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Experiment 23
von Damian Wolfe

Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
„Ich kann die Toten sehen, wissen Sie? Seit dem Unfall kann ich das. Na ja, eigentlich sehe ich eher das, was von ihnen übrig bleibt, wenn die Körper nicht mehr funktionieren. Und natürlich sehe ich auch nicht alle Toten. Nur die, die hier geblieben sind, weil sie noch etwas zu erledigen haben.“
Die beiden Männer in den makellos weißen Kitteln sahen sich an. Der Kleinere hob die Augenbrauen, als wollte er damit ein geheimes Zeichen aussenden. Dann schenkten sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem untersetzten, älteren Mann, der nur mit einer mausgrauen Unterhose bekleidet auf dem Untersuchungstisch saß und die Beine baumeln ließ.
„Das ist … interessant“, sagte der größere Kittelträger. „Bitte, erzählen Sie doch weiter, Mister … Robins, nicht wahr?“
Robins nickte, was sein schlecht rasiertes Doppelkinn in Schwingung versetzte.
„Gern, Doktor. Was wollen Sie denn wissen?“ Robins strahlte die Kittelträger mit leuchtenden Augen und einem zahnlückenhaften Grinsen an.
„Was machen sie denn, die … Toten?“ Der größere Kittelträger bemühte sich darum, so ermunternd wie möglich zu klingen.
„Einige gehen ein letztes Mal einkaufen, andere besuchen ihre Familien, wieder andere versuchen, ihr Haus noch zu Ende zu bauen oder sich für ein Unrecht zu rächen, das ihnen angetan wurde.“ Robins zuckte mit den Schultern. „Was immer sie eben vor ihrem Ableben noch unbedingt erledigen wollten.“
„Aha“, antwortete der größere Kittelträger, der sich die ganze Zeit über Notizen machte. „Nun gut, Mister Robins, warum legen Sie sich nicht schon hin?“ Er hatte sein Vertrauen erweckendstes Medizinerlächeln aufgesetzt. „Doktor Brown und ich müssen noch einige … Unterlagen konsultieren. Danach können wir mit der Untersuchung beginnen.“
Robins nickte gehorsam und schwang seine Beine, die im Vergleich zum restlichen Körper viel zu dürr wirkten, auf den Untersuchungstisch, verschränkte die Hände auf seinem vorstehenden Bäuchlein und starrte an die weiß getünchte Decke.
Ohne ein weiteres Wort verließen die beiden Kittelträger das nach scharfem Putzmittel riechende Untersuchungszimmer und schlossen die Tür hinter sich. Der Gang war leer – an beiden Enden von als Pfleger verkleideten Sicherheitsbeamten unauffällig abgesperrt.
„Und, was denken Sie, Brown?“
Brown zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Vermutlich nur ein weiterer Irrer in dieser verrückten Stadt.“ Er fischte in seinem Kittel nach einer Packung Kaugummi und schob sich einen in den Mund. „Auch einen, Malkovic?“
Malkovic schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand über sein angegrautes Haar.
„Ich glaube nicht, dass es so einfach ist.“
„Weshalb nicht?“, fragte Brown schmatzend.
„Sie vergessen, dass er Teilnehmer an Experiment 23 war.“
„Ich weiß. Patient … 197, richtig?“
„197b“, korrigierte Malkovic kühl und beobachtete, wie jegliche Farbe aus dem Gesicht seines Kollegen wich.
„b?“, fragte Brown ungläubig.
Malkovic nickte.
„Das heißt, er …“
„… ist aus gesundheitlichen Gründen aus der Versuchsreihe ausgeschieden, ja.“
„Nähere Angaben?“
„Das Übliche“, antwortete Malkovic und versenkte die Hände in den weiten Taschen seines Kittels. „Kopfschmerzen, Wahnvorstellungen – wie die meisten b-Patienten.“
„Aber das Implantat hat man doch entfernt, oder?“ Erst jetzt dachte Brown wieder daran, seinen Kaugummi zu bearbeiten.
„Nein“, seufzte Malkovic. „Irgendeine Komplikation. Die Unterlagen geben keine genaue Auskunft.“
„Also hat er das Ding noch in seinem Schädel.“ Die Farbe, die eben erst in Browns Gesicht zurückgefunden hatte, wich erneut.
„Sieht so aus.“
Brown starrte an seinem Kollegen vorbei den mit kaltem Neonlicht beleuchteten Gang hinunter. Zeigefinger und Daumen zupften nervös an seiner Unterlippe, während der Kaugummi in seinem Mund die Auswirkungen der angestrengten Überlegungen zu spüren bekam.
„Was war das mit diesem Unfall?“, fragte er schließlich.
„Gemäß den Unterlagen seines Hausarztes wurde er von einem Wagen angefahren“, dozierte Malkovic, als habe er die ganze Zeit nur darauf gewartet, sein gesammeltes Wissen loswerden zu können. „Nichts Schlimmes, nur ein paar Schrammen. Seither klagt er aber über Kopfschmerzen und behauptet, die Toten sehen zu können. Sein Hausarzt hat ihn hierher überwiesen, damit man sich das genauer ansehen kann. Natürlich hat der Krankenhauscomputer gleich Alarm geschlagen, als sein Name aufgetaucht ist. Deswegen sind wir hier.“
„Kann es sein, dass der Unfall das Implantat wieder aktiviert hat?“
„Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.“
„Das würde zumindest die Totengeschichte erklären“, murmelte Brown. „Das Ding muss raus, so oder so.“
Malkovic nickte. Offensichtlich war auch er längst zu diesem Schluss gekommen.
Brown klaubte ein Mobiltelefon aus der Tasche seines Kittels, drückte eine Kurzwahltaste und drehte sich um.
„Jones? Brown hier. Medizinischer Notfall. Wir brauchen eine CT, einen Operationssaal und falsche Unterlagen. Ja, das komplette Programm. Dringend. Okay.“
Das Telefon verschwand wieder im Kittel, als Brown sich umdrehte und eine ausladende Bewegung machte.
„Nach Ihnen, Doktor Malkovic“, sagte er, ohne die leichte Nervosität in seiner Stimme unterdrücken zu können.
Robins – Patient 197b – lag noch immer in derselben Position, in der sie ihn verlassen hatten. Geduldig hielt er die Zimmerdecke in seinem Blick. Nur am Auf und Ab seines Bäuchleins war zu sehen, dass er noch lebte.
„Mister Robins?“, begann Malkovic, als sie den Untersuchungstisch erreicht hatten.
Robins drehte den Kopf, so dass er die beiden Ärzte ansehen konnte, doch er antwortete nicht.
„Mister Robins, wir werden jetzt einige Routineuntersuchungen machen. Und wenn alles in Ordnung ist – wovon wir ausgehen –, sind Sie im Nu wieder zu Hause.“
„Okay, Doktor, klar“, antwortete Robins ruhig. „Machen Sie nur. Sie werden schon wissen, was zu tun ist.“
„Das tun wir.“ Malkovic konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Sofort begann Malkovic damit, den Hals des Patienten abzutasten, den Puls zu fühlen, mit einem Stethoskop den Herzschlag zu kontrollieren. Dabei gab er nach jedem Schritt medizinische Fachausdrücke und Zahlen von sich, die Brown pflichtgemäß notierte. Schließlich leuchtete Malkovic mit einer kleinen Stablampe in Robins’ Augen und stutzte.
„Doktor Brown?“
Brown steckte seinen Notizblock weg und beugte sich vor.
„Was halten Sie davon?“
Wieder leuchtete Malkovic in die mittlerweile rot geäderten Augen von 197b.
„Eine leichte Trübung“, murmelte Brown. „Dazu unkontrollierte Reflexbewegungen der Pupillen. Leiden sie oft unter Kopfschmerzen, Mister Robins?“
„Fast täglich. Ist etwas nicht in Ordnung? Doktor?“ Die Furcht vor der Antwort war Robins deutlich anzuhören.
„Das können wir so nicht genau sagen“, übernahm Malkovic wieder das Kommando. „Es könnte sein, dass Sie an den Nachwirkungen eines Schädeltraumas leiden, was Ihre Kopfschmerzen erklären würde.“
„Aber mein Hausarzt meinte doch …“
„Ihr Hausarzt, Mister Robins, verfügt nicht über die Mittel, wie wir Sie hier haben. Vertrauen Sie uns, Sir, wir wollen nur sichergehen, dass alles in Ordnung ist.“
Robins stemmte sich in eine sitzende Position und fuhr mit den Fingern durch sein schütteres Haar. Er schien zu verarbeiten, was Malkovic ihm gerade eröffnet hatte. Sein Blick wechselte zwischen Brown und Malkovic hin und her, bevor sich seine Augen weiteten und er seine Stirn in Falten legte.
„Da ist wieder einer“, stellte er mit belegter Stimme fest.
„Was meinen Sie?“, fragte Malkovic.
„Ein Toter. Da ist wieder einer.“
„Sehen Sie, Sir, genau deswegen sollten wir jetzt weiterführende Untersuchungen machen.“
„Das wird die Toten nicht vertreiben“, beharrte Robins.
„Da sind keine wandelnden Toten, Sir“, schaltete sich Brown beruhigend ein. „Ich bin sicher, wenn ich mich jetzt umdrehe, ist da nichts als ein …“

„… aus einem Fenster im 17. Stock des Krankenhauses. Beide Ärzte waren auf der Stelle tot. Ein Sonderkommando der Polizei nahm den 59-jährigen Steuerbeamten Timothy Robins fest, der sich zur Tatzeit als einziger mit den Ärzten im Untersuchungszimmer befand. Ein psychologisches Gutachten soll nun Aufschluss über Robins’ Zurechnungsfähigkeit geben, der den Beamten unentwegt versicherte, dass ein Toter die Ärzte aus dem Fenster geworfen habe. Ich bin Janet Wilkox für Kanal-13-News, guten Abend.“

19. Mai. 2008 - Damian Wolfe

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