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Wie der Grinch Weihnachten gerettet hat von Timo Bader
Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Räum gefälligst deine Sachen auf, fluchte der Grinch. Sonst fällt noch einer drüber und bricht sich den Hals.
Gretchen kauerte in einer Ecke der kalten Höhle, dick eingepackt in einen Mantel mit Fellkapuze, und legte das Spielzeugauto beiseite, das sie gerade über den Boden geschoben hatte. Immer fand der grimmige Grinch etwas zum Meckern, ständig nörgelte er an ihr herum. Widerwillig sammelte sie ihr Spielzeug ein, das in der ganzen Höhle verstreut lag. Der Grinch schenkte ihr viele Sachen, weil er sie sehr mochte, wie er oft betonte: einen Fußball, kuschelige Stofftiere, ein Springseil mit Holzgriffen, ein Kartenspiel, einen Kreisel und mehr. Zum Beispiel die Puppe, deren Gesicht ihrem so ähnlich sah, und die Bürste und den Spiegel. Gretchen kämmte das schwarze Haar, während sie daran dachte, dass sie selbst einmal eine Puppe gewesen war. Zumindest behauptete das der Grinch, der sie dann angeblich zum Leben erweckt hatte. Jedes Mal, wenn sie nach ihren Eltern fragte, erzählte er ihr diese Geschichte.
In solchen Augenblicken erlebte sie den Grinch ungewöhnlich nervös. Dann kratzte er sich, als bissen ihn Flöhe, und starrte Löcher in die Luft. Nervöser verhielt er sich nur, sobald sich das Weihnachtsfest näherte.
Der Grinch hasste Weihnachten.
So viele Gefahren, jammerte er. Die Kerzen an den Bäumen lösen Brände aus, und am Geschenkpapier kann man sich schneiden. Furchtbar, ganz, ganz furchtbar!
Dem konnte Gretchen nicht zustimmen. Wenn sie es sich mit Max, dem weißen Hund mit den schwarzen Punkten, am Abend der Weihnacht vor der Höhle des Grinch gemütlich machte, hoch oben auf dem höchsten Berg, und die Vorbereitungen für das Fest beobachtete, die strahlenden Lichter und die wundervoll geschmückten Tannenbäume, dann kribbelte es in ihrem Bauch, als hätte sie Schmetterlinge statt heißem Kakao getrunken.
Putz deine Zähne, aber gib Acht, dass du dich nicht mit der Zahnbürste verletzt, knurrte der Grinch. Und dann zieh deinen Schlafanzug an. Aber setzt dich hin, um in die Hose zu schlüpfen, und hüpf nicht wieder wie ein Gummiball durch die Gegend, sonst brichst du dir noch ein Bein.
Ja, Papa, antwortete Gretchen.
Dabei hatte sie gar nicht vor, dem Grinch zu gehorchen. Ihr war nach Aufsässigkeit zumute; sie wollte an diesem besonderen Abend nicht schon so früh zu Bett gehen. Im Gegenteil: Gretchen plante bereits seit geraumer Zeit, sich an Weihnachten aus der Höhle und ins Tal zu schleichen, wo sie das Fest mit den Menschlingen feiern konnte.
Die Menschlinge liebten Weihnachten.
So wie Gretchen.
Sie wusste, dass der Grinch nach draußen gehen würde, so wie er es jedes Jahr am Abend der Weihnacht tat, um hasserfüllt und verachtend auf die Stadt herabzublicken.
Ihr blieb nicht viel Zeit. Hastig band sie ihr Haar zu zwei Zöpfen und schlich sich zum Hinterausgang der Höhle. Max folgte ihr. Erst wollte Gretchen ihn wegschicken, dann entschied sie, dass es nicht schaden konnte, wenn er sie begleitete. Stets leisteten der Hund oder der Grinch ihr Gesellschaft, sodass sie sich fürchtete, allein zu sein.
Auf allen vieren krochen sie durch den engen Spalt und gelangten so nach draußen. Ein schmaler Weg führte sie um den Berg herum und ins Tal. Gretchen glaubte den Grinch oben vor der Höhle sitzen zu sehen, verkrampft vor Zorn und Abscheu, doch der Wind blies kalt und es schneite stark, wodurch sie sich nicht sicher war. Vielleicht hatte sie auch nur einen toten Fels gesehen.
Max freute sich über den Schnee und schnappte verspielt nach den Flocken, während er um sie herumhüpfte.
Nach einer Weile erreichten sie die Stadt. Hunderte Menschlinge rannten wie wild durch die Gegend, und schon bald geriet Gretchen in ein schreckliches Gedränge. Menschlinge schoben sich in die großen Einkaufsläden, wobei sie sich gegenseitig schubsten und mit den Ellbogen stießen, und andere strömten heraus und boxten sich frei.
Sollte man an Weihnachten nicht Zuhause bleiben und mit der Familie feiern?, fragte sich Gretchen.
Das kann nur jemand sagen, der schon alle Geschenke besorgt hat, maulte ein großer Mann, und da bemerkte Gretchen, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte. Ich muss noch etwas für meine Frau besorgen, sonst macht sie mir die Hölle heiß. Irgendetwas Teures, eine Halskette vielleicht.
Schon pflügte sich der Mann durch die Menge und verschwand.
Das ist ja nicht auszuhalten, seufzte Gretchen.
Weil sie Angst hatte, sie könnte von Max getrennt werden, oder der Hund würde unter die stampfenden Füße geraten, flüchtete sie aus der Menge in eine ruhigere Gasse.
Dort standen zwei kleine Menschlinge, die ungefähr in ihrem Alter sein mussten, und Gretchen ging zu ihnen.
Hallo ihr, begrüßte sie die beiden. Seid ihr schon gespannt, was ihr zu Weihnachten bekommt?
Ich hoff, ich krieg ´ne Y-Box, maulte der eine.
Eine was?, fragte Gretchen verwirrt.
Eine Spielkonsole, erwiderte der andere und musterte sie abschätzend. Wer keine hat, ist total uncool. Meine Mum kauft mir ´ne Woo. Der absolute Burner!
Aber bringt denn nicht der Weihnachtsmann die Geschenke, wunderte sich Gretchen, und legt sie unter den Baum?
Wie bist du denn drauf?, fragte der eine.
Den Weihnachtsmann gibt es nicht, erklärte der andere. Du bist mir ja vielleicht ein Freak.
Ohne noch etwas zu sagen, kehrten die beiden kleinen Menschlinge ihr den Rücken zu und liefen weg.
Aber was ist mit den Rentieren? Dem traditionellen Baumschmücken? Den Plätzchen?, flüsterte Gretchen. Es geht doch nicht nur um irgendwelche teuren Geschenke!
Plätzchen gibt es schon seit September in den Läden zu kaufen, meldete sich eine Stimme hinter ihr.
Gretchen drehte sich herum und sah eine alte Frau auf sie zukommen. Sie trug altmodische Kleider, schwarz wie die Nacht, und eine Brille mit dicken Gläsern.
Bis es Weihnachten ist, haben sich die meisten daran satt gegessen, fuhr die alte Frau fort. Die Dekoration hängen die ersten schon im Oktober raus. Spätestens im November schleppen auch die Letzten die Plastiktannen aus dem Keller und streuen das Lametta auf die Zweige.
Aber was macht ihr dann an Weihnachten?, fragte Gretchen und schüttelte vor Unglauben den Kopf.
Wir streiten, antwortete die alte Frau und lächelte humorlos. Oder wir feiern allein, weil wir uns im Vorjahr gestritten und seither nicht wieder versöhnt haben.
Aber das ist
furchtbar. Traurig verzog Gretchen den Mund und musste sich zusammenreißen, um nicht loszuheulen.
Du erinnerst mich an jemand
, meinte die alte Frau plötzlich. Sie legte ihr die Hand auf die Wange. Kann es möglich sein? Du siehst aus wie meine Enkelin
Gretchen wich zurück, weil sie dachte, die Alte könnte verrückt sein. Der Grinch hatte sie immer gewarnt. Sprich nicht mit Fremden, sagte er oft in bedeutsamem Tonfall. Manche von den Menschlingen ticken nicht ganz richtig.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich aus der Höhle zu schleichen und in die Stadt zu gehen. Obwohl die alte Frau ihr etwas nachrief, rannte Gretchen, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben gerannt war. Max jagte ihr hinterher und wäre gerne noch weiter gelaufen, aber irgendwann konnte sie nicht mehr und blieb erschöpft vor einem Hauseck stehen.
Weihnachten habe ich mir anders vorgestellt, murmelte sie. Niemand glaubt mehr an den Weihnachtsmann, alle hetzen nur durch die Gegend, sind unfreundlich und unhöflich.
Glaubst du mir jetzt?, fragte eine Stimme, die sie sehr gut kannte, aber nicht an diesem Ort erwartet hätte.
Der Grinch streckte seinen Kopf um die Ecke. Der Rest von ihm blieb hinter der Hauswand verborgen.
Ja, du hattest recht, gestand Gretchen. Weihnachten ist furchtbar, ganz, ganz furchtbar. Bist du böse?
Nein. Verzeihend lächelte der Grinch. Du musstest es selbst erleben. Weihnachten kann gefährlich sein. Aber das heißt noch lange nicht, dass es furchtbar ist.
Ist es doch, beharrte Gretchen. Ich traf einen Mann, der ein teures Geschenk kaufen musste, weil seine Frau ihn sonst zur Hölle schickt. Und zwei Kinder wollten unbedingt eine Spielkonsole, sonst wird ihnen kalt oder so. Und diese alte Frau war eine Irre. Sie hielt mich für ihre Enkelin.
Ihre Enkelin? Voller Überraschung riss der Grinch seine Augen weit auf. Bist du dir sicher?
Ja, aber ihr war Weihnachten so egal wie all den anderen Menschlingen. Alle denken nur an Geschenke, und wer nicht das richtige bekommt, der fängt einen Streit an.
Nun, vielleicht sollten wir das ändern? Endlich kam der Rest des Grinchs hinter dem Haus hervor. Er trug einen roten Mantel und hatte einen dicken Bauch, bei dessen lustigem Anblick Gretchen kichern musste. Seine Schuhe steckten in Stiefeln, an denen kleine Glöckchen hingen, die bei jedem Schritt klingelten. Auf den Kopf setzte sich der Grinch eine Mütze und klebte sich einen weißen Bart ins Gesicht.
Du bist der Weihnachtsmann!, jubelte Gretchen.
Und ihr zwei seid meine Helfer, erwiderte der Grinch. Mit diesen Worten zeigte er ihr ein rotes Kleid, auf das goldene Sterne aufgenäht waren, die hell funkelten.
Gretchen freute sich und schlüpfte gleich hinein. Es passte perfekt. Der Grinch zog einen kleinen Wagen hinter sich her, der an der Seite rot und gold angemalt war. Er spannte Max davor, der begeistert bellte.
Der Wagen ist leer, bemerkte Gretchen enttäuscht.
Ist er das?, fragte der Grinch. Seine Hand griff auf die Ladefläche, und als er sie zurückzog, hielt er einen Korb mit frischen Plätzchen in den Händen.
Das ist Zauberei. Gretchen staunte.
Nein, sagte der Grinch, das ist Weihnachten.
Die Plätzchen dufteten herrlich. Gretchens Magen knurrte, und ihr fiel ein, dass sie nichts zu Abend gegessen hatte. Auffordernd hielt ihr der Grinch den Korb hin, und sie nahm einen Keks und biss gierig hinein. Er schmeckte nach Zimt und Schokolade, süß und lecker.
Ich dachte, du hasst Weihnachten, sagte Gretchen.
Viel zu lange habe ich mich so sehr davor gefürchtet, erklärte der Grinch, dass ich mir einbildete, ich würde es hassen. Dabei liebe ich Weihnachten, habe es schon immer geliebt. Ich kann nicht glauben, dass die Menschlinge nicht mehr wissen, wie man Weihnachten feiert. Lass sie uns daran erinnern, was das Fest wirklich bedeutet!
Au ja! Sie klatschte in die Hände.
Mit Max als Rentier, dem Grinch als Weihnachtsmann und Gretchen als seinem Helfer fuhren sie auf dem Wagen durch die Stadt und verteilten die Plätzchen. Obwohl es gefährlich war, kletterten sie auf das Dach jedes Hauses und rutschten durch den Schornstein. Anschließend stellten sie die Kekse unter den Baum und verschwanden wieder.
Manchmal beobachteten sie vom Fenster aus, wie die Menschlinge den Korb fanden und die Plätzchen aßen. Dann nahm eine wundersame Verwandlung ihren Lauf: Die Menschlinge lächelten, statt böse zu kucken, sangen Lieder oder tanzten.
Ein altes Familienrezept, verriet der Grinch und zwinkerte ihr zu. Die geheime Zutat ist eine Prise Freude.
So brachten sie weihnachtliche Stimmung in die ganze Stadt, bis in allen Häusern Kerzen brannten, fröhliche Melodien erklangen, und die Menschlinge feierten und lachten.
Am Ende blieb nur noch ein Haus übrig. Es lag einsam abseits, am Rand der Stadt, war eher klein als groß, und in ihm brannte kein Licht. Als Gretchen durch ein Fenster spähte, sah sie die alte Frau im Dunkeln sitzen.
Es gibt keinen Weihnachtsbaum, stellte sie fest.
Dann holen wir einen, schlug der Grinch vor.
Im angrenzenden Wald stießen sie bald auf eine große Tanne. Mit seinen dürren, aber kräftigen Armen riss der Grinch sie aus der Erde. Sie nahmen sie mit und schlüpften durch den Schornstein. Wie verdutzt schaute die alte Frau aus, als sie vor ihr standen: der Grinch, als Weihnachtsmann verkleidet, Gretchen, in dem roten Helferkostüm, Max, der Weihnachtsbaum und ein Korb, gefüllt mit leckeren Plätzchen.
Wer seid ihr?, fragte sie mürrisch.
Wir sind der gute Geist der Weihnacht, antwortete Gretchen geheimnisvoll und lachte über ihren eigenen Scherz.
Es wird Zeit, dass ich euch eine Geschichte erzähle, sagte der Grinch mit ernster Stimme. Vor sechs Jahren gab es einen Autounfall. Eine Frau und ihr Mann kamen beim Schneegestöber von der Straße ab. Der Wagen überschlug sich, und die beiden starben. Deshalb dachte ich viele Jahre, Weihnachten sei gefährlich. Nur die Tochter der beiden, ein kleines Mädchen, überlebte. Ich nahm sie zu mir und zog sie auf. Weil ich dachte, sie hätte keine anderen Verwandten mehr, ließ ich sie glauben, sie wäre eine Puppe, von mir zum Leben erweckt. Aber das war gelogen.
Die Frau
war meine Tochter, vermutete die alte Frau und erhob sich mühsam aus dem Sessel, der laut knarrte.
Aber das
das heißt
, stotterte Gretchen.
du bist meine Enkelin.
Oma? Fassungslos hielt sich Gretchen eine Hand vor den Mund. Konnte es möglich sein? Bist du es wirklich?
Jahrelang habe ich Weihnachten gehasst, brummte ihre Großmutter, weil meine Tochter und ihr Mann einst an diesem Abend verunglückten, und meine Enkelin spurlos verschwand. Jetzt weiß ich, dass es das Fest der Liebe ist, an dem noch wahre Wunder geschehen. Meine Enkelin ist zurückgekehrt!
So schnell sie ihre müden Beine trugen, ging die alte Frau in die Küche und bereitete ein köstliches Essen zu.
Der Grinch und Gretchen schleppten eine alte Kiste aus dem Keller, mit Lichterketten, Kerzen, funkelnden Kugeln und Sternen, mit denen sie die Tanne schmückten. Sie redeten und summten Lieder und versprachen sich, von nun an jedes Jahr zusammen zu feiern wie eine richtige Familie.
Und so hat der Grinch Weihnachten gerettet.
23. Dez. 2008 - Timo Bader
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