeitsplatz ging. Dann wusste ich es wieder. Das thailändische Mädchen, das mich im Pausenraum aufgeweckt hatte. Was hatte sie außerdem noch gesagt? Ich war mir sicher, dass da noch mehr war. Ah ja! Manchmal verschwinden Menschen. Und Berühre nicht die Wände. Nur ... was hatte das letztendlich zu bedeuten? Ich musste mit ihr sprechen, vielleicht konnte sie mir etwas sagen, dass mich ein Stückchen weiterbringen würde.
Hey, ich hab eine Frage, sagte ich in versöhnlichem, kumpelhaftem Tonfall und schaute zu Fanta-Lemon hinüber.
Dann frag einfach. Seine Wut war wie Schall und Rauch verschwunden, er schien wieder ganz der alte, vulgäre Schwerenöter zu sein.
Ich hab da letzthin ein thailändisches Mädchen im Pausenraum getroffen.
Scharf auf eine Thaimassage, was? Seine Augen leuchteten förmlich. Als wäre sein Kopf ein ausgehöhlter Halloween-Kürbis, in dem eine Kerze loderte.
Kennst du sie?
Nicht persönlich. Aber sie arbeitet im Rechnungswesen. Büro 394, wenn ich mich recht erinnere. Grinsend schüttelte er den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit. Worin auch immer sie bestand.
Danke, sagte ich. Eine weitere Fährte lag deutlich vor mir. Griffbereit. Ich musste ihr nur folgen und aufpassen, wohin ich meine Schritte setzte.
Heute hatte ich erst um 15.00 Uhr den mir übertragenen Auftrag erledigt. Zum einen lag das an der unerwartet zeitintensiven Reise zum alten Heizungskeller. Zum anderen daran, dass ich mittlerweile ziemlich erschöpft war. Meinem Körper fehlte der dringend benötigte Schlaf, und nicht nur ihm. Auch mein Geist sehnte sich danach - ja, er lechzte danach - den Schalter umzulegen, in die heilende Schwärze einzutauchen.
Aber mein Schlaf war irgendwo auf der Strecke geblieben, hatte sich davongeschlichen. Er war ein Flüchtling seiner Bestimmung und hatte keine Spur zurückgelassen, nicht einmal den Hauch einer Fährte, der ich folgen konnte.
Ich stand vor Raum 394 und betrachtete die silbern glänzenden, reliefartigen Nummern auf der Tür. Unschlüssig streckte ich die Hand nach der Klinke aus, zog sie wieder zurück und fragte mich einmal mehr, was ich da eigentlich tat. Ich sorgte dafür, mich tiefer und immer tiefer in eine Angelegenheit zu verstricken, die mich nichts anging. Die ich nicht einmal auch nur halbwegs durchschaute.
Yumiko, flüsterte ich. Alles was ich wollte, war noch einmal mit Yumiko zu sprechen, ihr zu sagen, dass ich sie liebte. Vielleicht ... ich griff nach meinem Handy, das in einer der vorderen Hosentaschen steckte, und probierte ihre beiden Nummern. Voller Hoffnung wartete ich, das Gerät an mein rechtes Ohr gepresst. Aber niemand nahm die Anrufe entgegen.
In diesem Moment ging die Tür auf und ich stand dem thailändischen Mädchen gegenüber. Warum kommst du nicht rein? fragte sie und ging zur Seite, um mich einzulassen. Ihrer Miene war nicht abzulesen, was in ihr vorging.
Ich klappte das Handy zusammen und steckte es zurück in die Hosentasche. Mit müden, bleischweren Beinen folgte ich der Aufforderung und betrat den Raum. Neugierig sah ich mich um. Er war wesentlich kleiner als das vor Anonymität strotzende Großraumbüro, in dem sich mein Arbeitsplatz befand. Intimer. Das konnte bedeuten, dass sie eine größere Nummer in der Firma war. Mehr Einfluss ausübte. Mein Blick glitt über einen ausladend massiven Mahagonischreibtisch, über gewaltige Papierstapel und Berge von Notizbüchern darauf, über ein halbes Dutzend imposanter exotischer Pflanzen, deren Blätter und Blüten eigentümliche, bizarre Schatten an die Wände warfen, über gemalte Portraits von missgestalteten Menschen verschiedener Rassen, die ich nicht kannte.
Hinter mir fiel die Tür leise ins Schloss, worauf eine vertrauenerweckende Stille entstand. Ich wandte mich um und betrachtete das Mädchen. Ihre Kleidung war wie das erste mal, als sie mich im Pausenraum geweckt hatte, geschmacksvoll und elegant. Tadellos und sauber. Ein marineblauer, enganliegender Rock betonte ihre schlanken Beine, ihre kleinen Füße steckten in schnittigen Turnschuhen, die mit dem Rest der Kleidung harmonierten, eine blütenweiße Bluse schmeichelte ihrem selbstbewussten Auftreten und die goldene Brosche am Revers der Jacke, die sie trug, zeugte von Geschmack. Dazu trug sie abermals gepudert Latexhandschuhe und um ihren Hals hing an einem Gummiband eine chirurgische Atemschutzmaske.
Du hast mich gesucht. Es war keine Frage.
Ja, sagte ich leise. Ich-
Schon gut, unterbrach sie mich. Du hast Fragen, so viele Fragen. Sie umrundete mich und maß mich mit kritischem Blick von oben bis unten. Als wäre ich eine Schaufensterpuppe, die die neueste Kollektion zur Schau stellte. Also los. Du darfst drei Fragen stellen. Danach musst du gehen. Drei Fragen.
Wo ist Yumiko? schoss es ohne zu überlegen aus mir heraus.
Enttäuschung machte sich auf ihrem Gesicht breit. Enttäuschung über die miese Qualität meiner ersten übereilt gestellten Frage. Das weißt du doch bereits. Die Welt ist hungrig. Sie hat sie verschlungen.
Über die zweite Frage, dachte ich länger nach. Aber der riesige Haufen ungeklärter Dinge in meinem Schädel veranstaltete ein solches Trara, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren. Alles schien wichtig zu sein, gleichzeitig aber unsinnig. Alles war Feuer und Eis. In wessen Geschichte bin ich hier hineingeraten?
Eine gute Frage. Das thailändische Mädchen umkreiste mich weiterhin wie ein Satellit auf einer festen Umlaufbahn und ließ mich zu keiner Sekunde aus den Augen. Eine ihrer schmalen Hände glitt sachte über meinen angespannten Rücken, ließ wieder davon ab. Willst du sie wirklich stellen? Ich gebe dir die einmalige Chance, sie zurück zu ziehen.
In wessen Geschichte bin ich hier? wiederholte ich.
Na gut, wie du willst. Sie berührte mit einer Hand meinen rechten Oberarm und machte eine Bewegung, als würde sie ein Staubkorn zur Seite wedeln. Letzten Endes ist es deine eigene Geschichte. Du hast lose Enden anderer Geschichten und Leben aufgenommen, du hast sie aufgenommen und damit zu deiner eigenen gemacht.
Six, flüstert ich und erkannte, was sie meinte.
Ja, zum Beispiel Six. Sie hatte nichts mit dir zu tun, bis du eine Verbindung gesehen und hergestellt hast. Sie ist jetzt ein Teil deiner selbst. Du hast das mit vielen anderen ebenfalls getan.
Selbst du.
Sie nickte. Ja, selbst ich. Dann stand sie direkt vor mir und blieb stehen, blickte mich mit leicht zur Seite geneigtem Kopf an. Dritte und letzte Frage, forderte sie mich leise auf und zog die chirurgische Atemschutzmaske über ihr hübsches Gesicht.
Was sollte ich sie fragen? Wie ich es auch drehte und wendete, es lief letzten Endes auf eines hinaus: Wie kam ich heil aus dieser ganzen Geschichte raus? All die Sorgen und Rätsel um andere Menschen, mochten die Gefühle für sie auch noch so ausgeprägt sein, gingen mich in letzter Konsequenz nichts an. Aber war es wirklich so einfach? Es war mir unmöglich, die Dinge zu leugnen, die ich fühlte, die ich begehrte. Ich wollte Yumiko finden, dazu musste ich erst Six finden, vielleicht sogar den toten Kater.
Tick tack, tick tack, sagte das Mädchen mit von der Maske gedämpfter Stimme.
Geradeheraus fragte ich: Wie komme ich aus dem Schlamassel wieder raus?
Mit einer Hand, die nach wie vor im hautengen Latexhandschuh steckte, berührte sie sanft meine linke Wange und blickte mir tief in die Augen. Durch die Atemschutzmaske gedämpft sagte sie: Du hast den letzten Hinweis. Mehr gibt es nicht. Alles was du tun musst, sind die Konsequenzen zu ertragen. Du kannst dich natürlich vor einer Entscheidung drücken - für eine gewisse Zeit. Aber dann wird alles noch verworrener und schmerzhafter. Glaub mir ... damit könntest du nicht lange leben. Ihre Hand fuhr über meine Brust.
3. Stockwerk / Raum 607, flüsterte ich und meine Stimme erstarb.
Richtig. Nun geh und trage die Konsequenzen.
Mit gesenktem Kopf verließ ich das gemütliche Büro und blieb verloren und einsam auf dem Flur stehen. Sah nach links, sah nach rechts, sah zu Boden. Dann ging ich los.
Lange betrachtete ich die einfache Metalltür mit der vorstehenden 607 im oberen Viertel. Kein Laut erklang von dem, was auch immer dahinter sein mochte. Nichts. Es war auf dem ganzen 3. Stockwerk so still wie in einem Mausoleum am finsteren Ende der Welt.
Einmal mehr fühlte es sich an, als würde mich alles beobachten, als wäre mein Entscheid tatsächlich von elementarer Wichtigkeit für wen, oder was, auch immer. Ich zögerte. Doch alles Zögern der Welt würde mich nicht vor dem retten können, was hinter dieser mysteriösen Tür lauerte. In diesem Punkt war ich mir sicher.
Mit einem ergebenen Seufzen auf den Lippen griff ich nach der Klinke, drückte sie nieder und stieß die Tür auf. Widerstandslos schwang sie auf und offenbarte einen kleinen Raum. Links stand ein langer Chromstahlschreibtisch. Lediglich ein Bildschirm, die dazugehörende Tastatur und die Computermaus standen darauf. Die rechte Seite des Büros wurde von einem einzelnen Stuhl und einem riesigen Kühlschrank dominiert, hinter dessen verglaster Tür eine beeindruckende Auswahl alkoholischer und nichtalkoholischer Getränke stand. Einige Meter vor mir, am anderen Ende des Raumes, waren drei neutrale grüne Türen in die weiße Wand eingelassen. Ein kleines Mädchen - nicht älter als 12 - mit geflochtenen blonden Zöpfen stand davor, die Arme verschränkte, und schaute mich eindringlich an.
Hallo, sagte ich und schaute über meine Schulter zurück. Die Tür, durch die eingetreten war, war verschwunden. Natürlich.
Hi. Die Kleine kam keck auf mich zu, blieb vor mir stehen und musterte mich von Oben bis Unten. Da bist du ja endlich. Sie griff nach den Trägern der Latzhose, die sie trug.
Wer bist du. Und was machst du hier? fragte ich.
Ach, ich bin nur dein Unterbewusstsein und lediglich hier, damit du dich nicht so alleine fühlst. Das heißt ... eigentlich bin ich nicht wirklich hier. Nur in deinem Kopf. Sie biss sich auf die Lippen, verzog das Gesicht zu einer angedeuteten Grimasse und lächelte verlegen. Ich kenn mich da echt nicht gut aus.
Kannst du mir sagen, was das für ein Ort ist?
Ja, das heißt, nein. Nicht wirklich. Oder vielleicht. Das Problem ist, dass es eben kein Ort ist ... nur eine Zwischenstation. Sie ging zum Kühlschrank. Auch was zu trinken?
Ich nickte. Gerne. Ein Bier. Sag mal, wohin führen diese drei Türen da hinten?
Die? Mit flinken Fingern öffnete sie den gigantischen Kühlschrank, holte ein Bier und eine Cola heraus. Komm schon, du weißt es doch, Großer. Yumiko, Six, der Kater ... . Aus der Brusttasche ihrer Latzhose holte sie einen Flaschenöffner, öffnete die Flaschen und reichte mir das Bier.
Du meinst, jede dieser Türen hat entweder mit Yumiko, Six, oder dem Kater zu tun. Das klang richtig. Aber welche ist jetzt welche?
Das kann ich dir sagen, Großer. Die Linke hat mit Yumiko zu tun. Die Mittlere mit dem Kater, die Rechte mit Six. Das kleine Mädchen setzte die Flasche an die Lippen und leerte sie zur Hälfte. Ah, sagte sie und wischte sich mit dem linken Handrücken über den Mund. Das tut gut.
Ich trank ebenfalls und schaute von dem Mädchen zu den drei grünen Türen und wieder zurück zu der Kleinen. Was geschieht, wenn ich durch eine der Türen gehe? frage ich.
Na, du wirst dein Leben weiterleben.
Einfach so?
Nee, die Kleine schüttelte den Kopf und ihrem Gesicht entwuchs ein ernster Ausdruck. Wenn du durch die Linke gehst, wird Yumiko leben. Wenn du durch die Mittlere gehst, wird es der Kater sein. Und Rechts-
Six, unterbrach ich ihre Erklärung. Ich verstehe. Und das tat ich wirklich. Ich leerte die Flasche, holte mir eine Zweite aus dem Kühlschrank und öffnete sie mit dem Öffner, den mir mein Unterbewusstsein hinhielt. Nachdem ich abermals einen Schluck getrunken hatte, bat ich die Kleine: Hör mal, kannst du mich alleine lassen? Ich muss nachdenken.
Kein Problem, Großer, sagte sie und winkte mir fröhlich zu. Tschüss. Dann wandte sie sich um, ging einige Schritte und war weg. Seufzend schlenderte ich zu dem äußerst bequem anmutenden Stuhl auf der rechten Seite und setzte mich, machte es mir so bequem, wie es eben nur ging.
Da lagen sie also vor mir, die drei Möglichkeiten, wie mein einfaches Leben weitergehen könnte. Und es würde nie wieder so sein, wie es einmal war. Im Guten wie im Schlechten. Aber wie würde es denn sein? Wie würden die Konsequenzen aussehen?
Konsequenzen - auf dieses unangenehme, heuchlerische Wort läuft doch letztendlich alles hinaus. Wir müssen die Konsequenzen für unser tägliches Tun tragen, uns die Bürde der Wahl aufhalsen, so schwer sie auch ist. Und nichts kann jemals wieder so werden, wie es einmal war. Gar nichts. Der Rückweg ist versperrt.
Ich erinnerte mich an Yumiko. Wie sie vor dem Spiegel im Schlafzimmer stand, wie sie ihre Brüste und den Bauch kritisch betrachtete. Wie sie die Hand hob und mich beschimpfte als ich auf den Auslöser der Kamera drückte.
Ich erinnerte mich an die fernen Momente wenn wir gemeinsam lachten, wenn wir weinten und eng umschlungen aufeinander lagen, Fleisch an Fleisch und doch so fern. Erinnerte mich an das Glänzen in ihren dunklen, unergründlichen Augen.
Ich erinnerte mich an den Tag, als sie mir gestand, dass sie mich verlassen und nie mehr wieder sehen wollte. An das schreckliche, bodenlose Gefühl der Unmöglichkeit tief in mir, etwas dagegen unternehmen zu können.
Ich erinnerte mich an die erste Begegnung im Faxraum, als Six ihre Hände kopiert und immer wieder kopiert hatte. Wie eine Besessene. Und was hatte sie damals gesagt? Gehen sie nicht zur Tür. Fassen sie sie nicht an ... denken sie nicht einmal an sie.
Six - wie viele, viele andere auch schon -, hatte eines nicht begriffen: Jeder hat Türen, jeder ist alleine, jeder muss ständig wählen. Und nichts nimmt den Schmerz der Konsequenzen.
Für welches Leben sollte ich mich entscheiden? Gute Frage.
Ich leerte die Flasche Bier und stellte sie vor mir zu Boden, blickte sie lange und deutlich an. Ich würde alle Flaschen Bier des Kühlschrankes leeren - gute Idee. Ich würde gemächlich trinken und trinken und anschließend eine Burg mit den leeren Flaschen bauen. Vielleicht würde ich einige an
die Wände werfen und laut dazu schreien, das hatte ich noch nie getan. Dann würde ich wahrscheinlich noch eine kleine Weile warten - nur eine klitzekleine Weile -, würde vielleicht ein wenig dösen und von Vergangenem träumen. Und schließlich würde ich die Wahl treffen.
27. Mar. 2008 - Harald A. Weissen
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