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Weihnachtsfreuden von Lothar Nietsch
Michael Sagenhorn © http://www.phantasaria.de Du kannst nach Hause gehen, ich brauch dich heute nicht mehr, sagte Malte Freimann, ohne von einem Blatt Papier aufzusehen. Er ging die Liste seiner Bestellung noch mal durch, sie schien vollständig, denn der Apotheker legte den Füllfederhalter zur Seite.
Ist gut, Meister, erwiderte Stefan, Maltes Lehrling. Die Geschwindigkeit seiner Bewegungen verdoppelte sich mit der Aufforderung des Meisters. Flugs eilte er in das Hinterzimmer des Verkaufsraums, angelte sich seine Jacke vom Haken und mit langen Schritten durchquerte er den Laden. Erst als er die Tür zur Straße hin öffnete, wandte er sich noch einmal um und mit unsicherem Blick sagte er: Frohe Weihnachten, Meister.
Ja, ja, frohe Weihnachten, ungeduldig winkte Malte mit der Hand in Richtung Tür, wandte den Kopf und über den Rand seiner Brillengläser fixierte er den Jungen. Ein seltsamer Ausdruck trat in seine Augen, er zwinkerte, verzog die Mundwinkel zu einem verschwörerischen Grinsen und fügte hinzu: Meine Frau ist Sonntags bei ihrer Schwester. Du könntest mir bei der Inventur zur Hand gehen. Falls du nichts anderes vorhast.
Alle Farbe wich aus Stefans Gesicht, kaum merklich bebten seine Lippen, er nickte als er mit dünner Stimme antwortete: Ist recht, Meister. Dabei blieb sein Blick wie zufällig auf der Tasse mit noch dampfendem Tee hängen, die neben Maltes Papieren auf der Schreibfläche des Sekretärs stand. Kurz blitzte es in Stefans Augen auf, dann wandte er sich hastig um, trat auf die Straße und zog die Tür hinter sich zu.
Malte betrachtete dabei Stefans jugendlichen Hintern und er grinste noch immer, als er sich wieder dem Blatt Papier zuwandte, es ordentlich zusammenfaltete und in einen Umschlag steckte. Danach griff er zu der Tasse und führte sie an die Lippen. Der Junge hatte wieder zu viel Honig erwischt, die Süße überdeckte jeden anderen Geschmack. Trotzdem trank Malte die Tasse aus, stellte sie neben dem Umschlag ab und mit knackenden Gelenken erhob er sich. Es war schon spät, Zeit den Laden abzusperren und nach oben zu gehen. Hilde wartete bestimmt schon mit dem Abendessen auf ihn. Bis vor wenigen Minuten hatte er ihre Schritte über sich vernommen, wenn sie in der Küche werkelte. Die seit einiger Zeit vorherrschende Stille aus dem oberen Stockwerk verriet ihm, dass seine Frau mit den Essensvorbereitungen fertig war.
Irgendwie fühlten sich seine Knie beängstigend schwach an, er musste sich konzentrieren nicht einfach wegzuknicken. Als er die Ladentür erreicht hatte und den Schlüssel im Schloss drehte, trat Schweiß auf seine Stirn. Die Weihnachtsdekoration im Schaufenster in Form von Engeln, Christbaumkugeln und auf die Scheiben aufgeklebter Sterne, verschwamm kurz vor seinen Augen. Hatte er sich einen Virus eingefangen? Genügend Kunden jedenfalls plagte dieser Tage ein grippaler Infekt. Malte fuhr sich über die Stirn, dabei registrierte er die Taubheit seiner Hand. Er spürte die Berührung kaum, als gehöre seine Hand einem anderen. Er sollte sich einen Kräutertee zubereiten und zeitig zu Bett gehen. Mit unsicheren Schritten schlurfte er zurück. Der Ladenraum wirkte mit einem Mal wesentlich größer als sonst, Malte überkam das Gefühl eine halbe Ewigkeit zu benötigen, bis er die rückwärtige Tür erreicht hatte und seine Hand zum Lichtschalter tastete.
Er knipste das Licht aus, dabei sah er wie gewohnt noch ein letztes Mal zum Tresen und über den Sekretär vor den mit gläsernen Behältern voll gestellten Regalen dahinter. Verdutzt verhielt er in der Bewegung, die Hand schwebte leicht zitternd über dem Lichtschalter. Ein phosphoreszierendes Leuchten fesselte seinen Blick. Es schien in der Mitte des Verkaufsraumes seinen Ursprung zu haben, etwa einen Meter vor dem Tresen. Maltes erster Gedanke war, dass es sich um irgendein Stück der Weihnachtsdekoration handelte, das der Lehrling vergessen hatte wegzuräumen. Dann erinnerte er sich, dass er vor wenigen Augenblicken just über diese Stelle hinweggegangen war, nachdem er die Ladentür zugesperrt hatte. Er kniff die Augen zusammen, starrte angestrengt zu dem Punkt, doch außer jenem grünlichen Leuchten schien sich dort rein gar nichts zu befinden. Vage erkannte er das Muster des Fußbodens in dem schwachen Schimmer, der aus dem Nichts zu kommen schien. Malte nahm die Brille ab, kniff die Augen zusammen und ging auf die Stelle zu, ohne jedoch das Licht wieder anzuschalten. Mit jedem Schritt, den er sich dem Leuchten näherte, schien ihm, als ob etwas in dem Schimmer Form annahm, ein dunkler, hüfthoher Gegenstand.
Ein Jutesack! Malte schnappte nach Luft, als er den Gegenstand im Zentrum des Leuchtens erkannte. Steifbeinig schritt er darauf zu, blieb eine Armeslänge davor stehen. Sein Mund stand offen, die Unterlippe gab den Blick auf eine Reihe nikotingefärbter Zähne frei. Der Apotheker streckte die Hand nach dem Sack aus, langsam näherten sich die zitternden Finger dem groben Stoff. Malte versuchte den Gedanken gar nicht erst zuzulassen, aber es war offensichtlich, dass er Angst hatte. Er vermochte sich nicht zu erklären, wie dieser Sack so unvermittelt hierher gekommen war. Verzweifelt bemühte er sich um das Bild in seinem Gedächtnis, als Stefan gegangen war, doch seine Erinnerung an diesen Moment war ein einziger Brei. Dabei war das doch erst wenige Minuten her. Was war nur los mit ihm? Er hatte das Gefühl in einen Fiebertraum zu versinken. Sein Blickfeld verschwamm, ohne sich vollständig aufzulösen. Wie aus weiter Ferne beobachtete er seine Finger, wie sie den Sack berührten, doch wieder spürte er die Berührung nicht.
In diesem Moment löste sich die Verschnürung wie von Zauberhand und mit geweiteten Augen starrte Malte auf die Gestalt, die sich aus dem Sack erhob. Eine beinahe nackte Amazone, deren Scham lediglich von einem roten Band bedeckt war, das sich über ihre Hüften zum Rücken wand und in einer Schleife am Hals mündete. Die blonden Locken waren unter einer Weihnachtsmannmütze zusammengefasst, grazile Beine steckten in roten Stiefeln, deren Schäfte über die Knie bis zu den Schenkeln reichten. Verführerisch streckte das Wesen die Arme in die Höhe, Maltes Blick nahmen perfekt geformte Brüste gefangen, die sich ihm auf Augenhöhe darboten. Die Schönheit und Anmut raubten ihm den Atem. Niemals zuvor hatte er eine derart atemberaubende Frau erblickt. Sein Leben gäbe er hin, nur um dieses Geschöpf berühren zu dürfen. Den ihn umgebenden Raum nahm Malte nicht mehr wahr, alles schien hinter einem diffusen Nebel verborgen, der seine Welt verschlungen hatte. Sein Denken und Empfinden bündelte sich allein auf dieses unbeschreibliche Verlangen, welches dieses Wahnsinnsweib bei ihm auslöste, schoss mit seinem Blut in die schmerzende Erektion, die sich gegen die Enge seiner Hosen wehrte.
Die bronzene Haut der Frau schimmerte, mit wiegenden Bewegungen umkreiste sie Malte, strichen ihre Fingerspitzen über seinen Kopf, wanderten über den Hals zu seinem Hemdkragen, öffneten die oberen Knöpfe, dann wanderten sie hinunter, zum Saum seiner Hose. Maltes Herzschlag dröhnte in seinen Ohren, seine Atmung beschleunigte, ging stoßweise, gleich einer Erlösung spürte er, wie ihre Finger den Hosenbund öffneten, sich durch den Schlitz seiner Unterwäsche tasteten und sich um sein erigiertes Glied schlossen. Er spürte ihren Leib, der sich gegen die Hitze seines eigenen presste, ihre Schenkel, die sich um die seinen schlangen. Er ließ sich fallen in den Strudel alles überwältigender Gefühle, gab sich hin in Erwartung nie gekannter Liebkosungen, steigerte sich sein geiler Wahn, bis er vollständig von ihm erfüllt war.
Die Finger einer zweiten Hand tasteten über seine Lippen, zwangen sie dazu sich zu öffnen. Maltes Empfindungen kehrten nach und nach an die Oberfläche zurück, er schlug die Augen auf. Es war dunkel, dennoch spürte er die Umklammerung dieses begehrenswerten Geschöpfes, die Finger an seinen Lippen, den Griff um sein Glied. Dabei schob sie ihm etwas in den Mund, eine Praline, dann noch eine und eine weitere. Malte kaute, versuchte zu schlucken, ohne dass ihm dies gelang, wieder schob sie eine Praline nach. Er wollte protestieren, ohne Erfolg. Seine Gefühle kippten, Angst griff nach ihm, steigerte sich in Panik, während sie ihm eine Praline nach der anderen in den Mund schob. In diesem Moment öffnete sich die Ladentür, ohne dass Malte in der Lage gewesen wäre den Kopf zu drehen, erkannte er aus den Augenwinkeln den Weihnachtsmann, der mit boshaftem Grinsen von der Straße in die Apotheke trat. Zehn Zentimeter über dem Kopf der grotesken Erscheinung schimmerte ein Heiligenschein im Licht der in den Laden fallenden Straßenbeleuchtung. Angst schnürte Maltes Kehle weiter zu, mit blutunterlaufenen Augen lachte ihm der Weihnachtsmann aus einem zahnlosen Mund entgegen, rieb sich demonstrativ die Hände, während er mit wiegenden Schritten auf sie zusteuerte. Eben wurde Malte eine weitere Praline in den zum Platzen gefüllten Mund geschoben er bekam kaum noch Luft.
Die Konsistenz der schmelzenden Masse in seinem Mund veränderte sich, begann sich zu bewegen. Mit wachsendem Entsetzen registrierte Malte das Krabbeln unzähliger Beinchen auf der Zunge, haarige, kleine Leiber, die gegen das Zahnfleisch und den Gaumen drückten. Unter Würgen öffnete er den Mund, eine Flut kleiner Wesen ergoss sich über Kinn, Hals und Brust. Spinnen! Aus seinem Mund brandeten daumennagelgroße Spinnen mit leuchtenden Augen, bedeckten in nur einem Augenblick seinen gesamten Körper, senkten ihre Beißwerkzeuge in seine Haut, pumpten ihr brennendes Gift in seinen Leib. Malte schrie, zumindest glaubte er, dass er wie am Spieß brüllte. Keines klaren Gedankens fähig, kreischte er um Erbarmen, bettelte er geifernd darum, diesen Albtraum zu beenden. Aber sie ließen nicht ab. Maltes Gefühlswelt schrumpfte auf Schmerz und Angst zusammen, bewegungsunfähig, fühlte er, wie sich etwas um Hoden und Penis spannte, ein reißendes Gefühl drohte ihm die Sinne zu rauben, Wärme ergoss sich über seinen Unterleib und die Schenkel und endlich legte sich erlösende Dunkelheit um sein Bewusstsein.
Allmählich drangen Bilder, die ihn sexuell erregten zu seinem Bewusstsein vor, holten ihn zurück aus der Geborgenheit des Vergessens, erreichten sein Geschlecht, von dem dumpfes Pochen ausging, das sich zum beißenden Brennen steigerte. Er versuchte sich zu bewegen, aber ohne Erfolg. Nur mühsam realisierte er die Spannung seiner Handgelenke, die hinter seinem Oberkörper fixiert waren. Er schlug die Augen auf. Milchiges Dämmerlicht drang von der Straße durch die Schaufensterscheiben in den Verkaufsraum. In seinem Schein wirkte die Dekoration des Schaufensters farblos und blass. Malte saß auf dem Stuhl vor seinem Sekretär, die Füße mit Hanfseilen an die Stuhlbeine gebunden, ebenso seine Hände, die ein raues Seil hinter der Stuhllehne zusammenhielt. Er versuchte zu schlucken, aber auch das funktionierte nicht. Er begriff, dass er einen Knebel im Mund hatte, ohne dass sein Verstand diese Tatsache akzeptierte. Der brennende Schmerz in seinem Schritt steigerte sich, wischte die Wunschvorstellung beiseite, die ihm zuflüsterte, noch zu träumen. Alles in Ordnung, beruhige dich, du wachst gleich auf. Aber er war bereits wach und nichts war in Ordnung. Diese Erkenntnis durchdrang ihn nach und nach, mit ihr kehrte die Panik zurück, die ihn vor seiner Ohnmacht beherrscht hatte. Nein, das alles war kein Traum gewesen, keine Fieberphantasie und auch keine Wahnvorstellung, jedenfalls nicht in jenem Sinne, wie er sich das gewünscht hätte. Angst drohte seine Atmung zu lähmen, dann registrierte er die beiden Personen, die regungslos am Tresen lehnten und ihn ansahen. Die Amazone und der Weihnachtsmann.
Maltes Herzschlag setzte für einen Augenblick aus. Hilde! Dann erkannte er die andere Gestalt. Hermann Siedler, Stefans Vater. Die Mutter des Lehrlings war vor zwei Jahren an Tuberkulose gestorben. Trotz der Fesseln begannen Maltes Glieder unkontrolliert zu schlottern. Fassungslos sah er wie sich die Lippen seiner Frau zu einem verächtlichen Grinsen formten, während sie mit einer beiläufigen Bewegung zu einem Einmachglas deutete, das neben ihr auf dem Tresen stand. In einer klaren Flüssigkeit schwebten männliche Geschlechtsteile, Hodensack und Penis. Maltes geschulten Augen entgingen die frischen Schnittränder keineswegs, zugleich steigerte sich das Brennen seines Unterleibs auf unerträgliche Weise.
Dein Weihnachtsgeschenk, mein Lieber, drang Hildes sonore Stimme in Maltes Gehör, während der Inhalt des Einmachglases seinen Blick gefesselt hielt. Sieh nur gut hin, sprach sie weiter, das Unterpfand für dein Leben. Verstehst du, von was ich rede?
Malte stöhnte, sein Brustkorb hob und senkte sich wie ein Blasebalg unter den panikgleichen Atemzügen.
Ich hatte schon lange den Verdacht, dass etwas mit dir nicht stimmt. Aber ich begriff erst, wie krank du wirklich bist, nachdem Herr Siedler herausfand, weshalb sich sein Sohn so merkwürdig verhielt. Er hat Blut in Stefans Stuhl gefunden, stell dir vor und Schlimmeres.
Hilde verstummte, bedrohliches Schweigen hing im Raum. Ohne dass er es wollte, wanderte Maltes Blick zu Stefans Vater. Sein Gesicht, eine einzige Anklage, Mordlust sprach aus jeder Pore seiner Züge, die Hände hielt er zu Fäusten geballt. Malte überkam das Gefühl gefrierenden Blutes unter Siedlers eisigem Blick.
In diesem Moment legte Hilde eine Hand auf Siedlers Oberarm, warf Malte dabei ein Lächeln zu, das so gar nicht zu der gegenwärtigen Situation passen wollte und sagte: Es ist Weihnachten, mein Lieber. Ich konnte Stefans Vater davon überzeugen, dass deine Krankheit durchaus heilbar ist und dass sein Sohn nach dieser Behandlung absolut sicher vor weiteren Übergriffen von dir ist. Ja, sogar davon, dass du alles daran setzen wirst, Stefans Ausbildung gewissenhaft fortzuführen.
Maltes Verstand drohte zu kollabieren. Nein, das war zu viel für ihn. Was er hörte, entsprach nicht der Realität, konnte, durfte ihr nicht entsprechen. Doch der zunehmende Schmerz, sein immer deutlicheres Gesichtsfeld, der sich weiterhin lichtende Nebel in seinem Gehirn, all das sprach eine viel zu deutliche Sprache, als dass er sich länger dagegen zur Wehr setzen konnte.
Wir bewahren Stillschweigen darüber, nicht wahr, mein Lieber, erhob Hilde wieder das Wort, dabei beugte sie sich ein wenig zu Malte herunter. Wie sich das wohl aufs Geschäft auswirken würde, sollten die Leute erfahren, was du Stefan angetan hast? Denk darüber nach. Du hast es doch bequem, oder nicht? Wir sind in einer Stunde zurück In ihren letzten Worten schwang ein mokanter Unterton mit, sie nahm Stefans Vater bei der Hand, zog ihn mit sich, ohne Malte eines weiteren Blickes zu würdigen, dann verließen beide den Verkaufsraum durch die rückwärtige Tür. Die Stufen knarrten unter ihren Schritten, als Hilde und Stefans Vater nach oben gingen.
Tränen brannten in Maltes Augen und als er endlich wagte, nach unten zu sehen, schluchzte er auf. Er trug keine Hose, ein blutdurchtränkter Pressverband bedeckte jenen Bereich, wo sich normalerweise seine Geschlechtsorgane befanden. Er schrie, das durch den Knebel dringende Geräusch klang wie das Heulen eines verletzten Tieres. Als Antwort darauf glaubte er das Lachen seiner Frau und ihres neuen Liebhabers aus dem Schlafzimmer zu vernehmen. Als zoome sein Auge darauf zu, trat die Weihnachtsdekoration des Schaufensters in seinen Blick, wie hypnotisiert starrte er auf das mit Fichtenzweigen umrahmte Schild an der Ladentür. Obwohl es mit der Rückseite zu ihm hing, sah er deutlich die verschnörkelte Schrift vor seinem geistigen Auge. Frohe Weihnachten, stand da geschrieben, dann legte sich ein weiteres Mal der gnädige Vorhang der Bewusstlosigkeit über ihn.
20. Dez. 2008 - Lothar Nietsch
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