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Der Komplett-Sammler von Rainer Innreiter
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Francine war auf angenehme Weise von Cole Bannister überrascht: Der Mann machte keinen völlig durchgeknallten Eindruck, wie sie es erwartet und auch befürchtet hatte. Ganz im Gegenteil wirkte er sympathisch und trug mondäne, gepflegte Straßenkleidung. Seit sie die berüchtigte Katzen-Lady für ihre letzte Reportage vor einer Woche interviewt hatte, wusste sie halbwegs normale Kleidung zu schätzen. Francine hatte die ganze Zeit über die eng anliegende Stretchinghose der alten Dame angestarrt und sich gefragt, wann sie wohl platzen würde wie die Haut eines Würstchens, das zu lange im Wasserbad gesiedet worden war.
Ihre Interviewpartnerin selbst hatte ihren entsetzten Blick nicht bemerkt, sondern endlos über die Aufzucht und Pflege von Katzen geschwafelt, sowie über die Schwierigkeiten, Futter für etwa achtzig Miezen aufzutreiben. Während des zweistündigen Gesprächs war sich Francine über zwei Dinge klar geworden: Diese Frau hatte gepflegt einen an der Waffel, und wenn sie noch fünf Minuten länger in dieser nach Katzenpisse, Thunfischstückchen und ausgewürgten Haaren stinkenden Bruchbude verbringen musste, würde sie ohnmächtig umkippen und ersticken.
Letztendlich hatte sie es doch noch an die frische Luft geschafft und sich im nächstgelegenen Starbucks den stärksten Kaffee bestellt, der erhältlich war.
Sie müssen Miss, äh,
, riss sie Bannister unverwandt aus ihren Gedanken.
Jordan. Francine Jordan, ergänzte sie und schüttelte seine Hand.
Miss Jordan, natürlich. Verzeihen Sie, aber ich kann mir einfach keine Namen merken.
Sie lächelte nachsichtig und folgte ihm in die Wohnung. Das Apartment lag abgeschieden in einem der ruhigeren Viertel der Stadt, das nicht tagsüber vom Geschrei der Jugendlichen und nachts vom Geheul der Polizeisirenen erfüllt war.
Es roch nach Fichtennadeln ein Geruch, den sie beruhigend empfand. Automatisch wanderte ihr Blick über die gerahmten Bilder, die den Flur säumten.
Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten?
Es war ein drückend schwüler Juni-Tag und sie war Cole für das Angebot höchst dankbar. Das wäre nett.
Orangensaft?
Ja, bitte.
Er verschwand in der Küche. Sie hörte das Klirren von Gläsern, während sie der Reihe nach die Bilder betrachtete. Es waren Illustrationen diverser Bücher. Aus welcher Ausgabe sie stammten, zeigten handgeschriebene Vignetten, die jeweils am unteren Rahmen klebten.
Manche Bilder waren durchaus hübsch anzusehen und zeugten von hohem Kunstverständnis des Zeichners. Aber die meisten beschränkten sich auf die bloße Zurschaustellung von Scheußlichkeiten oder Monstren.
Wie finden Sie sie?, fragte Cole und drückte ihr ein Glas in die Hand, während er selber an einem Bier nippte.
Beinahe hätte sie ihm die Wahrheit gesagt, nämlich, dass sie die meisten ganz einfach abstoßend fand in ihrem Bestreben, dem Beobachter möglichst viel nacktes, gequältes Fleisch zu präsentieren. Aber wenn man ein ergiebiges Interview führen wollte, musste man auch mal zu Lügen und schalen Schmeicheleien greifen.
Interessant, sagte sie und trank das halbe Glas leer.
Erst jetzt merkte sie, welchen Durst sie gehabt hatte.
Ehrlich gesagt mache ich mir nicht viel aus Bildern, merkte Cole an. Ich bin leidenschaftlicher Leser. Diese Illustrationen sind nur Ergänzungen meiner Sammlung. Dennoch gibt es eine, auf die ich besonders stolz bin: Diese hier.
Er ging ein paar Schritte und zeigte auf ein Bild, das zwei Skelette unter einem Vollmond beim Kampf gegen ein stiernackiges Muskelpaket zeigte, das abgesehen von einer zerlumpten Hose mindestens genauso nackt wie seine Angreifer war. Auf eine ironische Weise wirkte die Szene rührend lachhaft.
Jess Ferry persönlich hat sie für seinen letzten Roman angefertigt. Es erschien als Frontcover und das Original hat er mir als seinem größten Fan geschenkt.
Aus Coles Stimme erklang unverhohlener Stolz.
Francine machte Notizen in ihr Buch. Jess Ferry.
Der Mann nickte ihr eifrig zu. Ich besitze die Erstausgaben der Dämonenritter-Trilogie, natürlich signiert.
Scharf sog sie Luft zwischen den Lippen ein. Wissen Sie, ich lese ehrlich gesagt diese Art Literatur nicht.
Er warf ihr einen Blick zu, der alles Mögliche bedeuten konnte: Von blankem Entsetzen bis hin zu Verärgerung. Jess Ferry hat die Horror-Literatur unglaublich bereichert. Leider wird er außerhalb des Fandoms kaum beachtet, weil die offizielle Literaturkritik die Phantastik nach wie vor nicht einmal mit dem Schürhaken berührt, als wäre sie eine ansteckende Krankheit.
Francine mahnte sich zur Vorsicht und fügte beschwichtigend hinzu: Ich lese ehrlich gesagt nicht viel. Wenn man Reporter ist, genießt man seine Freizeit lieber mit anderen Arten der Zerstreuung.
Sie merkte, wie Cole zufrieden aufatmete. Sein Gesicht wurde deutlich entspannter. Das verstehe ich. Wissen Sie, unsereins wird oft als Spinner angesehen, oder gar als gemeingefährlicher Psychopath, nur, weil man gerne Geschichten über Menschenfresser oder Geister liest.
Francine trank das Glas zur Neige. Cole nahm es ihr ab und stellte es auf eine Kommode, die anscheinend als Postablage diente. Mehrere Umschläge und ein in Packpapier eingeschlagenes Paket stapelten sich darauf. Cole bemerkte ihren Blick.
Ich muss meine Sammlung unablässig erweitern, um sie so komplett wie nur möglich zu erhalten. Das geht ganz schön ins Geld, selbst für einen wohlhabenden alten Geck wie mich.
Er lächelte auf so jungenhafte Weise, dass sie es erwidern musste.
Kommen Sie! Ich zeige Ihnen die Bibliothek.
Sie folgte ihm und nutzte die Gelegenheit für weitere Fragen.
Wann er zu sammeln begonnen habe? Vor zwanzig Jahren.
Welches sein wertvollstes Sammelobjekt sei? Nur Geduld, er würde es ihr später zeigen.
Ob er Platzprobleme habe? O ja. Er würde bald seine weniger wertvollen Stücke in eines der beiden Gästezimmer auslagern müssen.
Die Bibliothek verschlug ihr fast die Sprache. Ihr war natürlich sein Ruf als größter Sammler von Horrorliteratur in New Jersey, ja, vielleicht sogar in den Staaten bekannt gewesen. Aber das hier reichte weit über ihr Vorstellungsvermögen hinaus. Der Raum war riesig und musste mindestens die Hälfte des gesamten Apartments verschlingen, das gut und gerne die Länge eines Footballfelds aufwies und zweistöckig war. Die Regale reichten vier oder fünf Meter in die Höhe, also bis ins obere Stockwerk hinauf. Alle Wände waren mit Regalen bestückt, und selbst zwischen den Wänden standen Regale, die, wie in einer Bücherei, nur einen schmalen Durchgang freiließen.
Cole nahm ihr fassungsloses Erstaunen mit Befriedigung auf.
Und das alles sind Bücher aus dem Horrorbereich?, fragte sie und zwang sich, nicht wie ein Groupie beim Anblick des Objekts seiner Besessenheit in Ehrfurcht zu erstarren.
Ja. Romane und Anthologien in dutzenden Sprachen und Ausgaben. Jahresbände, seltene Übersetzungen, Fan-Zeitschriften, die für mich Relevanz besitzen, und vieles mehr.
Sie trat an eines der Regale und las die Autorennamen. Jerry Baker, Kim Baker. Haben Sie die nach Autorennamen sortiert?
Natürlich, sagte Cole und stieß ein meckerndes Altmännerlachen aus. Wie sollte ich denn sonst ein bestimmtes Buch wiederfinden?
Francine schalt sich eine Idiotin: Was für eine dämliche Frage das doch gewesen war! Allerdings musste sie zugeben, völlig überwältigt zu sein. Diese Sammlung war beeindruckend!
Menschen wie die Katzen-Lady oder dieser Typ aus Trenton, der es sich zum Ziel gemacht hatte, sinnfreie Rekorde aus dem Guinness Buch zu brechen, fielen höchstens durch ihre offen zur Schau gestellte Gier nach dem Licht der Öffentlichkeit auf.
Das hier jedoch war auf wahrhaftige Weise monumental. Hier hatte sich jemand gezielt ein Denkmal zu Lebenszeiten gesetzt.
Wie viele Bücher sind das?
Etwa siebzigtausend, gab Cole ruhig zu Protokoll und sie notierte mit zitternden Fingern die schwindelerregende Zahl.
Der Wert muss ja in die Millionen gehen, sagte sie mit dünner Stimme.
Cole tippte sachte gegen ein Buch, das in Augenhöhe stand. Sie sah, dass es noch in Folie eingeschweißt war. Les aventures de Monsieur Bachmann. Die französische Ausgabe eines englischen Horror-Krimis. Das Besondere daran ist, dass es sich um einen Fehldruck handelt. Weltweit wurden nur achtundneunzig Stück ausgeliefert, ehe der Irrtum bemerkt und der Verkauf gestoppt wurde. Ich besitze zwei davon. Und das hier
Er zeigte auf einen seltsam glänzenden Buchrücken. Das hier ist eine in Aluminium gebundene Ausgabe von Stephen Kings Firestarter. Neunundneunzig Stück Auflage, dank meiner Beziehungen und Auktionshäuser besitze ich vier davon. Das gute Stück wird um etwa viertausend Dollar in Fankreisen gehandelt. Aber das alles ist noch gar nichts gegen meine wirklich wertvollen Sammlerstücke.
Ihr schwirrte immer noch der Kopf: Wirklich wertvoll? Welche Steigerung könnte es denn hierzu noch geben? Die handgeschriebenen Manuskripte von Edgar Allen Poe?
Das wird Sie interessieren. Kommen Sie, Miss Jordan.
Sie stiegen die Treppe hoch und betraten einen Raum, der im Vergleich zur Bibliothek von bescheidener Größe wirkte. Das hier sind einige meiner Unikate.
Das Zimmer war angefüllt mit Vitrinen und Schaukästen, die das Licht der Neonröhren reflektierten.
Hier zum Beispiel ist eine Serviette, auf die Frank McDonald in einem Schnellimbiss eine Plotidee aufschrieb. Und hier eine Kopie des nie veröffentlichten Debütromans von Kate Linn. Um das Original habe ich mich vergeblich bemüht. Oh, und das hier
Er sprang von einem Ausstellungsstück zum Nächsten. Unmöglich, ihm zu folgen. Schließlich zog sie die Notbremse. Mister Bannister, bitte.
Cole blieb überrascht stehen und sah sie stirnrunzelnd an. Er schien nicht zu verstehen, weshalb sie völlig überfordert war, als er sagte: Was haben Sie denn?
Mir geht das zu schnell. Das sind unglaublich viele Eindrücke auf einmal, wissen Sie?
Sein Mund formte ein O. Dann endlich begriff er und lachte. Entschuldigen Sie! Ich gerate einfach ins Schwärmen, wenn es um meine Lieblinge geht.
Francine atmete ein paar Mal tief durch. Sie erinnern mich ein bisschen an Keith Laren. Der hatte ein ähnliches Temperament wie Sie.
Plötzlich schien Cole zur Salzsäule zu erstarren.
Keith Laren? sagte er, nachdem er lange geschwiegen hatte. Der Schriftsteller Keith Laren?
Die Reporterin nickte. Ja. Ich habe ihn vor
warten Sie
das muss letzten Oktober gewesen sein, interviewt.
Coles Mimik verzerrte zu einer Fratze. Aber
der gab doch so gut wie nie Interviews!
Die junge Frau lächelte. Schön, dass sie es auch mal schaffte, ihn in Erstaunen zu versetzen.
Stimmt. Das war das erste Interview seit über zwanzig Jahren, und bedauerlicherweise auch sein letztes. Haben Sie es denn nicht gelesen?
Cole schüttelte den Kopf. Er wirkte unglücklich. Ich lese keine Zeitungen. Steht ja doch nur Unsinn drinnen. Haben Sie persönlich mit ihm gesprochen?
Ja. Er war von seiner Krankheit bereits sehr geschwächt. Ein Bekannter hatte ihm dazu geraten, vor seinem Ableben mit all den falschen Behauptungen und Gerüchten über ihn aufzuräumen. Ich war natürlich überglücklich, dass er ausgerechnet mich für ein Interview ausgewählt hatte. Anfangs war er äußerst reserviert und antwortete nur zögernd. Aber am Ende des Interviews hat er sich sogar mit einem freundschaftlichen Händedruck von mir verabschiedet.
Sie legte eine kurze Pause ein und blickte betroffen zu Boden. Er war schon dermaßen geschwächt, dass ich seine Hand kaum gespürt habe. Es war, als drückte man einen Wattebausch. Zwei Tages später war er tot.
Mein Gott, sagte Cole tonlos. Ich bemühe mich seit vielen Jahren vergebens um ein
ein Unikat
und Sie waren sogar bei ihm zu Hause.
Cole lehnte sich gegen die Wand und betrachtete seine Hände. Was für ein unglaubliches Glück muss es sein, diesem Genie den Staub von den Füßen küssen zu dürfen.
Er wirkte erschüttert wie ein Kind, dem man gestanden hatte, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gab.
Alles in Ordnung, Mister Bannister?, fragte sie besorgt.
Nach einer Weile nickte er und stieß sich von der Wand ab. Ja. Das heißt, eigentlich nicht. Kommen Sie, ich zeige Ihnen nun meine tatsächlich wertvollsten Stücke.
Sie betraten den nächsten Raum.
Noch ehe die Neonröhren zu flackern aufhörten und beständig Licht spendeten, hatte sie ihr Buch und den Bleistift fallen gelassen. Nichts hatte sie auf diesen Anblick vorbereiten können. Zur Linken schwammen Organe in mit Flüssigkeit gefüllten Gläsern, an der gegenüberliegenden Wand starrten menschliche Totenköpfe ins Leere. Der Gipfel des Schreckens war eine nackte Männerleiche, die in einem riesigen Wassertank zu schweben schien wie ein Astronaut in der Schwerelosigkeit.
Phil Andrews, erklärte Cole nonchalant. Kein besonders guter oder berühmter Horror-Schriftsteller, aber ich konnte einfach nicht widerstehen, sein Grab auszuheben, da er auf einem Friedhof ganz in der Nähe bestattet wurde.
Sie schlug die Hände vor den Mund um nicht zu schreien. Noch klammerte sie sich an die Hoffnung, dass dies ein geschmackloser Scherz war. Aber Cole machte nicht den Eindruck jener Sorte Mensch anzugehören, die derart makabre Witze zelebrierte.
Die Schädel habe ich auch ausgegraben, und die Organe habe ich sozusagen unter der Hand bekommen. War ganz schön teuer und riskant, aber ob man sie nun verbrennt oder aufbewahrt, was für einen Unterschied macht das für den Operierten oder Obduzierten?
Sie wankte ein paar Schritte zurück, bis sie gegen das Treppengeländer stieß.
Geht es Ihnen nicht gut?
Sie schluckte hart einen Brocken Übelkeit hinunter. Ich
muss
jetzt gehen.
Habe ich Sie erschreckt?, wollte Cole wissen. Das lag nicht in meiner Absicht.
Sie bemühte sich um ein halbwegs gefasstes Lächeln, brachte aber nur ein gequältes Grinsen zustande. Nein. Danke für
das Interview.
Aber es gibt noch so vieles, was ich Ihnen erzählten könnte!
Das nächste Mal, ja?, sagte sie rasch und ging Richtung Treppe.
Sie erreichte nicht einmal die erste Stufe.
Sie müssen Verständnis für meine Situation haben, sagte Cole und blickte auf sie hinab.
Gerne hätte sie etwas erwidert, aber ihr Mund war geknebelt und sie brachte nur grunzende Geräusche zustande.
Cole blies kurz in die Latexhandschuhe, ehe er sie anzog. Keith Laren ist der einzige bedeutende zeitgenössische Horrorautor, von dem ich weder eine Widmung, noch ein Fitzelchen persönlichen Eigentums erhalten habe. Sie müssen doch zugeben, dass eine nicht komplette Sammlung wenig Sinn macht. Ein Philatelist zuckt ja auch nicht die Achseln, wenn ihm eine wichtige Briefmarke noch fehlt, die seine Sammlung lückenlos ergänzt. Ähnlich geht es mir auch. Eine unvollständige Sammlung ist wertlos.
Er beugte sich mit der Säge über sie. Das Blatt schien im gleißenden Licht zu zwinkern.
Dann packte er ihr Handgelenk, jenes Unikat, das Keith Laren zwei Tage vor seinem Tod berührt hatte, und begann mit der Arbeit.
03. Jun. 2008 - Rainer Innreiter
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