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Liberty Hatfield
von Christoph Marzi

Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla3d.de/
Michael Dubois mochte weder die Highschool noch die Schüler, die deren Gänge füllten. Er hasste den Geruch in der Schule, die kahlen Böden, das Klappern der Spinde und den Lärm auf dem Schulhof. Er hasste auch die meisten seiner Kollegen, den zähen Verkehr auf der Edgwood Avenue, die Abgase, die Downtown verpesteten. Er konnte es nicht leiden, wenn jemand freundlich zu ihm war, denn meist lauerte eine versteckte Absicht hinter dieser geheuchelten Freundlichkeit. Er hasste es, am Morgen in den Spiegel zu sehen. Er hasste sein Gesicht, das einmal kantig gewesen war, und er hasste die Träume, deren vage Schatten ihm noch manchmal in den Augen schwammen. Ja, das war es, wofür er auch die meisten seiner Schüler hasste. Er hasste sie, weil sie jung waren und ihr Leben noch wählen konnten. Am meisten von allen aber hasste Michael Dubois den bleichen Schüler aus 9C. Liberty Hatfield, so hieß der Kerl. Er trug altmodische schwarze Kleidung, die ihn noch bleicher aussehen ließ, als er es ohnehin schon war. Er war so dünn wie ein Streichholz und, das gestand sich Michael Dubois nicht gerne ein, höchst talentiert, wenn es um den Umgang mit Texten ging.
Ja, Liberty Hatfield war ein wirklich guter Schreiber, und darüber hinaus auch noch ein guter Sportler. Auch dafür wurde sie von Michael Dubois gehasst. Konnte es etwas Schlimmeres geben für jemanden, der damals als der beste Quaterback in der Geschichte der Schulmannschaft gefeiert worden war und sich in seiner Jugend eine Schriftstellerkarriere mit Ruhm, Ehre und allem, was sonst noch dazugehört, gewünscht hatte (ganz zu schweigen von einem Leben als Football-Spieler in der Liga – meine Güte, er wäre ein richtiger Bestsellerautor und ein Spitzensportler geworden, so was gab es nur selten). Ja, das alles hatte er sich vorstellen können und wäre das alles nicht besser gewesen, als sein Leben hier in dieser dreckigen Highschool verbringen zu müssen? Was war schlimmer als Jahr um Jahr zu sehen, wie Schüler kamen und gingen und niemand, aber auch wirklich niemand von diesen Gestalten das Verständnis für Literatur mitbrachte, das Michael Dubois höchst selbst besaß, ganz zu schweigen vom Biss, der einen Sportler auszeichnete, und von der Körperbeherrschung, für die er damals in seiner Schulmannschaft so berühmt geworden war?
Gab es etwas Schlimmeres als zu erkennen, dass dieser abgemagerte Kerl in schwarzen Klamotten mit einem Talent gesegnet war, dass er selbst nie besessen hatte?
Ja, Michael Dubois hasste Liberty Hatfield, weil er all das war, was er selbst nicht mehr war. Weil er all das war, das Michael Dubois nie geworden war.
Er war nicht mehr jung und kantig und durchtrainiert, er hatte noch nie so gut schreiben können und er hatte keine Zukunft mehr vor sich. Die Druid Hill Highschool war die Endstation, so einfach war das.
Seit mehr als zwanzig Jahren unterrichtete Michael Dubois die Fächer Englisch und Sport.
In dieser langen Zeit scheiterten zwei Ehen und zahlreiche Beziehungen und am Ende interessierte sich niemand wirklich für das, was er tat. Er schrieb kunstvolle Kurzgeschichten, die niemand las, und schlechte Rezensionen bei den Online-Buchhändlern, die ihn zumindest schon zweimal zum Rezensenten des Monats gekürt hatten. Michael Dubois hatte schon immer gewusst, was man im Leben alles falsch machen konnte.
Und jetzt?
Seit einem Jahr musste er Liberty Hatfield unterrichten. Dummerweise war es nicht einfach, dem Kerl schlechte Bewertungen zu verpassen. Michael Dubois hatte das junge Talent schon in der ersten Stunde identifiziert. Er wohnte in der Ponce de Leon Avenue, seine Eltern konnte nur White Trash sein, allein schon der Name! Der Gedanke, dass aus diesem Typen einmal ein Schriftsteller oder gar ein Sportler werden würde, war unerträglich für Michael Dubois.
Also tat er das seine und gab ihm schlechte Noten, was ihm zumindest einige Steine in den Weg legen sollte.
Denn Michael Dubois war der Lehrer und somit besaß er die Macht.
Er prüfte Liberty Hatfield geschickt und immer politisch korrekt. Der Dreckskerl besaß zwar Talent, aber er war unpünktlich. Und oft müde, weil er in einer Kneipe arbeitete. Er war recht oft mit den Gedanken nicht beider Sache. Alles Dinge, die sich Michael Dubois zu Nutzen machen konnte.
Nein, Liberty Hatfield würde niemals aufs College gehen, dafür würde er schon sorgen.
Michael Dubois dachte langfristig.
Er sprach mit seinen Kollegen über den Schüler in der seltsamen Kleidung, die aussah, als würde er seine Freizeit auf den Friedhöfen der Stadt verbringen. Schwarz war nicht die Farbe, die man in New Orleans normalerweise trug. Michael Dubois wusste, wie man die Szene nannte. Er warnte seine Kollegen vor diesem speziellen Schüler. Das seien doch alles Faschisten, rechte Unruhestifter. Dann wartete er ab. Wenn man oft genug in eine Kerbe schlug, dann war es irgendwann selbst um den mächtigsten Baum geschehen.
Wenn er eines in seinem Leben gelernt hatte, dann das.
Und am Ende?
Ja, am Ende kam sein großer Tag, als er nicht einmal damit gerechnet hatte.
Es war Halloween, wie passend!
Vor den Häusern in den Vorstädten stellten die Eltern mit ihren Kindern Kürbisköpfe auf und zündeten Kerzen an. Monsterfratzen und Gruselzeug hing an jeder Tür.
Trick or Treat.
Er hasste diese Zeit.
Michael Dubois betrat den Klassenraum und sah das Ding, das missgestaltet und ekelhaft vor Liberty Hatfield in der Englischstunde auf dem Tisch saß.
Er nahm tief Luft, als er näher trat.
Der Kurs 9C sollte Lebewesen aus den Bayous beschreiben und Liberty Hatfield besaß doch tatsächlich die Frechheit, eine lebendige Spinne mit in den Kursraum zu bringen. Die Aufsätze hatten die Schüler daheim anfertigen müssen und, wie er Liberty Hatfield kannte, hatte er die ganze Nacht in einer dieser Spelunken gearbeitet, wo nur Pack herumlungerte. Er hatte seine Aufgaben nicht gemacht und brachte deswegen seine Vorlage mit in den Unterricht.
Hah!
Michael Dubois kannte diese Sorte Spinne. Sie lebte draußen in den Bayous in Wassernähe, nicht giftig, aber eklig anzuschauen. Und definitiv nicht konform mit der Schulordnung der Druid Hill Highschool. Ein Vergehen war es, eine Provokation, ein eindeutiger Akt, der Konsequenzen nach sich ziehen würde!
Liberty Hatfield hatte keine Chance!
Er beteuerte seine Unschuld. Er möge Spinnen, weil sie doch so filigrane Wesen seien. Es sei keine Provokation, niemals gewesen. Er habe die Spinne nur mitgebracht, weil er sie besser beschreiben könne, wenn er sie direkt vor sich sähe, nichts weiter.
Michael Dubois nahm Tullie Smith`s „World of Words“, ein Standardwerk, zur Hand und schlug so fest er nur konnte auf das Spinnentier ein. Liberty Hatfield schrie erschrocken auf, aber Michael Dubois gebot ihm zu schweigen. Er schickte Liberty Hatfield zum Rektor, wo er zweifellos einen Verweis kassieren würde.
Und der Tag, der so wie alle begonnen hatte, war auf einmal auf dem Weg, ein richtig guter Tag zu werden.
Michael Dubois unterrichtete den Kurs, nachdem Liberty ihn verlassen hatte, zuende und aß danach genüsslich zu Mittag. Es ging ihm so gut wie schon lange nicht mehr. Er wusste, dass dieses verkommene White Trash Individuum um seine Spinne trauerte und die Gewissheit, dass dies so war, tat gut.
Ja, Michael Dubois spürte die Macht, die er besaß, und dachte, dass die Highschool doch kein so schlechter Ort war, wie er immer angenommen hatte.
Auf dem Nachhauseweg lächelte er noch immer. Meine Güte, er hatte fast vergessen gehabt, wie gut man sich doch fühlen konnte. Er musste an die Tränen in den Augen des Schülers denken, als er ihm aufgetragen hatte, die Überreste des Spinnentiers zu entsorgen. Nein, er dürfe sie nicht mit nach Hause nehmen. Nein, er dürfe sie auch nicht beerdigen, welch absurder Gedanke! Nein, er müsse sie in den Abfallkorb werfen. Nein, danach müsse er zum Rektorat gehen und sich für den Rest des Tages beurlauben lassen. Ja, es würde eine Konferenz wegen ihm geben, und, nein, es hätte niemand Verständnis für ihn. Nein, niemand würde ein gutes Wort für ihn einlegen. Ja, alle hielten ihn für sonderbar.
Michael Dubois lächelte.
Oh, wie gut das tat!
An diesem Herbstnachmittag ging er joggen und fühlte sich wie damals, als alle ihn bewundert hatten. Er fühlte sich gut, fantastisch, wie neu geboren. Die ganze Zeit über lächelte er.
Er lächelte sogar immer noch, als er in ihrem kleinen Appartement in der Fayetteville Road ankam. Die Welt war wieder ein schöner Ort geworden, selbst an Halloween.
Lächelnd schloss er die Tür hinter sich und lächelnd schaltete er das Radio ein. Lächelnd nahm er sich ein eiskaltes Heinecken aus dem Kühlschrank.
Lächelnd setzte er sich in den Sessel und lächelnd führte er die Flasche zum Mund.
Erst als er die Spinne bemerkte, die unter der Türschwelle hindurch in den Raum huschte, erstarb sein Lächeln. Als eine zweite Spinne der ersten folgte, da gesellte sich ein ungutes Gefühl zu dem ersterbenden Lächeln. Eine dritte Spinne krabbelte über die Wand und eine vierte saß im Lampenschirm.
Michael Dubois musste an die Kürbisköpfe denken, die überall in den Fenstern standen. Er sah die Fratzen vor sich, die ihm beim Joggen zugeschaut hatten.
Trick or treat.
Halloween!
Manchmal, so hatte es in den alten Geschichten aus seiner Kindheit geheißen, manchmal werden die richtig bösen Sünden sofort und auf der Stelle bestraft. Das hatte sein Großvater ihn gelehrt, damals.
Michael Dubois fühlte sich mit einem Mal gar nicht mehr gut.
Etwas berührte seinen Arm.
Die Bierflasche fiel ihm aus der Hand, doch er hörte keinen Aufprall.
Die Spinnen waren überall.
Sie waren ein Strom, der nicht verebben wollte. Flinke Beine huschten über ihn hinweg, krabbelten ihm in Hemd und Hose. Er schlug nach ihnen und dann spürte er winzige Bisse auf der Haut.
Ja, es war Halloween, und Michael Dubois spürte all die kleinen Leiber über sich kommen und als er schließlich allen Stolz ablegte und den Mund zu einem Schrei öffnete, der wuselnd erstickt wurde, da fragte er sich zum ersten Mal, wer Liberty Hatfield wohl gewesen war.

21. Jun. 2008 - Christoph Marzi

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