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emperor-miniature
TORY von Rainer Innreiter
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Der Bulle, der ohne jede Hast breitbeinig auf unseren Wagen zu schlenderte, roch nach einer Mischung aus Schweiß, billigem Aftershave und jeder Menge Ärger. Vor allem Letzteres. Vermutlich wollte er so cool und abgebrüht wirken, wie die Cops in den Fernsehserien, die ich manchmal sah, wenn es in den Absteigen Kabelfernsehen gab.
Er war nicht cool. Ganz und gar nicht. Vielleicht wusste er das sogar und gab sich deshalb besonders viel Mühe, verkrampfte Lässigkeit zu verbreiten, indem er seine Sonnenbrille abnahm, sie am Bügel festhielt und kreisen ließ. Was er hingegen bestimmt nicht wusste war, dass eine geladene Glock auf meinem Schoß lag. Ich war in einen Amélie-Roman vertieft gewesen, als Dad die Geschwindigkeit des Toyotas zu verringern begann und mir zuraunte, ich solle die Knarre bereit halten. Solche Situationen waren nichts Neues für mich, weshalb ich völlig ruhig die Pistole aus dem Handschuhfach nahm, auf dem Schoß drapierte und mit dem Heftchenroman tarnte.
Die Fenster waren offen und der Bulle linste neugierig in das Wageninnere.
Schönen guten Morgen, Officer, begann Dad und zog die Handbremse an. Das Geräusch erinnerte mich an das Knacken von Knochen. Bin ich etwa zu schnell gefahren? Wissen Sie, wir kommen aus Vermont und
Nein, entgegnete der Polizist, und er bemühte sich, dieses simple Wort möglichst weit in die Länge zu ziehen. Ich las in meinem Buch, konnte mich aber nicht auf die Handlung konzentrieren, da ich die Blicke des Bullen auf mir lasten fühlte. Es waren keine unschuldigen Blicke sie waren angefüllt mit jener Lüsternheit, die ich so sehr verabscheute. Dennoch ignorierte ich sie und tat so, als wäre ich völlig in meine Lektüre versunken.
Dann sagte er in gelangweilter Stimmlage: Ihre Wagenpapiere.
Dad zückte sein Portemonnaie und ich schaute zu dem Polizisten hinüber. Er fragte nach meinem Namen und ich antwortete kurz angebunden.
Victoria ist ein schöner Name, merkte er an und zwinkerte mir zu.
Dad reichte ihm die Wagenpapiere und der Bulle überprüfte sie. Plötzlich zeigte er auf den Caravan, und einen Moment lang befürchtete ich, er würde einer plötzlichen Eingebung folgend Verstärkung anfordern und sowohl unsere Personenbeschreibungen, als auch das Kennzeichen des Wagens durchgeben. Wahrscheinlich sah ich zu viele schlechte Filme, denn welchen Grund hätte es für ein solches Verhalten gegeben?
Stattdessen gab er die Papiere zurück und sagte: Das linke hintere Fenster hat einen Sprung. Sollten Sie mal auswechseln lassen.
Dad nickte und bedankte sich für den Ratschlag. Es klang beinahe aufrichtig. Der Polizist drehte sich weg und schien uns in Ruhe lassen zu wollen. Plötzlich blieb er stehen, wandte sich um und kam zurück. Meine Hand tastete nach der Waffe. Der Griff verströmte in der heißen Morgensonne angenehme Kühle. Der Cop stützte sich mit den Ellbogen am Fensterrahmen ab und sah mich ernst an. Für ein hübsches junges Ding wie dich kann die Gegend hier ein ziemlich gefährliches Pflaster sein.
Dann blickte er Dad an. Sie sollten wirklich vorsichtig sein. Ich möchte Sie nicht erschrecken, aber Gewaltverbrechen sind hier leider fast schon an der Tagesordnung.
Wir werden vorsichtig sein. Nicht wahr, Tory?
Ich hasste es, wenn er mich Tory nannte, pflichtete ihm trotzdem bei. Kurz überlegte ich, ob ich den Cop von hinten abknallen sollte, alleine deshalb, um Vater zu ärgern. Ich ließ es bleiben, wartete, bis der Bulle in seinen Wagen gestiegen war, und legte die Waffe zurück in ihr Refugium zwischen Erfrischungstüchern, Wunderbäumchen, Kugelschreibern und anderem Krimskrams. Dann fuhren wir wieder los, die Interstate entlang.
Ich versuchte, in dem Roman völlig aufzugehen, aber es klappte nicht. Zunächst lag es an der trockenen Hitze, die den Schweiß förmlich aus den Poren saugte, wie eine Biene Nektar aus einer Blüte. Als Dad das Radio einschaltete und irgendwelche Country-Scheiße die Luft verpestete, gab ich auf und klappte das Heft zu.
Ein Ortsschild setzte uns in Kenntnis, dass wir drauf und dran waren, die weltberühmte Kleinstadt Celeste zu entern.
Sieh doch mal nach, ob wir da schon mal waren, brummte Dad und sang herzergreifend falsch einen Refrain mit, der von Cowboys und Sternenzelten handelte. Ich nahm den Straßenatlas aus der Seitentasche und klappte die Karte auf. Die Ränder waren bereits stark zerfranst und ein paar Stellen schimmerten gelb oder fleckig braun. Außerdem roch er etwas muffig. Aber er leistete uns seit Jahren beste Dienste und hatte mehr Jahre als ich auf dem Buckel. Mit dem Finger fuhr ich eine gestrichelte Linie entlang, die die Straße symbolisierte, auf der wir gemächlich wie Pensionisten dahin tuckerten.
Schließlich fand ich Celeste in einem Gebiet, das einen weißen Fleck auf unserer Tour bildete. Dies teilte ich Dad mit, der daraufhin laut lachte. Ah, Neuland also! Umso besser.
Er war gut gelaunt, und diese Laune übertrug sich auf mich. Ich verzieh ihm sogar, mich Tory genannt zu haben. Ja, sogar die abschätzigen Blicke des Bullen konnte ich abschütteln. Bleiben wir über Nacht in einem Motel?
Die ersten Häuser tauchten am Horizont auf. In der dumpf brütenden Hitze flirrten sie wie Geisterschiffe auf Gefechtskurs mit unserem Benzinschlitten über dem Asphalt.
Nein, antwortete Dad. Wir füllen unsere Vorräte auf und reisen weiter.
Und so geschah es denn auch. Dad stellte den Wagen auf dem Parkplatz eines Supermarkts ab und stieg in den Caravan, um nach Mum zu sehen. Während ich mir die Haare zu einem Zopf flocht und diesen mit einer Schleife band, fürchtete ich, dass er ohne sie herauskommen würde. Und dies bedeutete: Sie lag besoffen im Bett.
Ich hasste sie, wenn sie sich betrank. Ja, ich sage ganz bewusst, dass ich sie hasste. Sie, nicht die billigen Weine oder Biere, die sie wie ein Verdurstender in sich schüttete, wenn sie ihre schlimmsten Phasen hatte. In einer Talkshow hörte ich einmal eine Frau behaupten, Alkoholismus sei eine Krankheit, die es zu bekämpfen gälte und die jeden erwischen könne.
Ich hielt das immer schon für ausgemachten Schwachsinn. Alkoholismus ist keine Krankheit, sondern eine Entscheidung. Man entscheidet sich gegen die Realität. Ich wusste das, denn Mum hatte sich ebenfalls entschieden. Es gibt viele Gründe, zur Flasche zu greifen, aber keine Begründungen, keine. Jedenfalls war das meine Ansicht.
Erleichtert atmete ich auf, als beide aus dem Caravan stiegen. Mum drückte mir einen Kuss auf die Wange, den ich wie eine ganz normale junge Frau verschämt wegwischte, obwohl ich mich über die Zuneigung freute.
Dann kauften wir ein. Bei dem Laden schien es sich um den einzigen größeren Wal-Mart in der Gegend zu handeln, denn das Geschäft war proppenvoll. Mum und Dad reihten sich mit dem Einkaufswagen in eine lange Schlange ein. Ich langweilte mich und blätterte die Zeitschriften im Verkaufsständer neben den Kassen durch. Fast hätte ich einen Jubelschrei ausgestoßen, als ich zwischen idiotischen Horror-Magazinen und historischen Heftromanen einen Sammelband mit alten Amélie-Ausgaben fand. Ich konnte es kaum fassen: Vier Romane in einem Band, die ich allesamt noch nicht gelesen hatte! Am liebsten hätte ich sie auf der Stelle verschlungen, aber später würde ich froh über die Ablenkung von der Einöde sein.
Beim Verstauen der Lebensmittel im Caravan sagte Dad beiläufig: Du bist heute mit dem Essen dran.
Ich nickte und legte die Milchpackungen auf die Schienen im Kühlschrank, da die Seitenfächer bereits vollgestopft waren. Sagt wer?
Der Weihnachtsmann!, rief Mum und begann, sich auszuschütten vor Lachen.
Früher hatte ich das witzig gefunden. Aber inzwischen konnte ich es nicht mehr hören. Ihr Running gag hatte sich totgelaufen. Natürlich hatte sie das nicht bemerkt, wie überhaupt die meisten Dinge und Geschehnisse im Leben an ihr vorüber liefen, ohne dass sie auch nur Notiz davon nahm.
Mit einem Seufzen schloss ich kurz die Augen. Na schön. Ich organisiere das Essen.
Ich öffnete die Augen wieder und erntete von Dad ein Zwinkern. Es war früher Nachmittag und ich hatte noch Zeit, bis ich mich ums Essen kümmern musste. Mit einem Hüftschwung knallte ich die Kühlschranktür zu.
Dad nahm die letzten Sachen aus der Einkaufstüte: Eine Cracker-Schachtel und mein Buch. Oho! Du willst dich also weiterbilden, Tory? Davon hast du mir ja gar nichts gesagt.
Er stieß ein heiseres Lachen aus, das so gar nicht zu seiner korpulenten Erscheinung passte. Dad wusste, wie er mich aufziehen konnte: Nicht genug damit, mich Tory genannt zu haben, verhöhnte er auch noch meine Amélie-Romane. Mit einem Sprung war ich bei ihm und riss ihm den Band aus seinen Händen.
Es gibt keinen Grund, dich über mich lustig zu machen!, fauchte ich und war in diesem Moment tatsächlich wütend. Jener Mensch, den ich auf dieser Welt am meisten liebte, veralberte jene Lektüre, die ich über alles liebte. Ich wusste natürlich, dass er es nicht boshaft meinte. Aber wenn man so wenig hat, das einem etwas bedeutet, kommt jede Schmähung des Geliebten einer Demütigung gleich.
Dad murmelte eine Entschuldigung und machte einen geknickten Eindruck.
Ist schon okay, entgegnete ich in versöhnlichem Ton.
Wir fuhren an den Stadtrand, wo wir den Caravan vom Wagen abkoppelten und im Schatten einiger Bäume parkten. Dies bot nicht nur Schutz vor der Sonne, sondern auch vor neugierigen Blicken.
Die Zeit bis zum Abend verbrachte ich mit den ersten vierzig Seiten des Romans Die Kurtisane des Königs. Ich bin beileibe keine langsame Leserin, ganz im Gegenteil. Aber immer wieder formten sich die Sätze zu Bildern, die mich in Wachträume abgleiten ließen. Im Schatten einer Espe hockte ich an den Stamm gelehnt und versank in den Armen einer Welt, die nie existierte und niemals existieren würde. Eine Welt, in der ich der vielbestaunte Mittelpunkt am Hofe des französischen Königs war, in wallenden, farbenprächtigen Kleidern herumwirbelte, während Musik die Hallen des Schlosses Versailles mit Lebenslust erfüllte
Ich schrak hoch als ich merkte, dass es bereits zu dämmern begonnen hatte. Leicht irritiert ob des Zeitverlusts schlug ich das Buch zu und stieg in den Wagen zu Dad. Wir fuhren in die Stadt, falls man dieses Provinznest ernsthaft so bezeichnen wollte. Dad setzte mich vor einem mit Brettern vernagelten Kino ab. Hast du es mit?
Ich klopfte die Taschen meiner Jeans ab. In der linken wartete das Springmesser auf seinen großen Auftritt. Dann wünschte mir Dad viel Spaß und fuhr zurück. Ich ging die Hauptstraße entlang, ohne ein konkretes Ziel zu haben. Das Schicksal sollte entscheiden, wohin es mich führte.
Schließlich entschied ich mich für ein heruntergekommenes Tanz-Café, das wirkte, als hätte es die letzten drei Jahrzehnte verschlafen und wäre gerade erst aufgewacht. Ich musste nicht erst lange nach einem freien Tisch suchen und setzte mich an einen. Der Sessel knarrte bedenklich, obwohl ich nur etwas mehr als hundert Pfund wog. Die einst glatte Tischplatte war von Narben übersät. Aus der unvermeidlichen Jukebox quollen Rockabilly-Klänge, die sich mit dem Gelächter Betrunkener mischten. Eine beleibte Kellnerin wurde auch mich aufmerksam und stapfte missmutig zu mir herüber. Was darfs sein? Alkohol gibts keinen für dich, damit das klar ist.
Ich war an die Unfreundlichkeit Fremden gegenüber gewöhnt und steckte das herablassende Verhalten einfach weg. Mein Sinn stand ohnehin mehr nach dem gepressten Safte güldener Äpfel, Mylady.
Die Bedienung starrte mich aus großen Kuhaugen an. Hä? Willst du mich verscheißern?
Apfelsaft, sagte ich kurz angebunden und blickte der Frau nach, wie sie hinter die Bar wackelte.
Dann sah ich mich ein wenig in der Runde um. Die meisten Anwesenden waren Pärchen. Ein ungepflegt und rüpelhaft wirkender Muskelprotz mittleren Alters zwinkerte mir zu. Endlich fand ich einen geeigneten Mann, der einsam an der Bar saß und Bier trank. Ich schätzte ihn auf etwa Zwanzig, schlank, aber nicht dünn, groß gewachsen, gepflegt. Perfekt!
Ich warf ihm unmissverständliche Blicke zu, und noch ehe die übel gelaunte Kellnerin mein Glas Apfelsaft auf den Tisch knallen konnte, war er aufgestanden und an den Tisch getreten.
Darf ich mich setzen?
Er durfte. Wir musterten uns gegenseitig. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kleidung, die mehr andeutete als großzügig zur Schau stellte, bessere Fänge ermöglichte. Kurze Röcke verleiteten besoffene Typen dazu, meine Beine und meinen Po zu betatschen, was ich hasste. Tiefe Ausschnitte zogen zwar die Blicke auf sich, aber leider von der gleichen Zielgruppe. Männer wie jener, der mir nun gegenüber saß, waren Gourmets: Sie gierten nach dem Besonderen, nicht nach dem Gewöhnlichen. Und ich war gewiss etwas Besonderes. Bei einer Miss-Wahl wäre ich keine Kandidatin für einen der vorderen Plätze gewesen. Aber ich war auf eine natürliche Weise hübsch, die vielen gefiel.
Mein Gegenüber nannte mir seinen Namen: Francesco. Ich lachte und nannte ihm meinen Namen, der ihn in Verzücken geraten ließ. Victoria sei ein wunderschöner Name und passe deshalb zu mir. Er trug einen filigranen, silbernen Ring am Finger und ich sprach ihn darauf an. Es schien ihm peinlich zu sein. Oh! Ich muss vergessen haben, das Ding abzunehmen. Weißt du, meine Verlobte hat mit mir Schluss gemacht letzte Woche.
Ich heuchelte Bedauern vor und trank mein Glas Schluck um Schluck leer, während er mir seine völlig uninteressante Lebensgeschichte erzählte. Er war waschechter Amerikaner, aber sein italienischer Vater habe auf den bescheuerten Namen bestanden, er arbeite in einer Autowerkstatt, träume von einer Reise nach China. Tapfer ertrug ich, wie er mir sein Herz ausschüttete und schließlich auffällig beiläufig einstreute, er habe eine eigene Wohnung, nur wenige Blocks von hier entfernt.
Wenige Minuten später gingen wir die Straße entlang. Es ist so eine schöne Nacht! Ich würde gerne spazieren gehen.
An dieser Stelle war mir vor ein paar Monaten ein Kerl tatsächlich abgesprungen. Er hatte zunächst gemault und mich schließlich beschimpft, weil ich nicht mit in seine supertolle Wohnung, die er mir zuvor in allen Details geschildert hatte, gegangen war. Ich hatte ihn stehen gelassen und mir noch in derselben Nacht einen anderen geholt.
Aber Francesco war anders. Ich streichelte seinen Oberarm und lächelte ihn an. Das gefiel ihm und er folgte mir ohne jeglichen Widerstand. Angeblich ging er auch oft spazieren, um seine Gedanken zu ordnen. Sein Arm schlängelte sich um meine Hüfte. Ich ließ ihn gewähren. In der letzten Stunde seines Lebens sollte er wenigstens noch ein bisschen Spaß haben. Das war ich ihm schuldig, dachte ich, und wehrte auch einen fast schüchternen Kuss auf meine Wange nicht ab. Damit hatte er das Maximum an Zuwendung ausgereizt. Ich hatte außer Mum und Dad noch nie jemanden geküsst und wenig Interesse, dies zu ändern. Letzten Endes waren mir die Männer nicht näher als irgendein Tier.
Wir schwiegen lange Zeit, während wir einen Trampelpfad entlang gingen.
Hast du denn überhaupt keine Angst?, fragte er plötzlich.
Nein, antwortete ich. Sollte ich denn?
Sein Natürlich nicht! klang erschrocken. Ich musste unwillkürlich grinsen. Aber nicht alle Typen sind so
na ja, nett wie ich. Verstehst du?
Ich lächelte ihn unschuldig an. Wir waren da. Trotz der Dunkelheit erkannte ich den vereinbarten Platz. Ich schüttelte Francescos Arm ab und lief auf den alten Schuppen zu. Herrlich kühl umzärtelte mich die abendliche Luft. Einen kurzen Augenblick lang fühlte ich mich frei, unbeschreiblich frei. Dann zerstörten Francescos Rufe die Illusion. Beim Schuppen angekommen blieb ich stehen, atmete kurz durch und legte mich unter einen der Bäume.
Mein Verehrer trudelte einige Sekunden nach mir ein. Er schnaufte schwer und stützte sich am Baumstamm ab. Du läufst
irre
schnell. Bist du
Sportlerin?
Nein, sagte ich in sein Schnaufen hinein. Aber ich habe gelernt, schneller sein zu müssen als andere.
Francesco nickte und setzte sich neben mich. Er verschwendete keine Zeit damit, mich nach meinem Alter zu fragen, meinen Wünschen, meinen Träumen oder Hoffnungen. Ich seufzte enttäuscht auf, als sich seine Hand unter mein Shirt grub und meine Brüste suchte, wie eine züngelnde Schlange sein Opfer. Er missdeutete mein Seufzen und wurde mutiger. Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben.
Sternenzelt. Wie es in dem Song hieß. Dad liebte diesen Countrymusic-Müll, der immer von Freiheit, Frauen, Nächten unter dem freien Himmel und ähnlichem handelte. Hunderte, vielleicht tausende Sterne funkelten wie winzige Smaragde über mir. Ob es dort oben wohl Menschen gab, fragte ich mich. Junge Männer, die mich nicht mit ihren Blicken auszogen oder mir die Hand unter den Rock schoben, sondern mich wie eine Königin behandelten. Irgend einen Mann, der mich nicht mit Händen und Lippen, sondern mit seinem Geist berührte, der mir nicht mit alkoholgeschwängerter Stimme zuraunte, wie geil ich ihn machte und ob ich auch schon geil sei nein, ein Mann, der mir aufrichtige Komplimente machte, sich für mich auf andere Weise interessierte, mich mit Aufmerksamkeit, Güte und Liebe überschüttete. Aber solche Männer existierten nur in den Köpfen der Autoren von Amélie-Romane. Die unverblümte Wirklichkeit waren Typen wie Francesco, der damit begann, den Knopf meiner Jeans zu öffnen.
Wenn du dich tatsächlich von deiner Freundin getrennt hast, kannst du den Ring doch wegschmeißen, forderte ich ihn auf.
Sein Kopf fuhr hoch. Vergiss das doch einfach.
In seiner Stimme lag Spott: Für mich, für seine Freundin. Im Grunde war er doch nur wie alle anderen. Als er meinen Reißverschluss nach unten gezippt hatte und begann, an meinen Slip zu fummeln, zog ich das Messer und schlitzte ihm die Halsschlagader auf. Augenblicklich ließ er von mir ab, gurgelte und versuchte, die Wunde mit seinen Händen zu bedecken. Das war natürlich vergebens: Blut schoss zwischen den Fingern hindurch. Irgendwie schaffte er es sich aufzurichten und ein paar Schritte zu gehen. Keine Ahnung, was er vorhatte. Wollte er sich zur Straße schleppen und dort darauf hoffen, dass zufällig auf dieser praktisch nicht befahrenen Nebenstraße ausgerechnet ein Ambulanzwagen vorbei kam und ihn an Ort und Stelle versorgte?
Ich stand ebenfalls auf und sah ihm fasziniert bei seinem Todeskampf zu. Als er nach etwa einer Minute immer noch nicht auf dem Boden lag, hatte ich genug. Ich hob einen Stein auf und donnerte diesen gegen seinen Schädel. Ein knackendes Geräusch erklang, dann sackte Francesco wie eine tänzelnde Marionette, deren Fäden man abgeschnitten hatte, auf der Stelle zusammen und rührte sich nicht mehr.
Dad kam wenige Minuten nach meinem Anruf. Wir schleppten Francesco hinter den Schuppen und ließen ihn dort ausbluten. Dann wickelten wir ihn in Plastiksäcke ein und mit Mums Hilfe trugen wir die Leiche in den Caravan.
Der Nachteil bei Frischschlachtung ist, dass man frische Kleidung anziehen muss und das Kühlfach gerade mal Platz für die besten Filetstückchen bietet. Der Vorteil besteht darin, sich das Lieblingsstück aussuchen zu dürfen. Mum briet mir die Leber, während ich eine deftige Chili-Sauce, Röstkartoffeln und Schalotten zubereitete. Dad beseitigte derweil draußen die verräterischen Spuren. Vermutlich war dies unnötige Mühe, denn was geschah schon, wenn ein junger Mann vermisst wurde? Täglich verschwanden vermutlich alleine in den USA tausende Menschen, von denen die meisten wieder auftauchten. Sei es, weil es sich von zu Hause ausgerissen waren und gemerkt hatten, dass die Welt Zähne hätte und diese auch einsetzte, sei es, weil jemand reuig zu seiner Familie zurück kehrte, oder das Geld alle war und ein junger Ausreißer nicht mehr weiter wusste. Und genau darauf baute die Polizei: Sie war zu sehr mit Gewalt, Drogenhandel und allen möglichen anderen Verbrechen beschäftigt, um sich mit Fällen zu befassen, die sich zumeist ohnehin als harmlos herausstellten.
Trotzdem achteten wir darauf, uns in keiner Weise verdächtig zu machen oder in der gleichen Stadt zweimal zuzuschlagen. Das Schicksal war gnädig, wenn man es nicht herausforderte.
Während wir aßen wühlten wir in Erinnerungen. Mum erzählte zum schätzungsweise acht Millionsten Mal von ihren Streichen an der Grundschule. Es waren immer dieselben Geschichten, zu denen ich pflichtbewusst lachen musste. Ich wusste, dass es Dad von mir erwartete, auch, wenn wir nie darüber sprachen.
Mir war Mums eher bescheidene Intelligenz klar geworden, als mir Dad lesen und schreiben beibrachte. Ich hatte mich an einem neuen Wort geübt, und da Dad gerade nicht da war, hatte ich Mum gefragt, ob ich das Wort richtig geschrieben hatte. Ihr gequälter Blick hatte mich zunächst belustigt, später dann verwundert. Ihre Ausrede mit den schlechten Augen war so lahm, dass ich nur mühsam einen Lachanfall unterdrücken konnte.
Nach dem Essen räumte ich den Tisch ab und spülte das Geschirr. In der Zwischenzeit zerlegten Mum und Dad die unnützen Abfälle und stopften sie in Plastiksäcke. Wir fuhren weiter nördlich und wurden die Überreste in der Wüste los, indem wir kleine Löcher gruben und das, was von Francesco noch übrig war, hinein kippten. Auf diese Weise gliederten wir ihn in den natürlichen Kreislauf des Lebens ein. Als wir fuhren, hatte sich ein neugieriger Fuchs bereits einem der Löcher genähert und begonnen, an etwas zu zerren, das einmal eine Hand gewesen war. Es wirkte fast so, als winkte sie mir zum Abschied.
Ich winkte zurück.
Lange nach Mitternacht hielt Dad endlich an, damit wir uns schlafen legen konnten. Ich war zu müde, um mir die Zähne zu putzen und fiel der Länge nach ins Bett. Meine Träume katapultierten mich in jene andere Welt, die ich so sehr liebte. Güldene Paläste warteten darauf, von mir betreten zu werden. In ihren Sälen tanzte ich, bis es mir schwindelte und mich ein hübscher, junger Prinz auffangen musste. Tausende Händepaare applaudierten mir. Ich schwebte durch die Gänge und Zimmer, betrachtete mich in Spiegeln, deren Rahmen aus purem Gold bestanden. Mit Fächern aus purer Seide kühlte ich die Hitze meines Körpers. Ein Adelsmann fiel ob meiner Schönheit auf die Knie und küsste sanft die dargebotene Hand, die ich in weiße Handschuhe gehüllt hatte. Und dann begann ein rauschendes Fest, in dessen Mittelpunkt ich stand
Enttäuscht stellte ich beim Erwachen fest, dass auch dies wieder nur ein Traum war. Ich sah zu Mum und Dad rüber, die im Doppelbett schliefen. Dad schnarchte monoton. Leise, um sie nicht zu wecken, stand ich auf und zog mir frische Kleidung an. Draußen empfing mich kühler Morgenwind, den ich erfrischend fand. Tief sog ich die Luft ein und schlenderte ziellos umher. Wir standen am Rande eines aufgelassenen Ackers. Keine dreißig Meter lagen ein Farmhaus, ein Silo, eine Scheune und zwei Viehställe. Die Farm musste schon vor langem aufgegeben worden sein. An der vorderen Front des Wohnhauses waren sämtliche Scheiben eingeschlagen und die Eingangstür stand offen. Gras und Unkraut wucherte bereits über die Veranda wie ein lebendiges, grünes Meer, das im Begriff war, ein leck geschlagenes Schiff zu verschlingen.
Ich stand immer vor Mum und Dad auf, um noch ungestört zu lesen oder nachzudenken. An diesem Morgen bedrängte mich bleierne Schwermut, ausgelöst vom Anblick der verlassenen Farm. Vielleicht hatte dort eine glückliche Familie ein bescheidenes, aber ruhiges Dasein gefristet. Es musste schön sein einen Platz zu haben, der einem gehört; ein Zuhause, das sich stets an derselben Stelle befindet; eine selbst geschaffene, kleine Welt, in der man sich nicht ständig auf der Flucht befindet oder Gefahr läuft, durch irgendeinen dummen Fehler alles zu verlieren, was man hat.
Meine Andersartigkeit war mir natürlich schon damals bewusst ich lief ja mit offenen Augen durch die Welt und sah, wie Kinder zur Schule oder auf den Sportplatz gingen. Ich sah Jugendliche, die lachend und Händchen haltend durch einen Park spazierten oder sich in Nebengassen zurückzogen und dort heiß und innig Küsse tauschten. Ich sah Erwachsene, die nach Hause fuhren, in gemütliche kleine Häuschen, mit Vorgärten und Hunden, die sie freudig begrüßten. All dies, ging es mir schmerzhaft durch den Kopf, würde ich nie kennen lernen oder hatte es schlichtweg versäumt. Ich war sechzehn jedenfalls behauptete das Dad, denn ich hatte weder einen Reisepass, noch einen Geburtsschein und fühlte mich wie ein Fisch, dem sein Aquarium zu klein wurde.
Ein Fisch
ich musste an die Geschichte von dem Fisch denken, der jedes Mal, wenn er aus dem Wasser sprang um ein Insekt zu fangen, eine Sekunde lang das Land sieht, an dessen Ufer Tiere, die es in seinem Lebensraum nicht gab, ihren Durst stillten, und Bäume, und Sträucher, und viele andere, ihm unbekannte Dinge und Geschöpfe. Dann klatscht er zurück unter die Wasseroberfläche und vergisst das Gesehene.
Aber ich konnte nicht vergessen. Wahrscheinlich war Mum mit ihrem schlichten Gemüt viel besser dran als ich. Ich setzte mich auf den Boden und starrte in die leeren Fenster des Hauses. Irgendwann spürte ich eine Hand auf der Schulter. Alles klar mit dir?
Ja, sagte ich, ohne mich umzudrehen.
Dad zog die Hand weg und blieb neben mir stehen. Er hatte wohl gemerkt, dass eben nicht alles klar war. Ich habe den Ring aufgehoben. Willst du ihn haben?
Verwirrt blickte ich hoch. Ring? Ach ja, Francescos Verlobungsring. Ich schüttelte den Kopf. Was sollte ich damit anfangen? Ich wollte, dass mir ein attraktiver, netter, junger Mann einen kostbaren Ring, vielleicht mit einem Saphir, ansteckte und mich fragte, ob ich ihn heiraten wolle. In einem altmodischen Ruderboot mitten am See, während Schwäne majestätisch an uns vorbei glitten. Unter einem strahlend blauen Himmel an einem warmen Frühlingsabend.
Kann ich irgendwas für dich tun?
Ich starrte immer noch in Dads Gesicht. Er wirkte müde und verletzlich. Am liebsten hätte ich ihn in die Arme genommen. Doch ich konnte nicht. Meine Beine schienen mit dem Boden verwachsen zu sein.
Wir könnten hier bleiben, sagte ich plötzlich, einer Eingebung folgend. Hier ist doch weit und breit niemand. Wir bleiben einfach hier, richten das Wohngebäude her, pflanzen Gemüse an, später auch ein paar Obstbäume. Vielleicht gibt es hinter der Scheune Hühnerkäfige. Wir könnten Hühner halten. Und jeden Morgen würde uns der Ruf eines Hahns aufwecken.
Dad schluckte hart. Ihm schien das Lächeln, das er mir schenkte, schwer zu fallen. Hast du denn eine Ahnung von Landwirtschaft? Von Hühnern? Außerdem gehört uns das Grundstück nicht. Irgendwann würde man auf uns aufmerksam werden, und dann kämen Fragen. Und mit den Fragen die Bullen.
Ich wendete meinen Blick ab. Um meine Illusion vollends zu zerstören fügte Dad hinzu: Davon abgesehen böte der Platz deiner Mutter zu viele Gelegenheiten, um Unsinn anzustellen. Eine Farm bedeutet Arbeit, und dann noch gleichzeitig auf deine Mutter aufzupassen, das ginge über meine Kräfte. Auch über deine, und das weißt du.
Ja, das wusste ich. Ich wusste aber auch, dass wir dieses Leben nicht bis ans Ende unserer Tage fortführen konnten. Irgendwann musste etwas schiefgehen.
Dieser Tag brach einen Monat später an.
Ich denke voller Schuldgefühle an diesen verhängnisvollen Tag zurück. Wie ein Anfänger hatte ich das Messer einfach in den Bauch des Liebestrunkenen gestoßen. Er war vornüber zusammengesunken, woraufhin ich ihm einen Stein auf den Hinterkopf schlug. Augenblicklich blieb er ruhig liegen. Ich roch den scharfen Geruch von Urin und stand auf, um Dad anzurufen. Der Ort hieß Tuxington. Selbst ohne das, was geschehen sollte, hätte ich mir den Namen gemerkt, da ich ihn dämlich fand, wie die Erfindung eines wenig phantasiebegabten Comiczeichners.
Alles schien ohne jegliche Schwierigkeiten abzulaufen: Wir luden den schmächtigen Körper in den Caravan, fernab neugieriger Zuschauer, und legten die Messer sowie das Hackbeil zum Tranchieren des frischen Körpers bereit. Mum sang fröhlich irgendein altes Lied, das ich nicht kannte und auch gar nicht kennen wollte, dem banalen Text nach zu urteilen. Ich ging zur Spüle und wusch meine Hände. Auf Hygiene legten wir höchsten Wert, weshalb wir auch die Messer stets mit Alkohol wuschen.
Ich drehte mich um und sah, wie sich Dad über den auf dem Rücken liegenden Mann beugte. Er hielt das Hackbeil in Händen, um den Kopf vom Rumpf zu trennen. Dazu waren mehrere Hiebe erforderlich Knochen waren ganz schön zäh. Als die vermeintliche Leiche begann, wild um sich zu schlagen, dachte ich zunächst, ich befände mich in einem Alptraum. Vor Überraschung ließ Dad sein Werkzeug fallen. Dann traf ihn einer der unkoordinierten Schläge am Kinn und fällte ihn. Mum schrie auf und schlug die Hände vors Gesicht wie ein kleines Kind, das glaubt, es könne die Wirklichkeit ausblenden, indem es nicht hinsieht.
Wie angewurzelt blieb ich stehen und starrte auf das unmögliche Geschehen. Der Mann, dessen Name angeblich Joe war, zog sich am Bettgestell hoch. Dad lag am Boden. Ich konnte nicht erkennen, ob er bewusstlos war.
Immer noch konnte ich keinen Finger rühren und stand einfach nur mit offenem Mund da. Joe schaffte es tatsächlich, auf die Beine zu kommen und hielt sich mit einer Hand die offene Bauchdecke zu, aus der während des Aufstehens etwas Glitschiges rausgeplumpst war. Ein bizarrer, beinahe amüsanter Anblick. Er schrie, torkelte wie betrunken herum, fand die Tür und schlüpfte hinaus in die Nacht. Ich hörte, wie er hart zu Boden krachte, nachdem er die Stufen verfehlt hatte.
Dads Stöhnen riss mich endlich aus meiner Lethargie. Ich schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen, und stürzte zu meinem Vater. Seine Augen waren glasig.
Musst
ihn
schnappen
los, keuchte er, und selbst diese wenigen Worte bereiteten ihm große Mühe.
Bist du verletzt, Daddy?, fragte, nein, schrie ich.
Dad schluckte und schloss kurz die Augen. Nein
los
jetzt.
Hinter uns wimmerte Mum. Von ihr war keine Hilfe zu erwarten. Schließlich nickte ich, stand auf und griff mir das erstbeste Messer. Dann lief ich nach draußen. Und fand mich allein auf weiter Flur stehend. Ich blinzelte: Das konnte doch nicht wahr sein! Offenbar hatte sich Joe irgendwo versteckt. Vielleicht zwischen den Bäumen, hinter einem Gebüsch, oder er hatte ein Erdloch gefunden.
Scheiße, rief ich aus und merkte, wie ich zu zittern begann.
Ich brauchte Licht. Rasch lief ich zum Wagen und riss das Handschuhfach auf. Ich wühlte nicht umständlich darin herum, sondern beförderte den ganzen Inhalt mit einer Handbewegung auf den Beifahrersitz. Es war ein kleines, zylinderförmiges Modell. Ob wir sie je in Gebrauch hatten, vermochte ich nicht zu sagen. Jedenfalls funktionierte sie noch. Erleichtert atmete ich auf und machte mich auf die Suche nach Joe. Wenngleich er schwer verletzt war, hatte er doch den Geländevorteil im Rücken. Wäre all dies einen Monat vorher in Celeste passiert, hätte ich keine Schwierigkeiten gehabt, Francesco in der Einöde aufzuspüren. Aber hier gab es tausende Möglichkeiten für einen Flüchtigen, sich wirkungsvoll zu verstecken.
Halbherzig schritt ich in das Waldstück und leuchtete ein paar Bäume aus. Mein Herz begann zu rasen, als ich mir der Verantwortung, die ich trug, bewusst wurde. Es hing von mir ab, meinen Fehler auszubügeln. Dass es mein Fehler war, wusste ich. Ich war zu nachlässig geworden. Natürlich rechnete niemand damit, dass jemand, der einen Bauchstich erlitten und einen schweren Stein über den Kopf gezogen bekommen hatte, plötzlich wieder aufstand und davon rannte. Aber genau so fing es immer an: Wer hätte denn das ahnen können
Ich spürte, wie mein Mut sank. Es war nicht so sehr die Tatsache des Schlamassels selbst, als vielmehr meine Schuld daran, die mich frustrierte. Um auf den Schuldigen zu zeigen, musste ich mich vor den Spiegel stellen.
In eben jenem frustrierenden Moment blitzte eine Idee in meinem Kopf auf. Ich lief zurück zum Caravan. Mum hockte auf dem Boden und heulte, während Dad immer noch der Länge nach da lag. Sein Anblick schmerzte in meiner Seele, aber ich hatte noch keine Zeit, mich um ihn zu kümmern. Ich musste Joes Portemonnaie in die Finger bekommen.
Wo ist seine Geldbörse?, fragte ich Dad.
Seine Augen waren immer noch trübe und glasig, als sähen sie Dinge, die mir verborgen waren. Was?
Ich atmete tief durch. Wo hast du sein Portemonnaie hingelegt?
Verständnislos starrte er mich an. Quälend langsam verflossen die Sekunden, ehe er endlich sagte: Hintere
Hosentasche.
Ich kniete mich hin und rollte ihn seitwärts. Dad stöhnte auf. Ich fand das Portemonnaie und ließ ihn behutsam zurück auf den Rücken gleiten. Ein Blick zu Mum verriet mir, dass sie auch Dad keine große Hilfe sein würde. Dennoch schrie ich sie an: Kümmere dich um Dad! Versuche nur dieses eine Mal dich nützlich zu machen!
Ich fühlte tatsächlich etwas Zorn in mir, da nun alles an mir zu hängen schien. Während ich nach draußen lief, wühlte ich in Joes Geldbörse. Ich fand seinen Führerschein er wohnte in Freefalls , diverse Visitenkarten, einen Mitgliedsausweis einer Videothek, eine Kreditkarte
und zwei Fotos, die zurechtgeschnitten waren, um in das Portemonnaie zu passen. Das eine zeigte eine nicht gerade attraktive Frau. Das andere ein Kleinkind, das kaum ein Jahr alt sein mochte und mit seinen wenigen Zähnchen in die Kamera gluckste.
Auch ich lächelte. Ich ging davon aus, dass das Foto sein Kind zeigte. Welchen Grund konnte ein junger Mann Anfang zwanzig sonst haben, das Foto eines Babys in seinem Portemonnaie aufzubewahren?
Joe!, schrie ich in die laue Sommernacht hinaus. Ich weiß, dass du mich hören kannst! Und ich weiß, dass du Vater eines Kindes bist!
Ich wartete ein paar Sekunden ab. Dann ging ich ein paar Schritte Richtung Wald. Wenn du nicht her kommst, werde ich mir dein Kind holen! Du wohnst in Freefalls, und ich werde noch heute Nacht zu deiner Wohnung fahren und dein Kind holen! Hörst du?
Nichts. Keine Reaktion. Ich stieg tiefer in das Waldstück hinein. Geäst knirschte wie das Bersten kleiner Knochen unter meinen Schritten. Willst du das? Willst du, dass ich mir dein Kind hole? Nein? Dann komm her!
Ich blieb stehen und ließ den kleinen Lichtkegel zwischen die Bäume gleiten. Ungeheure Macht erfüllte mich. Falls Joe mich hörte, musste er panische Angst vor dieser Macht empfinden, die unberechenbar war. Wie ein Nachtvogel glitt ich auf eiskalten Schwingen durch den Wald. Als stünde ich neben mir, hörte ich mich selber lachen und schreien. Von Joe keine Spur, was mich nur noch wahnsinniger vor Verlangen machte, ihn meine Macht spüren zu lassen.
Was ich Augenblicke später spürte, war ein harter Schlag gegen meine Schulter, gefolgt von einem wütenden Kreischen. Ich krachte zu Boden und fühlte Joes Gewicht auf mir lasten. Glücklicherweise wog er kaum mehr als ich; ansonsten hätte er mich vielleicht erledigen können. Stattdessen drehte ich mich unter ihm weg und verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht. Joe heulte auf, dachte aber nicht daran, erneut zu fliehen. Er wusste, dass er sein Heil nur noch im offenen Kampf suchen konnte und ich meine Drohungen ernst gemeint hatte.
Ich griff die Taschenlampe, die mir beim Sturz aus der Hand gefallen war, und wollte nach dem Messer suchen, da explodierte atemloser Schmerz in meinem Bein. Joe hatte seine Zähne in meine Wade geschlagen! Mit dem anderen Bein trat ich nach ihm und erwischte ihn an der Stirn. Sofort ließ er los und kippte nach hinten auf den modrigen Boden. Ich bohrte den Lichtkegel direkt in seine Augen. Instinktiv drehte er den Kopf weg.
Lass meine Tochter in Ruhe, bitte!, rief er plötzlich.
Etwas in seiner Stimme ließ mich inne halten. Mitleid? Vielleicht.
Dann begann er zu weinen. Sie ist doch erst zwei. Bitte tu ihr nichts.
Ich musterte ihn. Seine rechte Gesichtshälfte sah aus, als wäre er bei einer Blutbeutel-Schlacht frontal getroffen worden. Außerdem war sein Auge geschlossen. An der Stirn konnte ich den Abdruck meiner Schuhsolen sehen. Es war schlichtweg unglaublich, dass er immer noch lebte und sogar fähig war, mich um Gnade zu bitten.
Sie ist doch nur ein Kind, wimmerte er.
Wer ist die Frau auf dem Foto in deiner Geldbörse?, wollte ich wissen.
Ich bemühte mich um eine kalte, schneidende Stimme.
Er schluckte Blut und Rotz hinunter. Jedenfalls dachte ich das, denn ehe ich mich versah, klebte ein ekelhafter Schleimklumpen an meiner Wange. Verstört wischte ich ihn weg und starrte Joe an, der trotz aller Schmerzen ein verzerrtes Lächeln zustande brachte.
Erneut fragte ich ihn nach der Frau, und wieder antwortete er nicht. Wahrscheinlich hatte er den Plafond unerträglicher Qualen immer noch nicht erreicht. Das ließ sich ändern. Ich schob meine Faust in sein Magenloch und
nun ja, ich erfuhr sehr rasch, dass die Frau auf dem Foto seine Freundin Sandra war, und dass ihre gemeinsame Tochter Catherine hieß. Wie eine Sonde ließ ich meine Hand durch seinen Magen gleiten und erntete höchst originelle Vorschläge für unzüchtige Freizeitgestaltungsmöglichkeiten.
Ich beeilte mich nicht, mich bis zur Brust vorzuarbeiten. Als ich es geschafft hatte, war er tot. Diesmal war ich mir sicher, denn ich hielt sein Herz in meiner Hand.
Dad hatte einen Herzinfarkt erlitten. Aber er verbat mir, den Notarzt zu rufen. Sie würden
zu vieles finden.
So wenig es mir gefiel: Er hatte Recht. Selbst mit einer Woche Vorbereitungszeit hätten wir uns keine geeignete Lügengeschichte zurechtlegen können. Und selbst wenn: Die Bullen hätten Mum bloß ein wenig auf den Zahn fühlen müssen und dann wäre sie mit der ganzen Wahrheit herausgerückt. Wahrheit
was für ein Wort! Für die meisten Menschen hätten wir wohl abartige Bestien dargestellt. Aber waren wir das tatsächlich? Worin unterschieden wir uns von Nomaden, die ihre Zelte überall dort aufschlugen, wo sie ihrer Beute nahe waren?
Immerhin hatte ich keinen der Männer jemals gezwungen mitzukommen. Sie kamen freiwillig. Und manchmal dachte ich sogar, dass sie es so wollten.
Dad hustete heftig, wobei sich ein paar Tropfen Blut unter den Schleim mischten. Hilflos starrte ich ihn an. Was kann ich denn tun, Daddy?
Er atmete tief ein. Hör mir zu
Victoria
ist etwas
du wissen musst.
Nachdem er mir erzählt hatte, was ich wissen sollte, wich jegliche Farbe aus meinem Gesicht. Einen Augenblick lang wurde mir sogar schwarz vor Augen und ich fürchtete, ohnmächtig auf seinen reglosen Körper zu fallen. Das ist nicht wahr!
Ich packte seinen Arm und drückte zu. Sag, dass das nicht wahr ist!
Tut
leid
wahr, krächzte er und der glasige Blick wurde immer trüber, als wären es Milchglasscheiben, durch die er hindurch blicken musste.
Mum hockte derweil stumm in der Ecke und hatte ihr Gesicht in die Knie vergraben. Ich glaube, sie befand sich in einem katatonischen Zustand, denn weder bewegte sie sich, noch stieß sie irgendwelche Laute aus.
Verzweifelt sah ich ihn an. Was soll ich tun? Sag mir, was ich tun soll!
Geh.
Ich schüttelte vehement den Kopf.
Rette
dich
Vic
toria.
Ich blieb. Selbst dann noch, als er längst nicht mehr atmete. Das war ich ihm schuldig, obwohl er nicht mein Vater war.
Wer sie tatsächlich waren, habe ich erst aus der Zeitung erfahren. Natürlich hatte ich Dads Namen gekannt schließlich kannte ich seinen Führerschein -, doch ich hatte nicht ahnen können, dass er gar nicht mit Mum verheiratet gewesen war. Das heißt: Mit jener Frau, die ich als meine Mutter betrachtet hatte. Für mich werden sie dennoch Mum und Dad bleiben.
Die Sensationspresse überschlug sich mit immer neuen Fakten und Vermutungen. Nachdem die Bullen den Straßenatlas gefunden hatten, in welchen alle Orte, an denen wir schon mal gewesen waren, gekennzeichnet waren, fiel ihnen die Verbindung zu verschwundenen Personen in diesen Orten rasch auf. Je nach Zeitung schwankten die Opferzahlen zwischen fünfzig und bis zu hundert. Ein besonders scharfsinniger Journalist schrieb, es sei nicht auszuschließen, dass die tatsächliche Opferzahl bei weit über hundert läge.
Später lief ein Bericht auf Fox. Darin zeigten sie Fotos von Mum und Dad aus deren Kindheit und Jugend. Erstaunlicherweise habe ich eine gewisse Ähnlichkeit mit Mum. Angeblich hatte sie in ihrer Jugend zwei Fehlgeburten erlitten, woraus die Journalisten ein Trauma ableiteten, das sie zu den abscheulichen Taten veranlasst habe.
Von Dad hatten sie nicht viel in Erfahrung bringen können: Gut in der Schule, introvertiert, Typ: Netter Junge von nebenan.
Ich wurde nur an einer Stelle eher zufällig erwähnt: Eine ältere Frau glaubte sich erinnern zu können, dass sie die Bestien in Begleitung eines jungen Mädchens gesehen habe. Der Reporter ging jedoch nicht näher darauf ein.
Jedenfalls baten die lokalen Polizeibehörden sowie das FBI um Hinweise aus der Bevölkerung, die Bestien und ihre lange Blutspur betreffend.
Was mich betrifft, so war ich die Tochter eines ihrer ersten Opfer. Wie ich von Dad im Caravan erfuhr, hatte ich im Zimmer nebenan geschlafen, als sie in das Haus eingedrungen und meine leibliche Mutter verschleppt hatten. Mum war, aus welchen Gründen auch immer, noch einmal ins Haus zurückgegangen und hatte mich leise weinen gehört.
Dad sagte, er wäre wütend gewesen, als sie mit mir in den Armen in ihren damaligen Wagen gesprungen war. Aber er hatte mich mit der Zeit lieb gewonnen und alles daran gesetzt, mir ein gutes Leben zu bieten, soweit es in seinen Kräften stand.
Ich kann mich an meine richtige Mutter nicht mehr erinnern, was nur beweist, wie liebevoll sie mich adoptiert hatten. Wäre mein Leben im Waisenhaus und bei offiziell anerkannten Pflegeeltern besser verlaufen? Das werde ich nie erfahren. Auf jeden Fall hätte ich es schlechter treffen können. Sie haben mich nie geschlagen oder angebrüllt.
Wie sehr ich sie doch vermisse
Aber das Leben geht weiter. Obwohl jene Nacht, die meine kleine Familie auseinander riss, zehn Jahre her ist, denke ich immer noch an Mum und Dad. Manchmal spiele ich mich mit dem Gedanken, Mum im Gefängnis zu besuchen. Aber wahrscheinlich ist es besser, mich mit angenehmen Erinnerungen zu begnügen, wiewohl ich meiner Leidenschaft für Amélie-Romane immer noch fröne.
In einem Roman heißt es: Keine Kraft ist stärker als die Liebe.
Und das stimmt: Ich habe erfahren, wie stark die Bande zwischen Eltern und ihrem Kind sein kann.
Wie glücklich ich mich schätzen kann, diese Liebe genießen zu dürfen.
Gute Nacht, Catherine! Ich liebe dich.
18. Apr. 2008 - Rainer Innreiter
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