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Norgarth
von Andreas Gruber

Andrä Martyna Andrä Martyna
© http://www.andrae-martyna.de/

Im Dorf

Seit Wochen war der Pass nach Norgarth verschneit, dennoch stapfte ein zähes, struppiges Streitross von Norden her durch den Wald. Das schwerbeladene Pferd brach schnaubend durch das Unterholz, sein Reiter hing bleiern im Sattel und presste dem Tier die Schenkel in die Flanken. Mit den Sporen trieb Koren das Vollblut zur Eile, während die Äste sein Gesicht streiften und er ständig über die Schulter zum Gebirgspass blickte. Die Sonne ging rasch unter und hing nur noch wie ein blutroter Schatten über den Bergen.
Auf den Feldern lagen die ersten Schneefetzen. Koren preschte entlang des Waldrandes, galoppierte über Steine und Wurzeln, ließ die schmale Holzbrücke außer Acht und setzte mit einem Sprung über den Bach. Durch einen Graben gelangte er auf einen zugefrorenen Erdweg. Er jagte entlang der Wagenrinnen nach Süden. Einige Hügel weit entfernt lag ein Dorf vor ihm, das erste, das er seit mehreren Tagen zu Gesicht bekam. Die Schornsteine der Holz- und Lehmhütten wurden langsam größer, Pferdeställe, Brunnen und Zäune formten sich zu einer Siedlung. Rauchschwaden strichen in der Abenddämmerung über das Land und stiegen in Korens Nase. Menschen, dachte er bitter. Wie konnten sie so nahe am Pass leben? Er würde rasch weiterreiten und sie nicht in Gefahr bringen.
Es war bereits finster, als er durch den Ort ritt. Hauch stieg aus den Nüstern des Pferdes, es schnaubte, seine Muskeln zitterten und es dampfte vor Schweiß. Koren zog die Zügel stramm, hielt an und blies in die klammen Finger der Faust. Unter dem Dachgiebel der Dorfschenke loderte eine Fackel aus Kiefernspan im Wind. Das Feuer knisterte, vor der Hütte roch es nach Teer und Harz. Im orangefarbenen Schein der Flammen bemerkte er das auf und ab schwankende Schild. Nur das Knarren des Eisengestänges tönte durch die verlassene Gasse. Koren konnte die Lettern auf der verwitterten Holztafel nicht entziffern. Eine Schenke wie jede andere auch, für ihn würde sie reichen. Koren schwang sich mit steifen Gliedern ächzend aus dem Sattel. Mit vor Frost aufgesprungenen Fingern verknotete er die Zügel auf dem Pfosten neben der Tränke. Sein mächtiges Schwert und die beiden Satteltaschen mit dem Dörrfleisch und den Trockenfrüchten nahm er nicht ab. Er würde nur kurz bleiben. Als er sich zum Eingang der Dorfschenke bewegte schnaubte sein Ross und scharrte unruhig mit den Hufen auf dem gefrorenen Boden.
„Schschsch.“ Koren strich dem Tier über die Nüstern. „Noch bevor der Nebel kommt, sind wir unterwegs“, flüsterte er. Unsicher starrte Koren über die Hügel und Wälder hinauf zum Gebirgspass ... noch lag er im Dunkel. Doch für wie lange? Die Erfahrung der letzten Tage hatte ihn gelehrt, dass sein Vorsprung nur wenige Stunden betrug und sich viel zu rasch verringerte.
Koren drückte die Klinke nieder. Mit der Stiefelspitze trat er die Eichentür auf, stieg schwerfällig über die Schwelle und stand breitbeinig im Türrahmen. Der Wind pfiff ihm zwischen den Beinen hindurch, bitterkalte Schneeböen preschten in die Stube. Schlagartig verstummten Murren und Raunen im Schankraum. Die Männer blickten zur Tür. Sie rückten mit den Stühlen herum, einige stellten ihre wuchtigen Krüge zurück auf den speckigen Tisch und wischten sich mit dem Handrücken über den Mund. Schwerer Alkoholdunst hing in der Luft, weiter hinten in der Kaschemme knackten die Holzprügel im offenen Kamin und die Flammen züngelten bis zur Steindecke des Ofens. An der Wand stapelten sich Weinfässer, von den Dachbalken hingen Töpfe, Pfannen, Tierfelle und Elchgeweihe mit gewaltigen, schaufelartigen Enden. Auf einem Schemel hockte ein dreibeiniger Hund mit struppigem Fell, der bei Korens Anblick die Zähne fletschte.
Mit ungelenken Fingern warf Koren die Kapuze vom Kopf. Ein erstickter Aufschrei ging durch die Spelunke, als die Gäste im flackernden Schein des Kamins seine Narben im Gesicht erblickten, von denen jede einzelne eine tödliche Wunde hätte sein können. Unbeeindruckt schritt Koren durch den Raum und stapfte zum Tresen. Der Mantel aus Tierfellen schliff hinter ihm über den Boden. An seinem Wams baumelte ein Dolch mit gekrümmter Klinge, an seinem Waffengurt vier schwere Lederbeutel.
Eine Magd im grauen Stoffkleid drängte sich an einer Schar Männer vorbei und trat zielstrebig auf ihn zu. Aufrecht stand sie vor ihm, mit vor der Brust verschränkten Armen. Sie war hochgewachsen und schlank, beinahe so groß wie Koren, und ihre Haare waren rabenschwarz. Zwei straff geflochtenen Zöpfe hingen ihr über dem Busen.
„Was kann ich für dich tun?“, fragte sie laut. „Ein Bett, ein warmes Essen ...?“
Das junge, hübsche Ding versuchte zu lächeln, doch als sie einen Blick in sein Gesicht warf, verschwand ihre Selbstsicherheit. Verlegen starrte sie zu Boden. War es Mitleid oder Furcht? Koren wusste es nicht. Seine Kehle war ausgetrocknet, erst als er den Mund öffnete, bemerkte er seine aufgesprungenen Lippen. Er brachte nur ein Krächzen hervor. Plötzlich schob sich eine Gestalt vor Koren, der gewaltige Schatten legte sich wie die Nacht über ihn. Der Riese war breit wie ein Baum und selbst für einen Nordmann ein Hüne. Der Mann überragte Koren um mehr als eine Haupteslänge, sein Kopf reichte bis zum Deckenbalken. Langes, blondes Haar hing ihm wirr in die Stirn. Wahrscheinlich war er noch keine dreißig Jahre alt, mit Leichtigkeit hätte er Korens Sohn sein können.
„Ich bin Jan, der Sohn des Dorfschmieds.“ Der Mann stemmte die Fäuste in die Hüften. Seine Unterarme wirkten wie schwere Ambosse. „Und wer zum Teufel bist du?“
Koren schluckte und öffnete den Mund.
„Na, rede schon!“
„Ich ...“, brachte Koren heiser hervor.
„Was? Bringst du den Mund nicht auf? Verschlägt es dir die Sprache, alter Mann?“, knurrte Jan und wartete. Koren schwieg, neigte den Kopf und starrte um den Riesen herum zur Magd. Ihre Augen waren geweitet, unmerklich schüttelte sie den Kopf.
Koren fuhr zusammen, als ihn der Hüne an der Schulter packte.
„Wenn du meine Schwester noch einmal so anstarrst, reiße ich dir beide Augen aus dem Schädel und verfüttere sie an die Schweine im Stall.“
Die Gäste in der Spelunke grölten ungehalten. Was für eine Abwechslung! So hoch im Norden erlebten sie nicht alle Tage eine Rauferei mit einem Fremden.
Koren schluckte. Müde hob er den Blick. „Geh mir aus dem Weg!“
Jans Augenbrauen schossen in die Höhe. Einige Betrunkene im Lokal gackerten vor Lachen, manche lehnten sich amüsiert zurück, andere rieben sich erfreut die Hände.
„Pass auf, was du sagst, Fremder!“, warnte einer der Gäste, der am Schanktisch neben einem Krug lehnte. „In diesem Ton hat noch niemand mit dem Riesen gesprochen.“
Jan ignorierte den Kommentar, seine Stirn lag in Falten, sein Blick verfinsterte sich.
„Halt, Jan! Bevor du den Fremden tötest, möchte ich zumindest wissen, mit wem du es zu tun hast“, grölte ein Betrunkener.
„Halts Maul!“, brüllte Jan ohne den Blick von Koren zu nehmen. „Woher kommst du?“ Er kniff die Augen zusammen.
„Aus Norgarth.“ Koren starrte auf Jans kräftige Pranke.
Mit einem Mal umklammerte der Hüne Korens Schulter mit einem Griff, der Korens Knochen zu splittern drohte. „Der Pass ist seit Wochen verschneit, niemand schafft es über das Gebirge, nicht einmal die Wölfe.“
„Dort oben gibt es keine Wölfe mehr, sie sind erfroren“, flüsterte Koren.
„Wir mögen hier keine Fremden, und vor allem keine ... Lügner!“ Damit beendete Jan das Gespräch und zog ein kurzstieliges Messer mit zweischneidiger Klinge aus dem Wams. Ein Aufschrei ging durch den Raum. Ansatzlos stieß Jan die Klinge nach vor, direkt auf Korens Brust. Mit einem Mal tanzte Koren zur Seite, packte Jans Messerhand am Gelenk und drehte es herum. Elle und Speiche knackten, Jan grunzte gequält auf. Koren tauchte unter dem Arm des Riesen hindurch, kegelte ihm mit einem Ruck die Schulter aus und riss ihn mit einer schwungvollen Bewegung von den Beinen. Jan brüllte lauthals auf, segelte durch die Luft und schlug wie ein Koloss auf dem Boden auf.
Am Deckenbalken schepperten die Töpfe aneinander. Korens Mantel flatterte herum, und schon hockte er auf der Brust des Riesen. Die Spitze des Knies bohrte sich in die Kehle des Hünen. Koren keuchte nicht einmal, und noch bevor die Gäste der Dorfschenke die Situation erfassten, hielt Koren das kurzstielige Messer mit der zweischneidigen Klinge in der Hand und bohrte die Spitze unter Jans linkes Auge in das weiche Fleisch.
„Deine Klinge ist scharf, Goldschmied!“, stellte Koren mit heiserer Kehle fest.
„Wenn du mich tötest, werden dich meine Brüder an deinen dampfenden Eingeweiden durch den Ort schleifen!“, keuchte Jan.
„Wenn ich dich tot sehen wollte, wärst du es bereits!“ Koren stemmte sein Gewicht gegen Jans Gurgel.
Jans Gesicht lief rot an. „Was zum Teufel willst du?“, röchelte er.
„Dasselbe wie zuvor ... einen Teller heiße Suppe, nicht mehr, nicht weniger. Dann ziehe ich mit meinem Pferd weiter!“
Damit erhob sich Koren, trieb die Klinge eine Handbreit tief in das Holz der Theke und stapfte in die hinterste Ecke zu einem freien Tisch. Gemächlich ließ er sich auf den Stuhl nieder, behielt jedoch den Mantel an und ließ das Wams zugeknöpft. Während er die anderen Gäste des Lokals musterte, tastete er nach der Schriftrolle, die unter seinem Wams steckte. Er legte die Handflächen schützend über die vier schweren Lederbeutel, die an seinem Waffengurt hingen. Langsam kehrte wieder Leben und Bewegung in die anderen Gäste der Dorfschenke, die den Atem angehalten und sich keinen Deut gerührt hatten. Jetzt murmelten sie wieder still vor sich hin und klimperten mit den Krügen und Weinbechern.
Jan erhob sich ächzend vom Boden, stolperte zur Theke und drehte dort mit der Linken mühsam die Klinge aus dem Holz. Die Rechte hing ihm schlaff am Körper hinunter. Nachdem er stumm durch die Tür auf die Straße verschwunden war, schritt die Magd im grauen Kleid zu Korens Tisch.
„Du möchtest nur einen Teller Suppe? Sonst nichts?“, fragte sie ungläubig. Mit einer kecken Bewegung warf sie beide Zöpfe hinter die Schulter.
Koren nickte. „Ist dein Bruder immer so gastfreundlich?“
„Es tut mir leid“, antwortete sie stattdessen. „Aber es war keine gute Idee, ihn so zuzurichten. Er ist ziemlich wütend.“ Sie hob den Blick und musterte ungeniert Korens Narben, die ihm quer über die Augen liefen, sich in tiefen Furchen in Stirn und Wangen gruben und wie eine Landkarte bis zum Nacken verzweigten.
„Wie heißt du?“
„Simon“, log Koren und versuchte zu lächeln. „Und du bist die hübsche Tochter des Dorfschmieds“, stellte er fest.
Sie lächelte. „Es ist besser, wenn ich dir dein Essen bringe.“ Sie ging davon. Einen Augenblick später brachte sie ihm einen Holzlöffel, eine dicke Scheibe Brot und einen tiefen Teller, der bis zum Rand mit heißer Brühe gefüllt war.
„Möchtest du über Nacht bleiben? Wir haben in der Dachkammer ein Zimmer frei“, bot sie ihm an.
„Danke, aber ich muss weiter.“ Gierig löffelte er aus dem Teller und tauchte Brotkrumen in die Suppe. „Wie heißt du?“, murmelte er mit vollem Mund.
„Kara, komm her!“, brüllte der Wirt. „Die anderen Gäste warten.“
Genervt verdrehte das Mädchen die Augen und wandte sich ab.
„Danke, Kara“, murmelte Koren bevor sie ihr Kleid zusammen raffte und hinter der Theke verschwand.
Noch bevor Koren die Suppe zu Ende gelöffelt hatte, flog die Tür zur Straße auf. Breitschultrige, finster blickende Männer polterten in die Stube. Als den Größten unter ihnen erkannte Koren den Sohn des Dorfschmieds. Sein rechtes Handgelenk war mit Lederriemen bandagiert. Die anderen Männer trugen weite Fellmäntel über den Schultern, ihre Hände verbargen sie unter dem Pelz.
„Nicht hier!“ Der Wirt stellte sich den Männern in den Weg. „Erledigt ihn draußen, nicht hier drinnen!“
Mit einer ungestümen Bewegung wurde der Wirt zur Seite gestoßen. Die Männer stapften durch das Lokal und stellen sich im Halbkreis um Korens Tisch. Ihre Mäntel waren ausgebeult. Was sie darunter verbargen, konnte Koren nur erahnen, doch schon bald würde er es herausfinden.
Jan zeigte mit der linken Hand auf Koren. „Jetzt bist du dran!“
Koren dachte an sein Schwert, das draußen in der Scheide auf der Satteltasche des Pferdes hing. Verdammt, er hätte es mitnehmen sollen. Mit der gekrümmten Klinge würde er nicht viel gegen die fünf Kerle ausrichten können. Zumindest könnte er drei von ihnen töten, einen weiteren sogar schwer verletzen, aber über den weiteren Verlauf des Kampfes würde das Schicksal entscheiden. Seine Hand wanderte zu den Lederbeuteln am Gurt, mit der anderen löffelte er weiter aus dem Teller.
Mit einer fahrigen Handbewegung wischte einer der Kerle über Korens Tisch. Der Teller flog davon, sein Inhalt spritzte auf Korens Mantel.
„Hör gefälligst zu, wenn wir mit dir reden!“
Koren legte die Hände vor sich flach auf den Tisch. „Ich habe meine Suppe gegessen. Ich bezahle, dann reite ich weiter“, schlug er vor.
„Du hoffst, wir lassen dich ungeschoren abhauen, alter Mann?“
Koren schüttelte den Kopf, borstige Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn. „Du irrst dich! Ich will nur niemanden von euch töten!“
Die Kerle blickten sich gegenseitig an und brüllten vor Lachen. Dann verstummten sie, griffen gleichzeitig unter die weiten Mäntel und zogen mit Tiersehnen gespannte Armbrüste hervor. Die Männer stemmten den Schaft der Waffen gegen die Schultern. Fünf Hartholzpfeile mit scharf geschliffenen Knochenspitzen lagen in den Rinnen und zielten auf Koren.
„Erschießt den Drecksack!“, kreischte jemand aus der Gaststube.
„Ihr Idioten!“ Zornig sprang Koren vom Stuhl auf, der hinter ihm polternd zu Boden fiel. „Versteht ihr nicht? Ich muss weiter! Geht mir aus dem Weg! Ich möchte euch nicht töten müssen!“
„Wir werden dich töten!“, brüllten die fünf Männer wie aus einem Mund.
Mit einer schnellen Bewegung riss Koren die gekrümmte Klinge aus dem Wams. Die Männer taumelten einen Schritt zurück und drängten sich dichter aneinander. Ihre Pfeilspitzen zielten noch immer auf Korens Brust. Plötzlich verschwamm sein Blick. Gehetzt zuckte sein Kopf herum, von einem Ende des Raumes zum anderen. Die Tür zur Straße schien plötzlich meilenweit entfernt. Nur dumpf drang das Murren der Männer in sein Bewusstsein. Die Hand wanderte zum Kragen des Mantels, dort spürte er den nassen Fleck auf dem Fell.
„Was ... war in der Suppe?“ Ihm tränten die Augen, sein Atem stockte. „Seid ihr verrückt!“ Er wischte mit der Klinge durch die Luft. Sein Puls beschleunigte. „Ihr Idioten! Was habt ihr mir in die Suppe getan?“
Mit einem Ruck riss er den Tisch zur Seite und taumelte nach vor. Plötzlich schnappte der Drücker, ein Pfeil löste sich aus der Armbrust. Die Knochenspitze drang durch den Stoff von Korens Mantel und bohrte sich in das Fleisch der Schulter. Die Wucht warf ihn zurück an die Wand. Den Schmerz spürte er kaum, das Gift lähmte bereits sein Bewusstsein und betäubte ihn schneller als er gedacht hatte.
„Ihr Narren wisst nicht, was ihr anrichtet!“ Seine Hände zitterten, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er musste es durch die Dorfstube auf die Straße schaffen, zu seinem Pferd. Wenn er erst im Sattel saß, war das Dorf wieder in Sicherheit.
„Was murmelst du?“
„Wenn ich um Mitternacht noch hier bin“, keuchte Koren, „werdet ihr wie Schweine geschlachtet und euer Dorf bis zum letzten Mann niedergemetzelt.“
„Ach, was du nicht sagst“, rief Jan. „Und ob du um Mitternacht noch hier sein wirst! Ha! Du wirst den Ratten im Kerker Gesellschaft leisten.“
„Lasst mich gehen, um Himmels Willen ... um den Frieden im Dorf zu wahren, um ...“
„Mach dir lieber Sorgen um dich selbst!“
Eine weitere Sehne schnellte, ein zweiter Pfeil zischte davon und bohrte sich in Korens Seite. Er taumelte zurück, wankend sank er auf die Knie. „Bitte“, flehte er. „Um des Friedens Willen für euer Dorf. Um das Leben eurer Frauen und Kinder ...“
„Sorge dich nicht um unsere Frauen und Kinder! Die sind vor dir sicher! Du wirst im Kerker vor dich hin modern und verrotten!“
„Ich muss bis morgen Abend, vor Sonnenuntergang die Küste erreicht haben! Dort wartet ein Schiff auf mich.“ Korens Hände zitterten. Er rutschte mit den Knien über den Holzboden. „Es ist wichtig!“
„Zu dieser Jahreszeit fahren keine Schiffe!“
„Ein abgetakelter Zweimaster, er bringt mich nach Damaskus.“
„Was suchst du in Damaskus? Ein weiter Weg, für einen alten Mann wie dich! Wolltest du dort etwa Abu´l-al-Iqusim und seinen Palast ausrauben?“
„Das geht dich nichts an!“, presste Koren hervor.
Eine Faust traf ihn ins Gesicht, sein Kopf flog zur Seite. Ein dünner Faden lief von seinem Kinn. Er schmeckte Blut zwischen den Zähnen.
„Zu den Radjinns, Abu´l-al-Iqusims Alchemisten.“ Koren krümmte sich.
„Ha! Habt ihr das gehört? Er will zu den Alchemisten nach Damaskus!“, brüllte Jan. „Zu den best bewachtesten Männern des Orients! Du möchtest dort wohl einfach hineinspazieren, nicht wahr? Die werden ausgerechnet auf dich Tölpel warten!“
„Ich ...“
„Du hältst dich wohl für Koren, den Leibwächter der Radjinns, was?“
Ein weiterer Pfeil schnellte von der Sehne, fuhr durch Korens rechte Hand und blieb stecken. Seine Klinge polterte zu Boden. Dann trafen ihn Fußritte und es wurde finster um Koren.

Im Kerker

Es stank erbärmlich nach Kot, Urin und verdorbenem Obst und Fleisch. Die Erde zu seinen Füßen war mit Kadavern gesäuert. Koren öffnete die Augen. Seine Nerven zuckten unkontrolliert, noch immer war er von dem Gift benebelt. Er neigte den Kopf und blinzelte an sich hinunter. Die Pfeile waren aus seinem Körper gerissen worden, dunkelrote, verkrustete Flecken auf seinem Wams zeugten von den Wunden. Doch irgend jemand musste sie ihm gereinigt haben, denn von seinem Wams stieg ihm der Geruch von Kräutern und Wurzeln in die Nase.
Koren versuchte sich zu bewegen. Die rechte Hand war steif, er konnte sie nicht zur Faust ballen, ohne dass ihm der Schmerz wie ein Peitschenhieb durch den Körper zuckte. Zornig riss er an den Handschellen, die im Mauerwerk eingelassen waren, doch er war zu schwach um sich zu befreien. Kraftlos ließ er sich in die Ketten fallen. Seine Beine steckten in Fußangeln. Durch die Ösen liefen schwere Eisenketten, die ihn an die Wand fesselten.
Koren atmete tief durch. In seinem Wams steckte immer noch die Schriftrolle, und am Waffengurt hingen die vier Lederbeutel. Immerhin hatten ihn die Kerle nicht ausgeraubt. Allerdings fehlte sein Dolch mit der gekrümmten Klinge. Aber das Messer war sowieso unwichtig, letztendlich zählten nur die Beutel, und er war immer noch in ihrem Besitz. Wie lange noch, fragte er sich. Wo war er überhaupt und wer hatte ihn hierher gebracht? Ihm fielen wieder die Augen zu, und der Kopf sank ihm auf die Brust.
Das Knarren eines Eisengestänges riss ihn aus der Dämmerung. Schwerfällig hob er den Kopf und starrte durch das vergitterte Kellerfenster in die Nacht. Langsam nahm das Gitter feste Konturen an. Draußen tönte das monotone Knarren durch die verlassene Gasse. Im orangefarbenen Schein einer Fackel bemerkte er das auf und ab schwankende Schild der Dorfschenke. Dort draußen musste sein Pferd auf ihn warten, auch sein Schwert war ganz in der Nähe – wenn es noch niemand gestohlen hatte. Langsam kam er zu sich, zornig riss er an den Fesseln. Jenseits des Kellerfensters schimmerte der Horizont bleigrau. Doch wusste er, dass nicht die Morgendämmerung anbrach, sondern seine Verfolger heraneilten, seine Witterung aufgenommen hatten und wie Schattenhunde seiner Fährte folgten ... und sie waren verdammt nahe. Die ersten blassen Nebelschwaden waberten bereits vom Gebirgspass herunter und legten sich wie ein in Schwefel getränktes Tuch über das Land.
Jenseits der Kerkermauer hörte er ein Geräusch. Koren legte den Kopf schief, mit zusammengekniffenen Augen spähte er in die Nacht. Leichte Schritte trippelten über den Kies, Stoff raschelte und eine Gestalt beugte sich vor dem Gitter des Kellerfensters nieder. Die Person hatte einen dunklen Fellmantel mit Kapuze übergeworfen. Koren erkannte den leisen Atem einer Frau. Milchig weißer Hauch stieg ihr vor dem Gesicht auf, ihre Hände legten sich an die Gitterstäbe. Es musste Kara sein. Wer sonst wusste davon, dass er hier hing?
„Du hast meine Wunden gereinigt?“, fragte Koren.
Die Gestalt antwortete nicht gleich. „Geht es dir besser?“, fragte sie schließlich.
Koren versuchte zu nicken. „Bring mir mein Schwert!“
Kara schüttelte den Kopf. Jetzt trug sie das Haar offen, rabenschwarz wie die Nacht ergoss es sich über ihre Schultern. „Das kann ich nicht.“
„Weshalb bist du dann gekommen?“, fuhr er sie an. „Um dich an meinem Anblick zu ergötzen?“
Im Mondschein sah er sie erneut den Kopf schütteln. „Ich weiß es nicht.“
„Nur ich kann euer Dorf retten. Du musst mir vertrauen. Wahrscheinlich habt ihr nicht einmal eine Stunde Zeit. Ich muss so rasch wie möglich euer Dorf verlassen.“
„Weshalb?“
„Sie wollen nur mich, aber wenn sie mich hier finden, seid auch ihr verloren!“
„Wer ist hinter dir her?“
„Wenn du noch mehr Zeit verschwendest, wirst du es bald selbst herausfinden müssen. Los, bring mir das Schwert!“ Er zerrte an seinen Handschellen, die Ketten rasselten in den Fußangeln.
„Erzähle mir mehr!“
„Ich habe etwas für Abu´l-al-Iqusims Alchemisten in Damaskus. Vieles hängt davon ab. Ich muss es ihnen rechtzeitig überbringen, bevor mich die ...“ Er stockte. „... bevor mich meine Verfolger zur Strecke bringen.“
Zweifelnd schüttelte sie den Kopf. „Du bist ein Dieb, wahrscheinlich nicht einmal ein besonders guter, der auf der Flucht ist!“, behauptete sie. „Vor wem? Was hast du gestohlen?“
Koren seufzte. „Es ist die Wahrheit. Ich habe dir ohnehin schon mehr verraten, als gut für dich ist.“ Durch die Gitterstäbe funkelten ihre Augen im Mondschein. Mit einem Mal wandte sie den Kopf, als wollte sie sich erheben. „Ich hole meine Brüder.“
„Nein!“, rief Koren. Rasch fuhr er fort: „Meine Verfolger wollen das Wissen zurück haben, welches ich bei mir führe. Sie wollen verhindern, dass es an uns Menschen gelangt und wir in diese geheime Kunst eingeweiht werden.“
„Welches Wissen?“
Er verdrehte die Augen und stöhnte ungeduldig auf. Die Radjinns würden ihn steinigen lassen, wenn er jemand Fremden in seine Mission einweihte, doch war er ohnehin tot, wenn er noch länger in diesem Kerker hing. „Ein alchemistisches Geheimnis“, sagte er schließlich. „Ich habe einen der schwarzen Wächter in Norgarths Festung getötet und ...“
Karas Augen verengten sich. „Du bist ein Lügner!“, unterbrach sie ihn. „Noch nie ist ein Mensch bis dorthin vorgedrungen.“
„Ich war bereits zum zweiten Mal in Norgarth“, fuhr er unbeirrt fort. „Vor drei Jahren waren wir eine Gruppe Krieger, wir schafften es nicht einmal über den Pass und nur wenige überlebten. Doch diesmal ritt ich allein. Einen einzelnen Mann hätten die Schwarzmagier niemals erwartet. Auf der Flucht musste ich ...“
„Weshalb bist du auf der Flucht?“, unterbrach sie ihn, einen fordernden Ton in der Stimme.
„Ich habe die vier irdischen Elemente aus Norgarths Tempel gestohlen.“
„Welche Elemente?“ Sie stutzte. „Etwa Silber, Gold und Edelsteine?“
Koren lachte bitter auf. „Das würde dir gefallen! Nein, es sind Erde, Feuer, Luft und Wasser ... mehr darfst du nicht erfahren, glaube mir – es ist besser so!“
„Trägst du das in diesen Beuteln bei dir?“ Skeptisch deutete sie durch die Gitterstäbe auf seinen Gurt.
Koren nickte.
„Hier drin versteckst du Feuer, Luft und Wasser?“, entfuhr es ihr amüsiert.
„... und Erde.“
„Du bist verrückt, weißt du das?“ Zum ersten Mal lächelte sie.
„Ja, ich bin verrückt“, seufzte er. „Bringe mir jetzt bitte mein Schwert“, drängte er.
Sie zögerte.
„Vertraue mir!“, flehte er, doch Kara war bereits vom Fenster verschwunden.
Mit gequältem Blick starrte er durch die Gitterstäbe in die Nacht. Die Minuten verrannen träge und Kara tauchte nicht wieder am Kerkerfenster auf. Jenseits der Gitterstäbe war der Horizont nicht mehr länger dunkel, sondern verfärbt sich inzwischen zu einem schmalen silbernen Faden. Die Zeit lief ihm davon. Koren rechnete sich seine Chancen aus, wahrscheinlich würden ihm nur noch wenige Atemzüge bleiben.
Da war es! Erschrocken hob er den Kopf. Zuerst roch er den bestialischen Schwefelgestank, der zu ihm in das Verlies hinunter wehte, dann kroch eine feuchte Nebelwand durch die Gitterstäbe des Kerkers. Schon bald würden die Schatten wie Berserker über das Dorf herfallen und alles Leben zermalmen. Einmal erst hatte er sie im Kampf gesehen. Genau wie damals, würden sie auch jetzt plötzlich da sein, durch die Straßen jagen, lautlos und von den Magiern mit der Gabe der Nachtsicht versehen. Und dennoch konnte man die Kreaturen töten, wie er wusste. Er selbst war aber noch zu schwach für einen Kampf. Wenn ihn die Schattenwesen jetzt fänden, würden sie ihn mühelos zerreißen.
Im nächsten Augenblick war es soweit. Es geschah schneller und schrecklicher als Koren befürchtet hatte. Von draußen drangen die ersten Schreie der Frauen und Kinder durch den Nebel in sein Kellerloch. Durch die Milchsuppe blitzte das Flackern der Fackeln und Öllampen. Er hörte Türen schlagen, Stiefel trampeln, Pferde wiehern und das dumpfe Stampfen ihrer Hufe. Lanzen brachen und Schilder krachten entzwei. Er vernahm das Zischen der Armbrüste und das Klirren der Schwerter. Das würde die Kreaturen nicht aufhalten. Koren wusste, die hatten Männer keine Chance gegen sie. Es war, als kämpfte man gegen einen unsichtbaren Feind. Augenblicke später drangen die Geräusche des Todes durch die Nacht. Das Fleisch der Männer riss, ihre Sehnen schnalzten, ihre Knochen brachen, und Koren hörte das Geräusch, als ihnen die Haut vom Leib gezogen wurde. Das Gebrüll der Verwundeten und Verkrüppelten machte ihn taub, ohne Ende schrien sie gellend und schmerzgepeinigt auf.
Koren konnte die Augen nicht schließen. Verzweifelt starrte er durch die Gitterstäbe und riss an den Fesseln. Das alles hätte nicht geschehen dürfen! Häuser und Ställe brannten, Pferde, Esel und Schafe flohen in wilder Panik durch den Ort. Koren hörte das Rasen und Zischen der Kreaturen. Sie wüteten wie Bestien aus der Hölle. Er roch verbranntes Fleisch und versengte Haare, und immer noch hörte Koren das Brüllen der Männer, die einer nach dem anderen starben.
Das Splittern der Eichenpfosten und Türen des Kellergewölbes ließ ihn zusammenfahren. Früher oder später war damit zu rechnen gewesen. Auf der Suche nach ihm würden die Schatten das gesamte Dorf zermalmen und jeden Winkel umstülpen, solange bis sie ihn gefunden und zur Strecke gebracht hatten. Wie Blutbestien polterten sie durch die Gewölbe des Kerkers. Ihre zu Krallen manifestierten Schatten kratzten entlang der Steinwände. Korens Leben bestand nur noch aus einer kurzen Zeitspanne zwischen diesem Augenblick und seinem Tod. Auch wenn er keine Waffe trug, würde Koren erst aufgeben, wenn er den letzten Atemzug ausgehaucht hatte.
Noch einmal spähte er zu dem vergitterten Fenster. Von Kara war keine Spur. War sie bereits wie alle anderen im Kampf gefallen oder während ihrer Flucht abgeschlachtet worden? Koren atmete tief aus, biss die Zähne zusammen und riss den rechten Arm in einer ungestümen Bewegung herum. Mit einem Knacken renkte er sich den Daumen aus dem Gelenk. Er brüllte auf, als wollte er die Steinquader des Kerkers zum Einsturz bringen. Der Schmerz machte ihn lebendig, das Adrenalin fuhr ihm durch die Glieder. Koren spürte wie die Kraft im Körper zurückkehrte. Er biss die Zähne zusammen und quetschte mit einem Ruck die Hand aus der Eisenschelle, sodass Hautfetzen in der Fessel hängen blieben. Seine Rechte war frei. Mit vor Schmerz verkrampften Fingern tastete er zum Eisendorn an der Wand, zerrte ihn aus der Mauer und zog die schweren Kettenglieder durch die Ösen der Handschellen und Fußangeln. Als das letzte Glied der Kette die jeweiligen Stahlreifen durchlief, sprangen die Fesseln auf. Mit zittrigen Knien stolperte er in die Mitte des Kerkers, wo er zusammenbrach.
Krachend barst die Tür vor ihm auseinander. Koren hob den Blick, das Holz hing nur noch in zerfetzten Splittern in den Angeln. Ein dunkler, nach Schlamm und Kot stinkender Schatten schob sich in den Kerker. Koren stemmte sich auf, starrte in die Augen der Kreatur und taumelte zurück an die Wand. Seine Linke ballte sich zur Faust.
Die Schattenkreatur breitete sich in dem Gewölbe aus, verformte sich, bleckte die Fänge, öffnete ihre Klauen, spreizte die Krallen und richtete sich zum tödlichen Schlag auf.
„Da!“, hörte Koren plötzlich Karas Stimme über seinem Kopf. Klimpernd fiel Korens Schwert durch das Kellergitter und blieb wippend im Erdreich zwischen seinen Füßen stecken.

Die Schlacht

Die Kreatur raste auf Koren zu. Er riss das Schwert mit der Linken aus dem Boden, ging gleichzeitig mit dem Schwung in die Hocke und ließ die Klinge über den Kopf kreisen. Der Stahl schnitt durch Schuppen, Haut, Sehnen, Fleisch, Knorpel und Knochen. Schwarzes Blut spritzte Koren in Fontänen übers Gesicht. Er schmeckte das bittere, gallige Sekret und presste die Lippen aufeinander. Er musste sich beeilen, bevor sich die Wunde schloss und sich das Schattenwesen vollständig regenerierte. Mit einem gewaltigen Ruck riss er das Schwert herum, holte über der Schulter ein weiteres Mal aus, diesmal kräftiger, und stieß die Klinge zwischen den Platten des Brustpanzers in das Wesen. Er stemmte sich mit seinem gesamten Gewicht gegen das Geschöpf, trieb den zweischneidigen Stahl bis zum Heft in das Fleisch und riss ihn mit einer halben Drehung herum. Ein Schwall zähen Blutes schwappte ihm entgegen.
„Stirb endlich!“, brüllte Koren.
Die Kreatur wälzte sich herum, bäumte sie unter ihm auf und kreischte wie ein Muttertier, das unter Schmerzen Junge gebar.
Noch während das erste von fünf Nachtgeschöpfen zu nebulösem Dampf zerfiel und seine Seele aushauchte, stürzte Koren durch die Gänge des Kerkers. Er jagte vorbei an zersplitterten Türen, aufgebogenen Gittern, über fortgerissene Mauerteile, eine Treppe empor und hinaus auf die Straße. Die Dorfschenke stand in Flammen, von seinem Pferd fehlte jede Spur. Wahrscheinlich hatte es sich losgerissen. Umgeben von Feuer, Schwefeldampf und Brandgeruch blickte sich Koren um. Am Horizont loderten bleifarbene Nebelschlieren, das Firmament wurde von grauen Blitzen durchzuckt. Um ihn herum starben Menschen, verbrannte Fleisch, verbluteten Körper. Wie Vieh wurden die Bewohner des Dorfs abgeschlachtet.
War es das Wert, dass die Menschen in diesem Ort ihr Blut für ihn vergossen? War es das Wert, dass ein gesamtes Dorf niedergemetzelt wurde? Ohnmächtig stand er auf der Gasse und starrte auf die brennenden Dächer. Er konnte die Menschen nicht retten, keinen einzigen von ihnen. Vielleicht konnte er nicht einmal sich selbst retten.
„Was ist so wichtig an diesen verdammten Beuteln?“, kreischte Kara. Sie stolperte aus einer Häusernische an seine Seite. Der Stoff ihres Mantels war versengt, Getreidehalme standen aus ihrer Mähne, als hätte sie sich vor kurzem noch in einem brennenden Stall versteckt gehalten. „Gib sie diesen Bestien zurück!“
„Nein! Niemals!“ Koren blickte sich gehetzt um.
„Gib sie ihnen, wenn dadurch das Schlachten aufhört!“, flehte Kara. „Mein Vater und meine Brüder sterben!“
„Du verstehst nicht. Wir würden trotzdem sterben!“
„Aber ...“
„Es gibt nur einen Weg, wie die Wächter an die Lederbeutel herankommen ... sie müssen sie vom Gurt meines Leichnams reißen!“
Koren spürte die lautlose Bewegung einer Bestie, hörte das Zischen der Luft und das Brüllen eines Verwundeten. Er lief darauf zu, nach wenigen Atemzügen würde er dem Wesen gegenüber stehen. Kara folgte ihm.
„Was ist so wichtig daran, dass du dafür sterben würdest?“
„Die Alchemisten können damit Norgarths Kreaturen für immer vom Antlitz der Erde verbannen.“
„Dann verwende du sie jetzt, bevor die Dämonen noch mehr Menschen abschlachten!“
Die Wogen einer Nebelbank waberten auseinander, dahinter erkannte Koren den Schatten einer Kreatur, die sich aufbäumte und wieder zu Boden fiel.
„Das kann ich nicht“, brüllte Koren hastig. „Ich führe zwar das Rezept in der Schriftrolle mit mir, aber nur die Radjinns können die vier Elemente in ein Elixier umwandeln.“
„Versuche es!“ Kara blieb abrupt stehen. Der schattenhafte Schädel der Bestie zuckte herum und verformte sich. Das Monster bemerkte die beiden und setzte sich rasend schnell in Bewegung.
„Nein!“ Koren stellte sich schützend vor Kara. „Ich bin nur damit beauftragt worden, die Elemente zu beschaffen. Ich habe keine Ahnung von Sublimieren und Destillieren. Ich beherrsche den Kampf und das Töten ... aber nicht die Magie!“
Aus dem Augenwinkel bemerkte Koren, wie sich pechschwarze Dunkelheit vom Himmel auf ihn nieder senkte. Fauchend riss auch dieser Schatten das Maul auf und streckte die Krallen nach Koren aus.
„Hinter dir!“ Kara taumelte zur Seite, als sie das dritte Schemen auf Koren zurasen sah.
Es war das letzte Mal, schwor er sich, dass er einen Auftrag der Radjinns angenommen hatte. Ein letztes verfluchtes Mal noch würde er seinen Kopf für sie hinhalten.
„Ich bin hier!“, brüllte Koren hinaus und stieß Kara von sich. Wenigstens wollte er das Mädchen retten.
„Du wirst nicht überleben!“, kreischte Kara. Sie stolperte in eine Seitengasse und presste sich hinter einem Mauervorsprung an die Wand.
„Die Nacht ist noch jung!“, rief Koren und riss das Schwert hoch. „Zu jung, um zu sterben!“
Die drei Umrisse stürzten sich gleichzeitig auf Koren. Schwarzes Blut, Haut, Knochen, Eingeweide und Gedärme spritzten über den Weg. Korens Klinge schrammte funkensprühend über die Schuppen eines Getiers und zerschmetterte die Chitinschale. Der Krustenpanzer splitterte, dornenübersäte Teile schlugen an die Wände der Häuser und verdampften. Fänge, Krallen und Hörner zerschnitten Korens Körper. Die Schatten regenerierten sich, materialisierten sich von neuem, doch immer und immer wieder senkte sich Korens Klinge in ihr zähes, schwarzes Fleisch. Die Bestien bäumten sich auf, der Schmerz und der Blutgeruch machten sie rasend, sie wüteten und gebärdeten sich wie Kampfmaschinen im Blutrausch.
Korens Ohren waren taub vom Heulen und Kreischen der Kreaturen, doch unbarmherzig schlug er um sich und brüllte wie ein Krieger im Todeskampf. Mit zwei, drei kräftigen Hieben verschaffte er sich Luft. Sein Schwert tanzte auf und nieder, die Klinge sirrte durch die Luft, durchschnitt alles was bereits tot war und tötete es noch einmal ... diesmal endgültig.
Als sich der nebelverhangene Horizont verdunkelte und die Sterne am Himmel zu funkeln begannen, taumelte Koren keuchend durch die Gasse. Knöcheltief watete er durch dampfenden Schlamm. Um ihn herum lagen drei tote Bestien, ihr Fleisch vermoderte binnen weniger Augenblicke und versank in der Erde. Korens Mantel war zerfetzt, sein Wams aufgerissen, doch die vier Lederbeutel hingen immer noch unversehrt am Waffengurt. Kara wankte auf die Gasse. Erschrocken starrte sie Koren an, als rätselte sie, ob die dunklen Flecken in seinem Gesicht sein eigenes Blut waren oder das der Bestien.
Unsicher blickte sich Koren um. Die Nebelbank löste sich auf und verflüchtigte sich in einzelne milchige Schwaden. Fröstelnd und zitternd stolperte Kara an seine Seite. Ungläubig starrte sie zuerst auf die Überreste der Kreaturen, dann hob sie den Blick und betrachtete Koren.
„Was hast du?“, fragte sie, als sie seine gerunzelte Stirn und die zusammengekniffenen Augen bemerkte.
„Horch!“ Er hob die Hand und lauschte. Doch nur das Knistern des Feuers war zu hören. Vereinzelt blökte ein Schaf, sonst war es still.
„Was ist?“ Kara drängte sich näher an Koren.
„Vier Kreaturen sind tot.“ Er blickte Kara fragend an. „Wo ist die Fünfte?“ Hastig blickte er über die Schulter.
Koren zog die Stiefel aus dem schwarzen Morast und wankte in die Mitte des Weges. Er füllte die Lugen mit Luft und stieß einen kräftigen Pfiff nach seinem Streitross aus, der sogleich in den leeren Gassen verebbte. Sie warteten, doch nichts rührte sich. Mit einem Mal teilten sich die Nebelschwaden vor ihnen und ein dunkler Schatten raste die Straße entlang. Mit einem Satz sprang Kara hinter Koren.
„Mein treuer Freund“, rief Koren, als er sein Ross bemerkte, das schnaubend vor ihm Halt machte. Die Zügel hingen zerfetzt vom Zaumzeug. Koren strich dem Tier über die Nüstern und kraulte seine Mähne hinter dem Ohr. Mit einer flinken Bewegung ließ Koren das Schwert in die Scheide gleiten und überprüfte die Inhalte der Satteltaschen. Das Dörrfleisch und die Trockenfrüchte waren noch da. Bis zur Küste würde der Proviant reichen. Er umklammerte den Knauf und schwang sich in den Sattel.
„Reitest du weiter?“ Kara blickte zu ihm auf.
Koren nickte.
„Dein Name ist nicht Simon“, stellte sie fest.
Wiederum nickte er.
„Nimmst du mich mit?“, fügte sie leise hinzu. Mit einer raschen Bewegung band sie ihre Mähne zu einem Zopf.
Koren ließ die Schultern sinken und blickte sie traurig an. „Diesmal waren es nur vier, aber es werden weitere Schatten kommen, um mich aufzuhalten.“
Kara nickte verständnisvoll.
„Doch bevor sie kommen, muss ich es bis zu Abu´l-al-Iqusims Palast geschafft haben“, fuhr er fort. „Mir bleibt nur noch ein Tag, bis die Lederbeutel schmelzen. Mein Schiff liegt an der Küste, dort kann ich die Elemente in mit Schwefelsulfid gefüllten Metallbehältern aufbewahren – doch nur für drei weitere Wochen, dann muss ich Damaskus erreicht haben. Die Radjinns erwarten mich dort. Sie müssen ihr Experiment weiterführen, die vier Elemente miteinander verbinden und die wechselseitige Umwandlung ineinander erfolgreich beenden. Mit dem daraus extrahierten Samen kann das Elixier zur Vernichtung der Kreaturen gebraut werden.“
Er machte eine Pause. Eigentlich müsste er schon längst unterwegs sein, dennoch stand er mit seinem Pferd reglos auf der Stelle. Er wusste nicht, weshalb er Kara das alles erzählte. Traurig blickte er in ihre Augen. „Es wird gefährlich, doch vieles hängt von dieser Mission ab. Die Befreiung aus der Sklaverei, Weisheit und ewiges Leben warten auf uns! Möchtest du immer noch mitkommen?“
Ohne zu antworten trat sie an seine Seite und schwang sich auf das Pferd.
„Gut“, murrte Koren, „dann soll es so sein!“
Er gab dem Ross die Sporen und gemeinsam galoppierten sie durch die engen Gassen zum Ortsende, vorbei an ausgebrannten Häusern und dem Erdboden gleichgemachten Ställen. Bevor sie aus den Schatten der letzten Lehmhütten auf das freie Feld in das Mondlicht ritten, stellte sich ihnen ein Wesen taumelnd in den Weg. Koren riss die Zügel des Pferdes herum und griff nach dem Knauf des Schwerts.
Die Gestalt wankte ihnen entgegen. Jan war über und über mit Blut besudelt, sein Wams zerrissen, die Rechte hing ihm leblos an der Seite hinunter. Tiefe Furchen durchzogen sein Gesicht, den Hals und den bloßgelegten Oberkörper. Mit der Linken umklammerte er sein Schwert.
„Du bist also aus dem Kerker entkommen, alter Mann!“, stellte Jan fest und spuckte Blut auf den Weg.
„So wie du aus der Schlacht“, bestätigte Koren und blickte hinunter auf den Sohn des Dorfschmieds.
„Jan, du lebst?“, entfuhr es Kara, als sie ihren Bruder erkannte.
„Als einziger“, keuchte er. „Die anderen Männer des Dorfs sind im Kampf gefallen.“ Er trieb die blutverschmierte Schwertklinge in die Erde und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Der dreibeinige Hund aus der Dorfschenke tauchte hinter Jan auf und humpelte über den Weg. Scheu presste er den Körper an Jans Bein.
„Ich habe eine dieser Höllenbestien getötet“, sagte der Hüne.
Koren zog eine Augenbraue hoch. „Du hast mit deiner Linken gekämpft!“, stellte er verwundert fest.
„Dank dir, alter Mann, blieb mir keine andere Wahl.“
„Du bist ein mutiger Krieger“, bemerkte Koren.
Jan starrte auf Korens verkrüppelte rechte Hand, durch die er vor kurzem den Pfeil seiner eigenen Armbrust gejagt hatte. Korens Daumen war noch immer ausgerenkt.
„Und du bist wahrhaftig Koren, der Leibwächter der Radjinns“, murrte Jan.
Koren nickte müde. „Und jetzt?“, wollte er wissen, da ihnen der Riese immer noch den Weg versperrte.
Jan blickte sich um und deutete auf die Überreste des Dorfs. „Ich habe vieles gutzumachen“, murmelte er. „Lass mich dir folgen!“
„Nein!“, entgegnete Koren bestimmt. „Du bist roh und ungestüm, du musst erst geschliffen werden.“
„Dann lass mich von dir lernen.“
Koren überlegte. Mittlerweile war er selbst zu alt geworden, um weitere Schlachten zu führen. Noch dazu wurden im Palast der Radjinns mutige, kräftige Männer gebraucht. Doch bis Damaskus war es ein weiter Weg. Koren zögerte. „Ich weiß nicht ...“
Der Hund bellte an Jans Seite und schüttelte sein struppiges Fell.
Betrübt starrte Koren auf die beiden. „Wir reiten die Nacht durch. Hast du ein Pferd?“
Anstatt zu antworten, stieß Jan einen Pfiff aus. Einen Augenblick später trabte ein zotteliger Gaul aus der Dunkelheit heran.
„Wohin geht es?“ Jan schwang sich in den Sattel. Er steckte das Schwert in die Scheide, die an der Flanke des Pferdes hing, und umklammerte die Zügel mit der Linken. Mit einem Satz sprang ihm der Hund in den Schoß.
„Im nächsten Dorf machen wir Halt“, antwortete Koren. „Dort essen wir einen Teller heiße Suppe, bevor wir uns bis zur Küste durchkämpfen und gegen die Kreaturen in die nächste Schlacht ziehen.“
Jan nickte stumm.
„Auf nach Damaskus!“, rief Koren und gab dem Ross die Sporen.


© August 2000 by Andreas Gruber

08. Mai. 2006 - Andreas Gruber

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