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Schicksalsschwestern
von Damian Wolfe

Manfred Lafrentz Manfred Lafrentz
© http://www.literra.info/kuenstler/kuenstler.php...
Unaufhaltsam wie ein eisiger Wintersturm stapfte Sven der Kahle über die schlammigen Überreste der einst saftiggrünen Wiese. Flüche, Befehle und Schreie erfüllten die Luft; der Gestank von Blut und Tod bedeckte den Boden.
In Svens Augen funkelte der Wahn eines Berserkers, als er die Axt in die Höhe riss und dann mit einem markerschütternden Schrei nach unten sausen ließ. Der Hieb spaltete den Schädel seines Feindes, der wie vom Blitz getroffen zu Boden ging.
Einen Kriegshund, der ihn mit geifernden Lefzen ansprang, wischte Sven mit einem gezielten Fußtritt beiseite. Das klägliche Jaulen des Tieres drang an seine Ohren, erreichte aber nicht seinen Verstand.
Kalter Schweiß troff unter Svens verbeulten, mit unzähligen Kratzern übersäten Helm hervor, als er einen Schwerthieb mit der Axt abblockte. Seine freie Hand schoss vor, packte den Feind an der Gurgel und zerquetschte dessen Kehlkopf. Sven beendete das röchelnde Leben, indem er dem Fremden kurzerhand den Kopf von den Schultern schlug.
Schon wälzte sich die nächste Welle blutgieriger Angreifer den Hügel hinab. Der Kern seines Verstandes flehte Sven an, den Befehl zum Rückzug zu geben. Doch das Feuer in seinen Adern trieb ihn weiter in die Flut aus Fleisch und Eisen.
»Odin!«, brüllte er, als sich seine Axt durch dünnen Stoff und verletzliche Haut in einen Brustkasten fraß.
»Odin!, Odin!«, erschallte die Antwort der Männer, die ihrem Anführer an Entschlossenheit in nichts nachstanden.
Von allen Seiten fielen die Feinde nun über Sven her, der sich, wie der Götterwolf Fenrir selbst, gegen die Angriffe wehrte. Zwei der Angreifer brachen unter seinen wütenden Hieben zusammen, einen Dritten streckte seine mächtige Faust nieder.
Dann bohrte sich unerwartet ein stechendes Feuer in seine Eingeweide.
Ungläubig starrte Sven auf die schmale Klinge, die aus seinem Bauch ragte. Konnte ein so winziges Stück Metall wirklich solche Schmerzen verursachen? Seine Axt fiel zu Boden, als ein weiteres Schwert seine Hand abtrennte.
»Odin …«, keuchte Sven, bevor er zusammenbrach.

Mit steinerner Miene verfolgte Mista den Verlauf der Schlacht. Sie hatte keine Eile. Ihre Zeit würde kommen, das wusste sie. Sie lächelte zufrieden, während sie beobachtete, wie Sven der Kahle Gegner um Gegner beseitigte.
»Einherjar«, flüsterte sie, als die zweite Angriffswelle über Svens Kopf zusammenschlug.
Es waren zu viele, selbst für einen unerschrockenen Hünen wie ihn. Er würde fallen, bald, und es würde ein Tod sein, der eines tapferen Kriegers würdig war.
»Einherjar«, flüsterte Mista erneut und besiegelte Svens Schicksal.
Endlich ließen die Angreifer von ihm ab und marschierten weiter. Eine Träne rann über Mistas Wangen, und sie stimmte ein Klagelied an, um den Tod eines weiteren großen Kriegers zu betrauern.
Anmutig schritt sie über das Schlachtfeld, über dem ein Kriegshorn zum letzten verzweifelten Widerstand aufforderte. Ihr Blick huschte über glasige Augen und schmerzverzerrte Gesichter, über verstümmelte Körper und blutgetränkten Boden. Sie hätte sie am liebsten alle erweckt, doch das durfte sie nicht. Einer aber hatte sich das Recht verdient, in Walhall einzuziehen.
»Steh auf, Sven Helgisson, den man den Kahlen nennt. Steh auf und folge mir«, hauchte Mista, als sie den Leichnam des Kriegers erreicht hatte.
Sven öffnete die Augen und blinzelte sie an.
»Odin?«, fragte er mit kratziger Stimme.
Gütig lächelnd schüttelte Mista den Kopf.
»Aber Odin wird dich in Walhall willkommen heißen. Dich und die anderen Einherjar.«

»Einherjar?«, wiederholte Sven und setzte sich auf. »Dann habe ich versagt. Dann bin ich gefallen, und du bist …«
»Eine Walküre, ja«, vollendete Mista den Satz. »Doch hättest du versagt, wäre ich nicht hier.«
Sven presste die spröden Lippen zusammen, bis sie nur noch ein Strich in seinem vernarbten Gesicht waren. Dann griff er nach seiner Axt und erhob sich.
»Nach Walhall?«, fragte er unsicher.
»Ja, Sven Helgisson, nach Walhall.«

»Es ist genau so, wie ich es mir immer vorgestellt habe«, flüsterte Sven voller Ehrfurcht, während er den Blick durch die unendlich große Halle Gladsheims schweifen ließ.
Mista lächelte nur, denn sie kannte das rege Treiben, das sich allabendlich in Walhall abspielte: die Trinkgesänge der Einherjar, die sich von den Kampfspielen des Tages erholten; der herzhafte Geruch von Gullinburstis Fleisch, das zu jedem Fest von neuem aus dem Eber geschnitten wurde; der tanzende Glanz der Schwerter, der sich an den Schilden, die die Decke der Halle bildeten, widerspiegelte.
»Odin – wird er …«, setzte Sven an.
»Ja, Odin wird kommen und sich zu seinem Heer gesellen«, versicherte Mista, deren Aufmerksamkeit plötzlich abgelenkt war. »Doch nun setz dich und trink, Sven. Es ist der Lohn für ein Leben, das eines Kriegers würdig war.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie ihren Schützling. Geschickt schob sie sich vorbei an anderen Schildjungfern, die dafür sorgten, dass Speis und Trank nie versiegten. Keinen Moment lang ließ sie ihr Ziel aus den Augen: Skuld, die durch eines der mächtigen Tore nach draußen schlüpfte.
Kaum hatte auch sie die Halle verlassen, umfing Mista die Stille, die sie so sehr liebte. Skuld war zwar verschwunden, doch sie wusste genau, wo sie die Walküre finden würde. Ohne Hast folgte sie den golden glänzenden Gängen, bis sie auf einem der unzähligen Balkons, von denen aus man ganz Asgard überblicken konnte, Skulds wallendes, rabenschwarzes Haar entdeckte.
»Ich habe es gesehen, Skuld«, stellte Mista fest und trat hinaus.
In der Ferne funkelte Bifröst, die Regenbogenbrücke, über die sie Sven erst vor kurzem geleitet hatte. Auch Skuld war mit ihren Einherjar aus Midgard hierher gelangt – aber nicht nur mit ihnen.
»Was hast du gesehen?«, fragte Skuld beinahe gelangweilt, ohne Mista eines Blickes zu würdigen.
»Was du getan hast.«
»Ach? Was habe ich denn Schreckliches getan?«
Langsam drehte sich Skuld um und funkelte Mista mit tiefdunklen, großen Augen an, deren Schwärze ihrem Haar in nichts nachstand.
»Das weißt du sehr wohl selbst«, erwiderte Mista, während sie sich eine silberne Strähne aus dem Gesicht strich, die sich aus dem strengen Zopf gelöst hatte.
Innerlich verfluchte sie sich für die Unsicherheit, die Skuld immer wieder in ihr auszulösen vermochte. Dabei waren sie sich in nicht nur in ihren Kampfeskünsten ebenbürtig, sondern auch in ihrer Muskelkraft, Schönheit und Klugheit.
»Odin wird es bemerken, Skuld. Irgendwann wird er die unwürdigen Krieger bemerken, und dann …«
Skulds helles Lachen brachte Mista zum Verstummen.
»Und dann? Wird er sie aus Walhall verbannen und nach Hel schicken? Denkst du das wirklich, Mista? Dann ist deine Naivität nahezu grenzenlos.«
Bevor Mista antworten konnte, stieß sich Skuld von der Balustrade der Brücke ab, schritt mit hoch erhobenem Haupt an ihr vorbei und verschwand im Inneren der Burg.
»Das vielleicht nicht!«, rief Mista ihr hinterher. »Aber er wird dich bestrafen! Vielleicht wird er stattdessen dich nach Hel verbannen oder dich Fenrir übergeben!«
Mistas Wut schäumte über, weil Skuld es wagte, sie einfach stehen zu lassen. Dankbar sollte sie ihr sein, dass sie nicht einfach zu Odin ging und ihm alles erzählte, was sie wusste!
»Bestrafen? Belohnen wird mich Odin, wenn er es denn je bemerken sollte«, erwiderte Skuld, ohne stehen zu bleiben.
»Das ist es also, was dich antreibt? Du buhlst um Odins Gunst?«
Mista nahm kaum wahr, wie Skuld herumwirbelte. Den Schlag, der sie mitten im Gesicht traf und sie zu Fall brachte, spürte sie umso deutlicher.

Kalter Zorn glitzerte in Skulds Augen, als sie sich über Mista aufbaute, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Hüte deine Zunge, liebste Schildschwester«, zischte Skuld. »Und wage es niemals wieder, mir Selbstsucht zu unterstellen – nie wieder!«
»Weshalb dann? Weshalb verrätst du uns und Odins Gesetz?«
»Halt den Mund!«, schrie Skuld. »Du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst!«
Mista schluckte hart, denn so hatte sie Skuld noch nie erlebt. Der Walküre, die sonst so gefasst, beinahe hochnäsig war, stand die Zornesröte im Gesicht. Ihr Atem ging schwer, und bei jedem Wort, das sie gegen Mista spie, zitterten ihre Lippen.
»Du weißt nichts«, fuhr Skuld fort. »Nein, schlimmer noch: Du weißt es, aber du nimmst es hin, so wie Gullinbursti es hinnimmt, dass sein Leben einzig und allein daraus besteht, den Kriegern Abend für Abend als Mahl zu dienen. Aber das Leben des Ebers hat wenigstens den Sinn, Odins Heer bei Kräften zu halten, während du und die anderen Schildjungfern viel zu sehr damit beschäftigt seid, euch dem Schicksal zu unterwerfen.«
Verwirrt kniff Mista die Augen zusammen. Worauf Skuld nur hinauswollte? Doch Skuld wandte sich um und verschwand in den labyrinthartigen Gängen Gladsheims, bevor Mista Antworten auf ihre Fragen einfordern konnte.

Lange wanderte Mista auf der Suche nach ihrer Schildschwester durch Odins goldene Burg. Sie wusste sehr wohl, dass sie ihre Pflichten vernachlässigte. Sie wusste auch, dass sie sich dadurch Odins Zorn zuziehen würde. Doch bevor sie keine Antworten auf ihre Fragen hatte, war das unerheblich.
Sie fand Skuld in einem Erker, von dem aus sie hinunter in die riesige Halle blicken konnte.
Schweigend setzte sich Mista neben die Walküre und beobachtete das Treiben in Wallhall. Die Festivitäten hatten ihren Höhepunkt erreicht, und auch Odin hatte sich mittlerweile zu seinem Heer gesellt. Als mächtiger Krieger, der er war, thronte er am Kopf aller Tafeln, auf den Schultern die Raben Huginn und Muninn, seine Hände im Fell der Wölfe Geri und Freki vergraben.
»Er wird es herausfinden«, flüsterte Mista, »so sicher, wie die Sonne jeden Morgen aufgeht.«
»So sicher, wie Ragnarök über uns hereinbrechen wird«, entgegnete Skuld, ohne das ausgelassen feiernde Heer der gefallenen Krieger aus den Augen zu lassen.
»Ragnarök?«
»Das verstehst du nicht«, winkte Skuld ab. »Du willst es gar nicht verstehen.«
»Das sagst du bereits zum zweiten Mal«, bemerkte Mista, während sie die Hand auf die Schulter ihrer Schildschwester legte.
»Lass mich!«, zischte Skuld und schüttelte die Hand ab. »Ich gehe meinen Weg, ob Odin mich dafür straft oder nicht. Geh, Mista. Geh und berichte ihm von meinen Taten, wenn du es musst. Aber glaube nicht, dass ich bereue oder dass du mich dadurch läutern wirst.«
»Wenn ich Odin alles erzählen wollte, hätte ich es längst getan. Ich weiß es nicht erst seit heute, …«
Nun blickte Skuld Mista überrascht an. Ihre Augen verengten sich, dann umspielte die Andeutung eines Lächelns ihre Lippen.
»Was hat dich davon abgehalten, mich zu verraten, meine pflichtgetreue Schildschwester?«, fragte sie schließlich.
»Ich will es verstehen, bevor ich endgültig urteile«, er-widerte Mista, die auf einmal spürte, dass ihre Worte bei Skuld nicht nur Trotz und Wut hervorriefen. »Erkläre es mir: Weshalb behandelst du Krieger, deren rechtmäßiger Platz in Hel wäre, wie Einherjar?«
Als Antwort deutete Skuld hinunter zu einer der Tafeln, wo ein drahtiger Jüngling gerade einen Becher Met leerte.
»Das«, verkündete Skuld, »ist Ansgar Björnsson. Er war noch zu jung, um sich einen Namen in der Schlacht zu machen. Und er war zu jung, um zu wissen, wie man einem Kriegshund begegnet. Er schlug sich tapfer, aber seine Angst lähmte ihn.«
»Er ist kein Einherjar«, stellte Mista fest.
»Nein, aber vielleicht wäre er einer geworden.«
»Vielleicht? Es ist nicht unsere Aufgabe, über ein Vielleicht zu urteilen. Unsere Aufgabe ist es, …«
»… die tapfersten Krieger Midgards nach Walhall zu geleiten und Odins Heer zu stärken«, vollendete Skuld den Satz.
Mista nickte, denn sie wollte unter keinen Umständen den Redefluss ihrer Schildschwester unterbrechen. Währenddessen wanderte Skulds Finger weiter, bis er auf einen übergewichtigen, einarmigen Kerl in zerschlissener Rüstung zeigte.
»Herigar, der Flüchtige«, erklärte Skuld. »Der Wundbrand hat ihn seines Armes beraubt. Seither …«
»Seither hat er jeden offenen Kampf vermieden und seine Gegner hinterrücks erschlagen«, ergänzte Mista, ohne zu versuchen, die Verachtung in ihrer Stimme zu unterdrücken.
Skuld lachte auf und schüttelte den Kopf.
»Das ist, wie du es zu sehen beliebst«, sagte sie. »Aber ist es nicht bereits tapfer, in den Kampf zu ziehen und sich seinen Möglichkeiten entsprechend zu verhalten, statt sich gänzlich vor dem Waffengang zu drücken?«
»Waffengang!«, schnaubte Mista. »Seinen Gegner zu meucheln, nenne ich keinen Waffengang.«
Einen Moment lang stellte sich die Walküre vor, wie es wohl sein musste, mit nur einem Arm auf dem Schlachtfeld zu stehen, zu wissen, dass eine Seite gänzlich ungedeckt sein würde und zu den Göttern zu beten, dass der Feind nicht von zwei Seiten gleichzeitig auftauchte.
»Er ist kein Einherjar«, beharrte sie dennoch und setzte damit ihren Zweifeln ein Ende.
Zischend sog Skuld die Luft ein und öffnete den Mund, als wollte sie ihrer Schildschwester eine Antwort entgegenschleudern. Doch sie besann sich eines Besseren, hob verächtlich die Augenbrauen und drehte sich um.

»Du wirst es nie verstehen«, murmelte sie. »Du nicht, die anderen Schildjungfern nicht – vielleicht würde nicht einmal Odin selbst es verstehen.«
»Dann erkläre es mir!«, fauchte Mista, die des Versteckspiels und der ständigen Andeutungen allmählich überdrüssig wurde.
Skuld wirbelte herum, sodass ihr Haar wie die Flügel eines Raben im Wind flatterte. In ihren kohleschwarzen Augen glomm ein Funke, der sich aus Trotz, Entschlossenheit und eisernem Willen speiste. Sie wirkte derart bedrohlich, dass Mista unwillkürlich zurückwich, bis ihre Schultern über Gladsheims goldenes Mauerwerk schabten.
»Bist du wirklich so dumm, liebste Schildschwester, oder einfach nur naiv?«, zischte Skuld. »Muss ich dir wirklich erzählen, was geschieht, wenn Ragnarök über uns hereinbricht?«
»Nein«, entgegnete Mista scharf. »Die Sterne werden vom Himmel fallen, die Erde wird beben und die Berge werden einstürzen. Der Wolf Fenrir wird sich von seinen Fesseln befreien und zusammen mit der Midgardschlange über die Welt herfallen. Odin, die Götter und die Einherjar werden gegen das Heer Hels in die Schlacht ziehen …«
»Und verlieren!«, rief Skuld.
Ein Leichentuch aus eisigem Schweigen legte sich über die Schildschwestern, deren Blicke sich ineinander verfangen hatten und einen unerbittlichen Kampf ausfochten. Die ausgelassenen Gesänge, das Klappern und Klirren von Bechern und Tellern, das fröhliche Gelächter und die prahlerischen Reden, die zu ihnen hinaufdrangen, hörten sie nicht.
»Ja«, flüsterte Mista schließlich. »Sie werden verlieren, wie auch ihre Gegner verlieren werden. Alle werden sterben: Odin, Fenrir, die Einherjar, die Midgardschlange … und auch wir. Ragnarök wird das Ende der Welt sein; das Ende all dessen, was wir kennen und was wir sind.«
Plötzlich bedeckte ein Tränenschleier die Glut in Skulds Augen. Sie blinzelte und wischte mit dem Handrücken über ihr Gesicht, doch sie konnte nicht verhindern, dass die Tränen den Weg über ihre Wangen fanden.

»Ich will aber nicht … sterben …«, schluchzte sie, bevor sie auf die Knie sank.
Hilflos blickte Mista auf ihre Schildschwester hinab. Noch nie hatte Skuld einen Hauch von Schwäche gezeigt. Und nun kniete sie auf dem Boden, das Gesicht in den Händen vergraben und mit von ihrem schwarzen Haar umhüllt, und weinte wie ein hilfloses Kind.
Schließlich näherte sich Mista zögernd ihrer Schildschwester und ließ sich neben ihr nieder.
»Es kommt, wie es kommen muss«, hauchte sie, während sie die Arme um Skulds bebende Schultern legte. »Wir alle wissen um unser Schicksal, und wir akzeptieren es.«
»Genau das ist es, was ich meinte«, antwortete Skuld schluchzend. »Alle nehmen es hin, dass Ragnarök unsere Welt auslöschen und uns vernichten wird.«
»Natürlich, denn niemand kann das Schicksal ändern.«
»Hat es denn schon jemals jemand versucht?«
Skulds Kopf ruckte hoch. Standen in ihren Augen zuvor Stolz und Wille, erblickte Mista nun Hilflosigkeit – und einen kleinen Funken Hoffnung.
»Nein«, antwortete sie. »Weshalb auch? Wir können die letzte Schlacht nicht gewinnen. So ist es vorherbestimmt.«
»Aber vielleicht können wir es doch!«, widersprach Skuld trotzig.
»Das hieße, das Schicksal zu besiegen, und das ist nicht einmal Odin selbst vergönnt.«
»Vielleicht genügt es ja bereits, das Schicksal zu überlisten oder … auf unsere Seite zu zwingen …«
Hätte Mista nicht erkannt, wie ernst Skuld ihre Worte meinte, sie hätte lauthals aufgelacht und den Vorschlag als unsinnig abgetan.
»Wenn das Heer der Einherjar nur mächtig genug ist, dann werden wir siegreich sein! Das ist das Gesetz des Krieges, Mista, das weißt du ebenso gut wie ich«, fügte Skuld mit bebenden Lippen hinzu.
»Und deshalb beraubst du Hel seiner Männer und führst sie nach Walhall, obwohl sie nicht hierher gehören …«
Skuld nickte nur und blickte zu Boden.

»Das ist der falsche Weg«, flüsterte Mista.
»Ist es denn der richtige Weg, in den Tod zu gehen, ohne sich dagegen zur Wehr zu setzen?«
»Indem du die Regeln brichst?«
»Würde niemand die Regeln brechen, wäre Hel ein Ort ohne Leben.«
»Würde niemand die Regeln brechen, würde Hel nicht existieren, und alle Krieger würden hier in Walhall den Lohn für ihre Tapferkeit empfangen.«

Als hätten die gefallenen Krieger das Gespräch belauscht, brandeten aus der Halle Jubelgesänge in den Erker hinauf. Immer lauter krakeelten die Einherjar, bis sich ihre rauen Stimmen endlich fanden und zu einem Kriegslied zu Ehren Odins vereinten.
Kalte Schauer huschten über Mistas Rücken, als sie sich vorstellte, dass all das einmal nicht mehr sein sollte. Kein Weiser und kein Gott konnte mit Bestimmtheit sagen, wann Ragnarök über die Welt kommen würde, doch alle wussten, dass es geschehen würde. Irgendwann.
Nachdenklich wanderte ihr Blick über die goldenen Wände Gladsheims, dann über den erschöpften Körper Skulds. Es war falsch, dass sie Krieger in Odins Reich führte, die diesen ehrenvollen Platz nicht verdient hatten. Aber war es auch verwerflich? War es nicht sogar verständlich, dass ihre Schildschwester mit allen Mitteln versuchte, die Welt und ihr Leben zu retten – ihres und das aller anderen?
»Wirst du Odin von meinen Taten berichten?«, fragte Skuld mit zitternder Stimme.
Mista seufzte und erhob sich. Sie verschaffte sich Zeit, indem sie ihr silbernes Haar richtete und die Kleidung mit beiden Händen glatt strich. Dann fiel ein Schatten in den kleinen Erker.
»Ich habe meinen Namen gehört«, donnerte Odins Stimme. »Und ich frage mich, was so wichtig ist, dass ihr eure Pflichten vernachlässigt und nicht bei den Männern in Walhall seid?«
Mistas Herz begann zu rasen, als sie versuchte, sich auf Odins stahlblaues Auge zu konzentrieren und die Narbe nicht zu beachten, die statt des anderen Auges das Gesicht des Gottes entstellte.
»Nun?«
Odin verlieh seiner Frage Nachdruck, indem er seine mächtigen Pranken vor der Brust verschränkte. Selbst sein dichter, fettig glänzender Bart konnte die ungeduldig mahlenden Kiefer nicht verbergen.
Mistas Kehle war trocken wie ein versiegtes Flussbett nach einem heißen Sommer. Sie räusperte sich und blickte Hilfe suchend hinüber zu ihrer Schildschwester. Doch von ihr würde sie keine Unterstützung erhalten; noch immer hockte Skuld mit gesenktem Blick und hängenden Schultern auf dem Boden und wagte kaum, Luft zu holen – wie eine Angeklagte in Erwartung des Urteils.
Alle nehmen es hin, dass Ragnarök unsere Welt auslöschen und uns vernichten wird, hallten Skulds Worte in Mistas Kopf wider. Ist es denn der richtige Weg, in den Tod zu gehen, ohne sich dagegen zur Wehr zu setzen?
»Nichts, Odin«, hörte Mista sich auf die Frage des Gottes antworten. »Es ist nichts. Wir haben … unsere Pflichten vernachlässigt.«
Odin nickte bedächtig, als hätte er eben diese Antwort erwartet. Mit einer Hand strich er über seinen Bart, bevor er sie in die Halle verwies.
»Dann habt ihr etwas gutzumachen. Geht und sorgt dafür, dass der Met fließt! Ihr wisst, was von einer Schildjungfer erwartet wird.«
Ohne ein weiteres Wort stapfte Odin davon. Als Mista auf den breiten Rücken des Gottes starrte, war sie sich nicht mehr sicher, ob sie diese Erwartungen auch in Zukunft erfüllen wollte.

21. Jan. 2009 - Damian Wolfe

Bereits veröffentlicht in:

DER TREUE GEOPFERT
J. Salzmann (Hrsg.)
Anthologie - Fantasy - Arcanum Fantasy Verlag - Dez. 2008

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