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Tod eines Dichters
von Claudia Hornung

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

WURDACK VERLAG
A. Bionda, P. Hartmann
10 Beiträge / 3 Kurzgeschichten vorhanden
Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
Da war sie wieder. Die Frau im schwarzen Mantel. Sie saß auf der Bank bei der alten Eibe und blätterte gedankenverloren in einem Notizbuch. Die wenigen Trauergäste, die sich nicht weit von ihr um das offene Grab versammelt hatten, würdigte sie keines Blickes, was Bodo Kucharske zum wiederholten Mal ein Stirnrunzeln entlockte.
Warum kam die Unbekannte bloß hierher? Der städtische Friedhof war doch nun wirklich kein Ort für eine Frau wie sie – so jung, lebendig und schön. Ja, schön war sie, daran bestand kein Zweifel. Unglaublich schön sogar. Wenn sie die Beine übereinander schlug und ihr schlanker Knöchel kurz unter dem schwarzen Mantel hervorblitzte, dann wünschte sich Kucharske …
„Ähem“, hüstelte Pfarrer Fiedler und sah ihn beleidigt an.
Da hatte er offensichtlich schon wieder seinen Einsatz verpasst. Passierte ihm in letzter Zeit öfter. Wenn er so weiter machte, war er seinen Job als Trauerredner bald los.
Kucharske riss sich zusammen und spulte seinen Text ab. Der wievielte es war, hätte er gar nicht sagen können. Im Ort hatte es sich mittlerweile herumgesprochen, dass er etwas Besonderes war. Alle Familien, die etwas auf sich hielten, buchten ihn für ihre Bestattungen. Nur Kucharske gefiel dieser Ruhm nicht – egal, wie viel Geld er ihm einbrachte. Er wäre lieber …
„Amen“, schloss der Pfarrer.

Szenentrenner


Mit gesenkten Köpfen zerstreute sich die Trauergemeinde.
„Kucharske!“ Fiedler kam auf ihn zu und musterte ihn scharf. „Sie waren nicht bei der Sache, vorhin. Etwas mehr Achtung vor dem, was Sie tun, könnte nicht schaden!“
„Ich …“ Kucharske schluckte den Rest des Satzes hinunter.
Mit verlegenem Nicken versuchte er seine Unaufmerksamkeit zu entschuldigen, aber die Miene des Pfarrers blieb eisig. Als er sich endlich entfernte, blieb Kucharske zurück und sah den Friedhofsarbeitern zu, wie sie das Grab zuschaufelten. Ein Blick streifte seinen Nacken und er wandte den Kopf.
Sie lächelte. Die Unbekannte im schwarzen Mantel. Sie hatte ihr Notizbuch beiseite gelegt und lächelte ihm zu. Unschlüssig trat er von einem Bein aufs andere, wusste nicht, was er tun sollte. Wartete auf ein Zeichen. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, hob sie die Hand und winkte. Kucharske rannte fast hinüber zur alten Eibe.
„Hallo“, sagte er, ein wenig außer Atem. „Sie sind öfter hier, nicht wahr?“
„Ja.“ Ihr Lächeln war unbeschreiblich. „Ich höre Ihnen so gerne zu, wenn Sie die Toten verabschieden.“
„Ach …“
Das dunkle Blau ihrer Augen erinnerte ihn an einen Abendhimmel, kurz bevor ein Gewitter aufzog, und augenblicklich hätte er vor ihr auf die Knie sinken mögen. Stattdessen stand er da wie ein Idiot und scharrte mit der Schuhspitze über den frisch geharkten Friedhofsweg, krk, krk, bis sie seine Hand nahm und ihn neben sich auf die Bank zog. „Nun setzen Sie sich doch!“
Ihre Berührung fühlte sich an wie die eines Engels.
Kucharske setzte sich. Sah sie nicht an. Spürte ihre Nähe trotzdem. Ihr Parfum duftete dezent nach Orchideen; ein Geruch, der ihn an irgendetwas erinnerte. Etwas Verlorenes, Sehnsüchtiges, Wehmütiges … Schwer fassbar.
Die Unbekannte riss ihn aus seinen Gedanken. „Sie finden immer so schöne Worte für die, die nicht mehr sind“, sagte sie. „Sanfte, anrührende Worte. Schade, dass die Toten sie nicht mehr hören können. Ihr Dank wäre Ihnen gewiss.“
„Vielleicht“, nuschelte Kucharske. „Vielleicht auch nicht.“
Das Thema war ihm unangenehm. Denn eigentlich war er ganz froh, dass die Verstorbenen seine Worte nicht hören konnten. Meist speisten sich seine Reden allein aus seiner Phantasie; selten aus den kargen Auskünften der Hinterbliebenen. Dafür hatte er seiner Ansicht nach kein Lob verdient. Und außerdem – sie bedeuteten ihm nichts. Weder seine Worte, noch die, denen sie gewidmet waren.
Für ein paar Sekunden herrschte Schweigen und Kucharske befürchtete schon, er hätte das Gespräch abgewürgt, bevor es richtig begonnen hatte. Doch da fing die Frau neben ihm wieder an zu sprechen.
„Eines verstehe ich nicht …“ Sie lachte leise und es klang wie das hübsche Klimpern eines Windspiels. „Wenn die Toten Ihnen nichts bedeuten, warum verschwenden Sie dann Ihr Talent an sie?“
Kucharske erstarrte. Da hatte sie ihn. Getroffen. Mitten ins Herz. Genau das war sein wunder Punkt. Sein Trauma einer immerwährenden Schreibblockade, die verhinderte, dass er ein wirklicher Dichter wurde. Denn die bittere Wahrheit war, dass er außer Trauerreden nichts zustande brachte. Nichts. Keine Zeile. Keine einzige, verdammte Zeile … Er stöhnte und verbarg das Gesicht in den Händen.

Szenentrenner


Sie ließ ihn weinen, bis er keine Tränen mehr hatte. Dann reichte sie ihm ein Taschentuch.
„Warum?“, fragte sie. „Warum sind Sie so unzufrieden mit dem, was Sie tun?“
„Weil es nicht das ist, was ich will!“
„Ach, und was ist es, das Sie wollen?“
Kucharske schnäuzte kräftig. Dann sah er die Frau im schwarzen Mantel unsicher an. Wollte sie ihn veralbern? Nein, ihr Blick war ernst. Und trotzdem – wie kam er dazu, dieser Unbekannten etwas von sich zu erzählen? Störrisch schüttelte er den Kopf.
Sie ließ sich nicht beirren. „Gut, dann frage ich anders: Was, glauben Sie, ist der Sinn Ihres Lebens?“
Er zuckte die Achseln. „Keine Ahnung …“
„Sehen Sie! Vielleicht ist es Ihre Bestimmung, für die Toten zu schreiben. Vielleicht wollen Sie es nur nicht wahrhaben.“
„Bestimmung?“ Alles in Kucharske wehrte sich gegen diese Vorstellung. „Sie meinen, egal, was ich auch anstelle, letztendlich kann ich nichts gegen ein mir vorherbestimmtes Schicksal ausrichten?“
„Genau das.“ Es klang leicht spöttisch. „Leugnen Sie es, laufen Sie davor weg – und am Ende erfüllt es sich doch.“
„Niemals“, knurrte Kucharske. „Ich weiß, dass ich mehr kann, als Trauerreden zu fabrizieren. Und eines Tages werde ich es beweisen! Dann wird es mir gelingen, ein Gedicht zu schreiben. DAS Gedicht …“
So, da war es heraus. Jetzt kannte sie seinen geheimsten Wunsch doch.
Die Frau im schwarzen Mantel reichte ihm die Hand und stand auf. „Kommen Sie!“
„Wo-, wohin …?“, stammelte er, völlig überrumpelt.
„Nach Hause, an Ihren Schreibtisch. Ich begleite Sie.“
Fassungslos starrte er sie an. „Aber ich weiß nicht einmal Ihren Namen!“
„Sie sagen das, als wäre es ein Grund, meinen Vorschlag abzulehnen?“ Ihre dunklen Augen funkelten amüsiert.
„Nein, aber - ach …“ Kucharske verstummte.
„Nennen Sie mich Leah, wenn es Ihnen gefällt.“ Sie lachte. „Also, nun wissen Sie meinen Namen. Gehen wir?“
Er nickte. Ein Gedanke war in ihm aufgeblitzt. Ein Gedanke, dass ihre Anwesenheit möglicherweise seine Schreibblockade zu lösen vermochte. Dass es ihm heute endlich gelingen würde, zu, zu … dichten. Zu dichten! Was für eine Vorstellung. Was für eine unglaubliche, wunderbare Vorstellung!

Szenentrenner


Seine Wohnung war unaufgeräumt und nicht auf Besuch eingerichtet. Aber Leah schenkte dem Chaos keinerlei Beachtung. Zielstrebig steuerte sie auf den Schreibtisch zu. Kucharske zögerte.
„Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht?“
„Danke, nein.“ Ihr durchdringender Blick traf ihn bis ins Mark. „Deswegen bin ich nicht hier.“
„Ja, ich weiß.“ Kucharske senkte den Kopf. Er konnte sie nicht länger ansehen. Sie war so unbegreiflich schön. Und doch – etwas stimmte nicht mit dieser Frau. Konnte nicht stimmen. Sie war so anders …
Leah. Ob das wirklich ihr Name war? Vermutlich würde er es nie erfahren. Aber gut, wenn sie ihn dazu bringen konnte, mehr als nur Worte für die Toten zu finden, so wollte er das gern ignorieren.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und griff nach einem Bleistift. Dann nach einem Kugelschreiber. Dann nach dem teuren Füller. Eine Minute verging. Zwei Minuten. Nichts. Keine Eingebung. Je länger er das weiße Blatt vor sich anstarrte, umso deutlicher schien es ihn zu verhöhnen. Die Stimme in seinem Kopf tat ein Übriges. Vergiss es, Kucharske! Du warst nie ein Dichter und wirst nie einer werden!
„Arrgh!“ Er warf den Stift von sich und schlug die Fäuste gegen die Stirn. „Es ist sinnlos! Absolut sinnlos! Ich kann nicht …“
„Halt!“ Ihre Stimme war sanft. Die Hände, die über seinen Nacken strichen, ebenfalls. „Nicht aufgeben! Versuch es hiermit.“
Sie legte eine anmutig geschwungene, schwarze Feder vor ihn hin. Fast augenblicklich überfiel ihn eine seltsame Erregung. “Was ist das?“
„Eine Engelsfeder.“ Leah lächelte verheißungsvoll. „Du wirst sehen – damit kannst du alles schreiben, was du willst.“
„Was …?“, fragte Kucharske heiser. „Wie …?“
„Schreib!“, sagte Leah. „Über dich. Über dein Leben. Über die Stille, die an deinen Wänden klebt. Die Einsamkeit, die aus deinem Wasserhahn tropft. Die …“
„Die Sehnsucht, die mich verstummen ließ …“, flüsterte Kucharske. „Das ist es! Woher wusstest du …?“
„Schreib!“, sagte Leah.
Er nahm die Feder und schrieb.

Szenentrenner


Minuten später geriet er wieder ins Stocken. Gequält starrte er auf die wenigen Worte, die er bisher aufs Papier gebracht hatte.
„Was ist?“, fragte Leah.
„Es funktioniert nicht.“ Bitterkeit stieg in ihm auf. „Das hier taugt nichts. Es ist, es ist … - Schund!“
Zornig wischte er mit der Hand über die feuchte Tinte und verschmierte die Buchstaben zu unleserlichen Klecksen. Dann wartete er, dass Leah ihn wieder berühren, ihn trösten würde – aber sie reagierte nicht. Kucharske verlor die Beherrschung.
„Von wegen, Engelsfeder! Das ist doch alles Quatsch!“ Mit einem Wutschrei sprang er auf und schleuderte das noch offene Tintengläschen an die Wand. Die schwarze Farbe spritzte bis zur Decke und verteilte sich in wilden Sprenkeln über die Tapete, während die Scherben zu Boden klirrten.
Kucharske wandte sich um. „Und du?“, brüllte er. „Was willst du überhaupt hier?“
„Dir helfen“, sagte Leah und drückte ihn mit einer Kraft, die er ihr niemals zugetraut hätte, zurück auf seinen Stuhl. „Alles, was du willst; ja, alles, was du je wolltest, ist, ein Gedicht zu schreiben. Ein wahres Gedicht. DAS Gedicht. Also schreib es!“
„Ich kann nicht …“
„Weil du es nicht ernsthaft versuchst!“ Leahs dunkle Augen blitzten. „Weil du zu feige bist, der Wahrheit entgegenzutreten. Sieh hin! Sieh dich an!“
Kucharske konnte ihren Blick nicht ertragen. Es war, als durchbohrte sie ihn damit, stieß einen Dolch in seine Seele. „Ich kann nicht …“
„Doch, du kannst!“
„Dann hilf mir“, flüsterte er heiser. „Bitte, Leah, hilf mir!“
„Wenn du es willst …“ Wieder spürte er ihre sanften Finger im Nacken. Sein Atem beschleunigte.
„Entspann dich“, sagte Leah. Ihre Stimme hatte jetzt etwas Träumerisches, beinahe Zärtliches. „Erinnere dich. An dein Leben. An die Liebe, die du nie kennen gelernt hast. An die wahren Worte in deinem Herzen, die davon erzählen wollen …“

Szenentrenner


Es war wie ein feiner Stich. Kucharske fühlte einen leisen Schmerz und gleichzeitig strömte es aus ihm heraus – endlich! Die Engelsfeder glitt wie von selbst über das Papier. Zeile um Zeile erblühte vor seinen staunenden Augen.
Er schrieb wie ein Besessener und als er endlich die Feder sinken ließ, da wusste er, dass es ihm gelungen war. Er hatte es geschafft. Hier war es; in tiefroten, fein geschwungenen Lettern. Sein Werk. DAS Gedicht.
„Leah, sieh …“
„Es ist großartig.“
Sie legte ihm liebevoll die Hand auf die Schulter und plötzlich fühlte er sich unendlich müde. „Es hat noch keinen Titel ...“
„Lass nur!“ Sie nahm die Feder aus seiner Hand. “Ich kümmere mich darum.“
Ja, so sollte es sein. Er lächelte. „Leah …?“
„Du bist ein wahrer Dichter, Kucharske!“
Ihre Worte hallten in seinem Kopf. Freudiger Stolz überflutete ihn. Ich bin ein Dichter. Ein Dichter!
„Und du?“, flüsterte er. „Was bist du? Eine gute Fee? Ein Engel?“
„Wenn du es so nennen willst.“ Ihre Stimme drang nur leise an sein Ohr. „Ich folge auch nur meiner Bestimmung.“
„Deiner Bestimmung …?“
„Jemandem den Weg zu zeigen.“
Er war bereits zu müde, um dieses Rätsel zu lösen. Langsam ließ er seinen Kopf auf den Schreibtisch sinken; sorgsam bedacht, die noch feuchten Worte nicht zu verwischen.
„Danke …“, flüsterte er.
Dann schloss er für immer die Augen.

Szenentrenner


Pfarrer Fiedler musterte die Anwesenden. Viele waren es nicht, die gekommen waren, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Aber wenigstens hatte Kucharske ihm die Arbeit erspart, eine Trauerrede verfassen zu müssen. Fiedler holte den gefalteten Bogen Papier aus seiner Tasche.
„Werte Gemeinde, ich verlese nun ein Gedicht unseres lieben Verstorbenen, das er unmittelbar vor seiner Heimkehr zu Gott verfasst hat. Es scheint, als sei Bodo Kucharske die Gnade der letzten Erkenntnis zuteil geworden. Ja, als habe er gewusst, dass er bald von uns gehen muss. Denn seine letzten Zeilen sind überschrieben mit Tod eines Dichters.“
Hinter der alten Eibe wurde die schlanke Silhouette einer Frau sichtbar. Sie trug einen schwarzen Mantel. Und sie war sehr schön. Aus den Reihen der Trauergäste ertönte ein leises Raunen.
Pfarrer Fiedler warf einen irritierten Blick in die Runde und fuhr fort. „Bodo Kucharske war ein Dichter. Und wenn ich Ihnen seine letzten Worte gleich vortrage, werden Sie mir zustimmen: man spürt geradezu, dass sie mit Herzblut geschrieb- …“
Die Frau im schwarzen Mantel drehte sich abrupt um und verließ mit schnellen Schritten den Friedhof.

29. Jul. 2008 - Claudia Hornung

Bereits veröffentlicht in:

PANDAIMONION V - ENGEL
E. Wurdack (Hrsg.)
Anthologie - Düstere Phantastik - Wurdack Verlag - Jul. 2005

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