Main Logo
LITERRA - Die Welt der Literatur
Home Autoren und ihre Werke Künstler und ihre Werke Hörbücher / Hörspiele Neuerscheinungen Vorschau Musik Filme Kurzgeschichten Übersicht
Neu hinzugefügt
Autoren
Genres Magazine Verlage Specials Rezensionen Interviews Kolumnen Artikel Partner Das Team
PDF
Startseite > Kurzgeschichten > Sabine Ludwigs > Belletristik > Das Fenster

Das Fenster
von Sabine Ludwigs

Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
Das Zimmer liegt im Erdgeschoss. Es ist das Letzte auf dem langen Korridor, ganz hinten rechts, da, wo kaum jemand hingeht und es ungewöhnlich still ist.
Darüber gesprochen wird natürlich nicht, aber es ist ein offenes Geheimnis auf der Krebsstation: Wer hierher kommt, weiß, dass sein Leben bald zu Ende geht.
Hilde Hofer ist verbittert.
Nicht nur, weil sie nach Wochen des Kampfes in eben dieses Zimmer verlegt wird, sondern auch, weil das Bett am Fenster bereits belegt ist.
Ihr eigenes dagegen steht in dem engen Winkel zwischen der Tür und dem Bad, unmöglich, von hier einen Blick hinauszuwerfen, zumal sie sich nicht aufrichten kann - wohingegen die Alte, wie sie die Frau am Fenster bei sich nennt, bequem Maulaffen feilhalten kann.
An Hilde frisst der Neid, und wenn sie es auch nicht laut sagt, so wünscht sie sich jede Stunde sehnlicher, das Bett am Fenster zu bekommen; ja, es schmerzt sie richtiggehend, nimmt ihr schier das letzte bisschen Atem.
„Was gibt `s zu sehen?“, fragt sie ständig aufs Neue, und Antonia, die am Fenster liegt, schaut mitfühlend herüber und erzählt von dem Weihnachtsmarkt, den sie draußen aufgebaut haben.
„Allerliebste Holzhäuschen“, schwärmt sie. „Sie sind mit Tannengrün und rotem Schleifenband geschmückt. In den Zweigen hängen Äpfel und Nüsse. O, es fängt an zu schneien! Ganz feine Flöckchen, die auf den Budendächern liegen bleiben. Es sieht beinahe aus, als wären sie mit Puderzucker bestäubt.“
Sie steckt sich eine Dattel in den Mund, kaut mühsam mit den falschen Zähnen darauf herum, und Hilde muss noch einmal rufen: „Was gibt `s zu sehen?“, bevor sie weiterspricht.
Antonia beschreibt den Christbaum, der inmitten der Buden steht und mit seinen Lichtern ein heimeliges Leuchten verbreitet. Und die scheckigen Ponys, deren Geschirre mit silbernen Glöckchen versehen sind, die, wenn sie im Kreis laufen, bei jedem Schritt so hell klingen, dass Antonia behauptet, sie durch das geschlossene Fenster hören zu können.
Hilde schnaubt.
Antonia lächelt und erzählt von Kindern, die mit vor Kälte geröteten Wangen und glänzenden Augen die Auslagen der Buden anschauen und dabei Zuckeräpfel essen.
„Vor der Kirche“, sagt sie und steckt sich noch eine Dattel in den Mund, „steht eine lebende Krippe mit einem Esel, der die Leute um Leckerbissen anbettelt.“ Sie lacht ein heiseres Lachen. „Und er bekommt sie auch!“
Sie berichtet von bauchigen Bechern mit dampfendem Glühwein, von Lebkuchen und von der Spanferkelbraterei, vor der ständig eine Schlange Hungriger steht und ihr bleibt kaum Zeit Luft zu holen, da will Hilde schon wieder wissen, was es zu sehen gibt.
Also beschreibt Antonia den alten Mann, der seine Enkeltochter auf den Rentierschlitten eines Karussells setzt.
„Ein Kinderchor hat sich vor dem Weihnachtsbaum aufgestellt. Sie singen Ihr Kinderlein kommet ... Können Sie es hören?“
Nein, Hilde hört absolut nichts. Sie riecht auch keineswegs den Hauch von Vanille, den Duft frischer Mandeln oder gegrillter Würstchen. Und, was am schlimmsten ist, Hilde sieht rein gar nichts!
Sie hat schließlich nicht das Bett am Fenster, oder?
Dann, am nächsten Tag, kurz vor Mittag, passiert es: Antonia, die gerade etwas von Schals und Mützen faselt, verschluckt sich an einer Dattel.
Sie keucht.
Sie röchelt.
Aus ihren Augen, die leicht hervortreten, laufen Tränen über das faltige Gesicht und ihre Lippen verfärben sich lila.
Tränenblind tastet sie nach dem Knopf, um nach den Schwestern zu läuten, findet ihn in ihrer Panik nicht, würgt weiter und schlägt sich schwach gegen den mageren Brustkorb.
Jetzt schaut sie nicht mehr aus dem Fenster, denkt Hilde.
Ihre Blicke treffen sich, kurz nur, ganz kurz, bevor Hilde die Lider senkt.
Die Zeit scheint ihr immer gleiches Tempo zu verändern; sie vergeht nun unmerklicher, zäher, kaum messbar - bis es still wird.
Im Bett am Fenster.
Totenstill.
Erst da drückt Hilde den Knopf.

Später, als sich die erste Aufregung ein wenig gelegt und man Antonia in ihrem Bett fortgebracht hat, schüttelt eine Schwester Hildes Kopfkissen auf und rollt, auf ihren Wunsch hin, das Bett mit einem Achselzucken zum Fenster.
Ihr Bett!
Und Hilde, voller Erwartungen und Verlangen, wirft einen Blick hinaus und sieht ... sieht ... eine meterhohe, uralte, mit einer gusseisernen Krone aus Kruzifixen bewehrte Friedhofsmauer, die jede Sicht, jedes Geräusch und sogar noch das Stückchen Himmel vor ihrem Fenster verschluckt.

22. Dez. 2008 - Sabine Ludwigs

[Zurück zur Übersicht]

Manuskripte

BITTE KEINE MANUS­KRIP­TE EIN­SENDEN!
Auf unverlangt ein­ge­sandte Texte erfolgt keine Antwort.

Über LITERRA

News-Archiv

Special Info

Batmans ewiger Kampf gegen den Joker erreicht eine neue Dimension. Gezeichnet im düsteren Noir-Stil erzählt Enrico Marini in cineastischen Bildern eine Geschichte voller Action und Dramatik. BATMAN: DER DUNKLE PRINZ ist ein Muss für alle Fans des Dunklen Ritters.

Heutige Updates

LITERRA - Die Welt der Literatur Facebook-Profil
Signierte Bücher
Die neueste Rattus Libri-Ausgabe
Home | Impressum | News-Archiv | RSS-Feeds Alle RSS-Feeds | Facebook-Seite Facebook LITERRA Literaturportal
Copyright © 2007 - 2018 literra.info