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Drachenblut von Timo Bader
Andrä Martyna © http://www.andrae-martyna.de/ Als Maria den halben Weg zum Gipfel erklommen hatte, traf sie einen alten Mann, der im Schneidersitz zwischen den Felszähnen hockte und sie mit gelben Augen anstarrte.
"Was sucht ein junges Mädchen an einem Ort wie diesem?"
"Dasselbe könnte ich dich fragen", antwortete Maria.
"Ich bin nur ein einsamer alter Mann."
Zweifelnd kniff Maria die Augen zusammen.
"Hast du dich verlaufen?"
"Nein, ich suche die Höhle des Drachen."
Dunkle Wolken hingen am Himmel, und in der Ferne donnerte es.
"Hier oben gibt es keine Drachen."
Maria verschränkte die Arme vor der Brust. "Du lügst."
"Woher weißt du das?", fragte der alte Mann.
"Weil ich es eben weiß", beharrte Maria. "Ich spüre es, wenn jemand lügt. Bevor ich zum Berg ging, hatte meine Mutter gesagt, dass es ihr leid tut. Das war eine Lüge. Der Älteste meinte, es sei die einzige Lösung. Auch das war eine Lüge. Und als du sagtest, du bist nur ein einsamer alter Mann, hast du mit gespaltener Zunge gesprochen."
Die gelben Augen verengten sich.
"Du bist der Drache."
"Bin ich nicht." So wie der alte Mann das sagte, klang es, als stimme er ihr zu.
"Drachen sind böse. Du bist böse", entschied Maria. "Jedes Wort aus deinem Mund ist eine Lüge und bedeutet das genaue Gegenteil."
"Nein", antwortete der Drache, "das ist nicht wahr."
"Wirst du mich töten?"
"Dafür gibt es keinen Grund."
Maria schluckte.
"Warum wurdest du ausgewählt?", fragte der Drache.
"Ich habe mich freiwillig gemeldet. Der Drache du", korrigierte sich Maria, "verlangtest ein Opfer, damit die Unwetter aufhören. Ich wollte etwas Gutes tun."
"Es entsteht nichts Gutes aus einem Opfer."
"Wieso wolltest du dann eines?"
"Ich brauche kein Opfer", sagte der Drache.
"Bist du für die Unwetter verantwortlich?"
"Ja, ich habe sie gerufen."
Angestrengt dachte Maria nach. Wenn jedes Wort aus dem Mund des Drachen einer Lüge entsprach, dann hatte er niemals ein Opfer gefordert. Und wenn er zugab, hinter den Unwettern zu stecken, hieß das nicht, dass er unschuldig war?
"Willst du zurückgehen?", fragte der Drache.
"Nein", antwortete Maria. "Ich vertraue den Menschen nicht mehr. Sie lügen und lachen dabei. Manchmal sagen sie die Wahrheit und manchmal nicht."
"Sie sind böse, weil Drachenblut durch ihre Körper fließt."
Maria horchte auf. "Wie meinst du das?"
"Nicht so wichtig." Der Drache winkte ab.
"Ich könnte bei dir bleiben", schlug sie vor.
"Zumindest bin ich nicht böse."
"Doch, das bist du. Durch und durch. Aber wenigstens kannst du dich nicht verstellen. Du warst schon immer böse, du bist böse und wirst immer böse sein. Du hast dich entschieden und ich denke, das ist mir lieber als die Unentschlossenheit der Menschen."
Der Drache führte Maria zu seiner Höhle. Dort lagen Dutzende Rüstungen, Schwerter und andere Waffen, Helme und Kronen, Schilder, Stiefel und mehr verstreut. Zwischen den Kostbarkeiten stapelten sich Berge von Knochen. Maria erschauderte, nicht nur wegen des kalten Windes, der durch ihr dünnes Gewand blies.
"Ist das dein Schatz?"
"Ja, das ist alles, was von den tapferen Kriegern und Amazonen übrig blieb, die Herrscher und Königinnen aussandten, um mich zu töten. Wenn du den Winter überleben willst, solltest du nichts davon anziehen."
Maria verstand sofort, was der Drache meinte. Es dauerte nicht lange, bis sie etwas Geeignetes gefunden hatte: einen warmen Mantel aus Wolfsfell, einen Brustpanzer, Armschienen und zwei feste Lederstiefel, die ihr bis zu den Knien reichten. Der einzige Lendenschurz, der ihr passte, war mit Schädeln geschmückt. Maria streifte ihr Kleid ab und schlüpfte in die neue Verkleidung.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, fühlte sie sich überraschend gut wie eine echte Amazone, die auszog, um Abenteuer zu erleben. Der Übermut packte sie, und Maria griff nach einem Langschwert und einem großen hölzernen Schild. Das Schwert war schwer, sodass sie es nicht schwingen konnte und nach einer Weile gegen ein Kurzschwert eintauschte. Dann setzte sie sich einen metallenen Stirnschutz auf.
"Du machst mir Angst", spottete der Drache. "Fehlt nur noch eines ..." Er öffnete eine Truhe und zog ein schwarzes Lederband hervor, das er Maria um den Hals schlang.
Seine spitzen Fingernägel streiften ihren Nacken, als er es verknotete, doch sie konzentrierte sich auf den schwarzen Anhänger, der die Form eines Schlüssels besaß.
"Was hältst du davon, wenn wir zum Dorf gehen?", schlug Maria vor. "Du verwandelst dich in einen Drachen, und ich erschlage dich. Natürlich tun wir nur so. Die Bewohner werden glauben, dass du tot bist, und dich nie wieder belästigen. Und ich werde als Heldin gefeiert."
"Pah." Der Drache lachte schallend. "Das könnte klappen."
"Ja, du hast recht", seufzte Maria. "Niemand wird uns das glauben."
In der Zwischenzeit war die Dunkelheit gekommen, und der Drache blies in einen Stapel trockener Äste, die knisternd zu brennen anfingen.
Maria setzte sich ans Feuer. "Du sagtest etwas über das Drachenblut."
"Dazu gibt es nicht viel zu erzählen."
"Eine Geschichte, eine Geschichte!", rief Maria.
"Also gut", gab der Drache nach. "Was ich dir nun erzähle, ist nicht wahr. Es ist ein Märchen, eine Lüge, wie ihr sie euren Kindern schildert. Einst gab es zwei Drachen, die im Licht der Sterne kämpften. Jeder wollte den anderen verschlingen. Eines Tages rissen sie sich entzwei. Aus der Hälfte des einen Drachen entstand die Erde, und aus der Hälfte des anderen Drachen der Himmel. Die verbliebenen Hälften verwandelten sich wieder in Drachen, die schworen, nie mehr zu kämpfen."
"Und was hat das mit dem Drachenblut zu tun?" Gespannt beugte sich Maria vor.
"Wie gesagt, es ist nur ein Märchen. Aber als sich die Drachen teilten, vermischte sich ihr Blut und formte die ersten Menschen."
"Das heißt, die Menschen tragen beides in sich: Das Blut des Erd- und das Blut des Himmelsdrachen? Das Gute und das Böse?"
"Das ist doch Quatsch!", fauchte der Drache.
"Du bist ein Erddrache
", vermutete Maria.
"So ein Unsinn!"
"
aber die Gewitter verursacht ein Himmelsdrache, oder?"
Völlig unerwartete stieß der Drache sie nach hinten. Maria rollte über den Boden, bis sie sich den Kopf an der Wand stieß. Unmittelbar vor ihr kauerte der Drache, auf allen vieren; er trug noch die Gestalt des alten Mannes zur Schau, doch aus seinem Rücken ragten knöcherne Flügel, er fletschte ein Raubtiergebiss, und seine Augen leuchteten hellgelb.
"Was ist tat und tun werde, tut mir nicht leid." Langsam beruhigte sich der Drache wieder. Die Flügel falteten sich zusammen und verschwanden in seinem Rücken, so abrupt, als hätte es sie nie gegeben. Auch die spitzen Zähne zogen sich hinter die Lippen zurück. Nur die Augen leuchteten weiter in einem beunruhigenden Gelb.
"Wir sollten schlafen", schlug Maria vor. "Es war ein langer Tag."
Wortlos zog sich der Drache in eine Ecke zurück, um sich dort zusammenzurollen.
Es dauerte nicht lange, bis Maria hörte, wie sich sein Atem beruhigte. Sie wartete noch etwas länger, dann schlich sie sich so leise wie möglich aus der Höhle. Es fiel ihr schwer, mit den hohen Stiefeln zu gehen, und es kam ihr vor, als quietschten die Scharniere der Rüstung so laut, dass sie sie verrieten. Doch der Drache bemerkte nichts, und Maria schlüpfte unentdeckt aus der Höhle. Draußen umschlossen sie die Dunkelheit und der Lärm des nächsten Unwetters, das sich soeben über dem Dorf zusammenbraute. Wenn sie sich beeilte, konnte Maria die Bewohner aufklären, ehe es zu spät war.
Der Rückweg gestaltete sich schwieriger als der Aufstieg, und sie erreichte das Dorf erst im Morgengrauen. Aber die Dörfler bemerkten sie schon von weitem und scharrten sich vor dem Tor zusammen. Die Männer hielten Forken und Prügel in den Händen, die Frauen und Kinder mussten in den Häuser Schutz gesucht haben. Wahrscheinlich befürchteten sie, dass sich Maria nicht geopfert hatte, und so den Zorn des Drachen auf das Dorf zog.
"Es ist alles in Ordnung", erklärte sie, wobei ihre Stimme seltsam schrill klang. "Ich habe mit dem Drachen gesprochen. Ihr braucht euch nicht länger zu fürchten."
Die Bewohner redeten wild durcheinander. Beschwichtigend hob Maria die Hand, was dazu führte, dass sich die Männer ruckartig anspannten und die Waffen hoben.
"Der Drache hat gelogen, als er behauptete, er bräuchte ein Opfer. Er ist ein Erddrache und nicht für die Unwetter verantwortlich. Ein Himmelsdrache schickt uns den Regen, die Blitze und den Donner. Ich weiß noch nicht warum und wie wir es beenden können, aber niemand muss sich opfern. Der Erddrache liebt den Himmelsdrachen und deshalb wollte er die Schuld auf sich nehmen. Aber aus einem Opfer entsteht nichts Gutes."
"Schweig, du Bestie!", rief eine Stimme.
Maria drehte sich um, und als ihr Blick ein Stück den Berghang hinaufwanderte, den sie gerade herabgekommen war, schien es, als blickte sie in einen See. Dort hockte ihr Spiegelbild, im Schneidersitz, und trug die Stiefel, die Rüstung und die Waffen, die Maria in der Höhle des Drachen ausgesucht hatte. Nur das Lederband und der Anhänger fehlten.
"Dörfler", richtete ihr Spiegelbild, das nur eine weitere Täuschung des Drachen war, das Wort an die Männer, "ich habe diese magischen Utensilien aus der Höhle des Ungetüms gestohlen, um es zu bezwingen." Der Drache erhob sich und präsentierte das Schwert, als er langsam den Hang herunterkam. "Mit seinem Tod werden die Unwetter aufhören."
Maria wartete, bis der Drache sie erreicht hatte. "Was hat das zu bedeuten?"
Unbeeindruckt hielt ihr der Drache das Schwert vor das Gesicht, sodass sie ihr wahres Antlitz auf der Breitseite der Klinge spiegelte. Maria hatte sich in einen Drachen verwandelt: ein großes Ungetier aus Schuppen und Horn, mit einem Maul voller spitzer Zähne und einem Schädel, aus dem zwei gedrehte Hörner wuchsen.
"Du hast mich mit dem Anhänger verwandelt!", keuchte Maria.
"Wie soll das möglich sein?", fragte der Drache leise.
"Sie steht dem Dämon Auge in Auge gegenüber", tuschelten die Dörfler.
Von irgendwo kam die Stimme ihrer Mutter: "Das ist meine Tochter."
"Eine wahre Heldin
", flüsterte der Älteste.
Der Drache grinste. "Wolltest du das nicht sein?"
"Ich wollte mich opfern für das Gute."
"Der Himmelsdrache braucht dein Opfer nicht."
"Das ist es also", erkannte Maria. "Damit die Unwetter aufhören, muss ich mich für den Himmelsdrachen opfern. Du liebst sie, obwohl sie auch Böses in sich trägt."
"Sag das nicht!" Der Drache funkelte sie wütend an.
"Ihr seid nicht besser als die Menschen", fuhr Maria fort. "In uns fließt das Blut des Erd- und das Blut des Himmelsdrachen das Gute und das Böse. Aber auch euer Blut hat sich vermischt. Der Himmelsdrache fordert Menschenopfer und du
"
"Die Menschen sind böse!", schrie der Drache und durchbohrte sie mit dem Schwert.
Ein Ruck ging durch Maria, und die Dörfler hielten gespannt den Atem an.
Noch immer hingen dunkle Wolkenberge am Himmel, doch weit entfernt, im Westen, riss ein Loch auf, und dahinter lag der strahlend blaue Himmel. Maria sah den Himmelsdrachen, mit weißen Schuppen, die wie Diamanten glänzten.
Der Erddrache lächelte selig. "Lüge, alles Lüge: Alle hundert Jahre verlangt sie ein Opfer, sonst sendet sie die Kräfte des Himmels auf die Erde. Sie hat sich verändert doch ich liebe sie. Noch immer. Für immer. Ich muss sie beschützen."
"Dann erfüllt mein Opfer doch einen guten Zweck." Marias Augen wurden feucht.
"Warum weinst du?", fragte der Drache.
"Es gibt Hoffnung für dich, das heißt, es gibt Hoffnung für die Menschen."
"Das kann nicht sein."
"Du bist nicht böse."
"Doch, das bin ich."
Dankbar schloss Maria ihre gelben Augen.
01. Sep. 2008 - Timo Bader
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