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Der Wohnzimmerkrieger von Jan Gardemann
Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Der Mann, der da mit gebeugtem Rücken auf dem Stuhl des Alten kauert und auf den Monitor starrt, bemerkt mich nicht. Dabei stehe ich direkt hinter ihm und verströme den Geruch von Blut. Es sickert aus der Wunde, die der Mann mir heute nachmittag mit seinem Jagdgewehr beibrachte. Aber er riecht und hört mich nicht. Statt dessen tippt er auf der Tastatur herum und stiert auf den Bildschirm.
Im Gegensatz dazu hätte der Alte meine Anwesenheit längst gespürt. Er hätte von seinem Buch aufgesehen und gesagt: »Na, Junge, ist es dir in deinem Wald wieder zu einsam geworden?« Dann hätte er auf das Wildschweinfell vor dem Kamin gedeutet: »Setz dich doch. Bestimmt willst du wieder etwas über die Aliens hören?«
Wenn der Alte doch da wäre! Ich würde mich vor seine Füße legen, wie es Rauhbein, sein Jagdhund, immer getan hatte, als er noch lebte. Der Alte würde sich in seinem Schaukelstuhl vorbeugen, mir über den Kopf streichen und Kiefernnadeln aus meinem Haar klauben.
»Hab keine Angst, Junge«, würde er mit ruhiger Stimme fortfahren. »Im Wald bist du sicher. Die Aliens haben deine Eltern getötet, als du ein Kind warst. Auch mich hätten sie beinahe erwischt. Aber sie kommen nicht in den Wald und wenn doch, bleiben sie auf den Wegen. Sie mögen die Flora unseres Planeten nicht besonders.«
Aus diesem Grund mied ich die Waldwege gewöhnlich. Aber manchmal zog es mich doch zu ihnen hin: Ich beobachtete dann, wie die Menschen auf den Wegen gingen und versuchte zu erraten, welche echt und welche in Wahrheit Aliens waren.
»Einen Alien erkennst du erst, wenn du ihn in seinem Wohnzimmer triffst«, hatte der Alte oft erklärt. »Statt Bücher stehen dort Videos und DVDs in den Regalen. Sie besitzen Computer, die untereinander vernetzt sind und mit denen sie geheime Botschaften versenden. Doch hauptsächlich benutzen sie diese Computer, um Nahrung aufzunehmen. Wissen und Informationen sind für die Aliens nämlich genau so wichtig, wie für uns Menschen das Essen und Trinken.«
Ich lasse meinen Blick durch das dunkle Zimmer schweifen. Der Widerschein des Monitors, vor dem der Mann sitzt, wirft kalten, bläulichen Glanz auf die Möbel des Alten; er spiegelt sich in den Glasaugen der ausgestopften Tierköpfe, scheint ihnen unheiliges Leben einzuhauchen. Der Kamin ist erloschen, die Bücherregale sind leer. Die Werke von Poe, Lovecraft und King, mit denen der Alte mich einst lesen lehrte, sind alle fort. Statt dessen liegen zwei Videokassetten in dem Regal. Nackt und hemmungslos; Bumsgeile Nonnen im Kloster der Sünde, so lauten die Titel. Wo bisher der Schaukelstuhl des Alten stand, ist jetzt ein Fernseher aufgebaut. Neben der Tür türmen sich Umzugskartons.
Der Anblick des entseelten Zimmers versetzt mir einen Stich ins Herz. Der Alte ist fort für immer! Diese Gewißheit schmerzt tausend mal mehr, als die Schußwunde.
Ich hätte mir am liebsten mit den Zähnen ein Stück Fleisch aus dem Körper gerissen, weil ich den Alten so lange nicht besucht hatte und er allein gewesen war, als er mich brauchte. Aber es ist Herbst. Der Winter wird bald Einzug in den Wald halten. Wie jedes Jahr um diese Zeit war ich damit beschäftigt gewesen, Vorräte einzugraben, meine Höhle mit Moos und Laub auszukleiden und nach den Überwinterungsstätten der Tiere zu suchen, um auch im Winter frisches Fleisch finden zu können. Keinen Moment hatte ich geglaubt, daß sie den Alten holen könnten. Alles war wie immer gewesen bis ich an diesem Nachmittag ein fremdes Bellen durch den Wald tönen hörte!
Mein erster Gedanke war, der Alte habe sich einen neuen Jagdhund zugelegt. Mit Tränen in den Augen rannte ich durch den Wald, um den Alten zu seinem Entschluß zu beglückwünschen. Denn eigentlich hatte er sich keinen neuen Hund anschaffen wollen. »Ich bin zu alt für einen jungen Hund«, hatte er erklärt, als wir in einer verregneten Nacht einmal an Rauhbeins Grab standen. Aliens fürchteten ihn, hatte ich als Grabspruch in den Stein geritzt. »Ich werde auch das Jagen aufgeben«, hatte der Alte angefügt und mit erstarrter Miene auf das Grab geblickt. »Ich bin es leid, Förster zu sein. Meine Knochen wollen nicht mehr.«
Danach war der Alte nur noch selten in den Wald gegangen. Er saß den ganzen Tag in seinem knarrenden Schaukelstuhl, las oder döste vor sich hin. Nun jedoch ließ mich das fremde Bellen hoffen, daß er sich besonnen und neuen Lebensmut gefunden hatte!
Doch dann erspähte ich plötzlich durch die Zweige des Unterholzes hindurch diesen fremden Mann. Ich war unvorsichtig gewesen und wie ein tobender Frischling durch den Wald gestürmt. Der Mann riß das Gewehr hoch und feuerte.
Die Kugel durchschlug meinen linken Oberarm. Ich rollte zur Seite weg, tauchte geduckt in ein Gebüsch aus Farnkraut und floh. Der Hund des Mannes hetzte kläffend hinter mir her. Er war unerfahren, ein erschockenes Jaulen war sein letzter Laut, als ich ihn packte und mit einem kräftigen Ruck sein Genick brach. Rasch versteckte ich mich in einem hohlen Baum und wartete. Durch ein Astloch beobachtete ich, wie der Mann sich dem Hund näherte und den Kadaver untersuchte. Dann irrte er im Farn umher, auf der Suche nach einer Spur von mir. Aber natürlich fand er nichts. Ich lebe seit zehn Jahren in diesem Wald und habe gelernt, mich anzupassen. Schließlich nahm er seinen toten Hund und trug ihn zum Haus des Alten. Ich kroch aus meinem Versteck, gerbte die Wunde mit Eichenlaub und wartete, bis sich Dunkelheit auf die Lichtung senkte. Dann schlich ich mich ins Haus, um zu sehen, was aus dem Alten geworden war.
Er ist fort, wie ich nun weiß. Einer von ihnen ist in sein Haus gezogen mitsamt Videokassetten und vernetztem Computer!
Ich trete einen weiteren Schritt an den Mann heran. Über seine Schulter hinweg blicke ich auf den Monitor. Der Mann hat ein Spezialprogramm geöffnet und surft durchs Internet: Er konsumiert Informationen!
»Aliens essen auf diese Weise«, hatte der Alte mir immer wieder erklärt. »Sie entreißen den menschlichen Gehirnen mit ihren Apparaten das Wissen und stellten es dann zum Verzehr in ihr weltumspannendes Netz, das sie allein aus diesem Grund über die Erde geworfen haben. Die Aliens speisen mit ihren Augen. Die Monitore sind ihre Teller, ihr Besteck heißt Keyboard, Maus und Cursor.«
Ich zittere, mein ganzer Körper bebt. Alles in mir schreit danach, in den Wald zu rennen und mich in meiner Höhle zu verkriechen. Aber ich zwinge mich stehen zu bleiben, denn ich weiß, sie haben jede Information aus dem Alten herausgesaugt. Sie wissen nun, wo der Junge steckt, der ihnen vor zehn Jahren entwischte. Ich bin nicht mehr sicher im Wald!
Tränen sammeln sich in meinen Augen. Meine Fäuste öffnen und ballen sich. Kalter Schweiß tritt mir auf die Stirn. Ich sehe die schrecklichen Bilder von damals wieder deutlich vor mir:
Ich sitze hinten im Auto meiner Eltern. Es ist Nacht und wir fahren über eine einsame Straße. Links und rechts ragen dunkle Baumriesen in den Himmel. Meine Lider sind schwer, ich bin kurz davor, einzuschlafen.
Da füllt sich das Wageninnere plötzlich mit grellem Licht. Meine Mutter kreischt, mein Vater stößt einen Fluch aus. Etwas trifft unseren Wagen. Ich werde nach vorn gerissen. Alles dreht sich, ist voller Lärm, Schmerz und Chaos.
Das Nächste, an das ich mich erinnere, sind diese Leute, die mich aus dem Wagen ziehen. Ich sehe meine Eltern. Sie liegen auf Tragen mitten auf der Fahrbahn, in grelles Licht getaucht. Männern beugen sich über sie, führen Schläuche in ihre Nasen und Arme, schlagen ihnen auf die Brust und stechen sie mit Nadeln. Das schöne Kleid meiner Mutter ist ganz zerfetzt. Überall auf ihrem Körper klebt Blut.
»Vorbei«, sagt einer der Männer plötzlich und schaltet den Apparat aus, mit dem meine Eltern verkabelt sind. »Sie sind beide tot!«
Die Männer, die mich aus dem Wagen geholt haben, betten mich auf eine Trage. Sie wollen mich festschnallen, aber ich trete um mich, springe auf und stürme in den Wald. Zwischen den Bäumen herrscht nächtliche Schwärze. Doch die Dunkelheit ist mir tausendmal willkommener als das grelle Licht auf der Straße und die schrecklichen Apparate der Männer. Wie blind laufe ich durch das Unterholz. Hinter mir erschallen Rufe, Zweige brechen unter dem Trampeln meiner Verfolger. Ich renne wie ein Irrer, schlage Haken, tauche unter tiefhängenden Zweigen durch und bemerkte irgendwann, daß ich allein bin. Ich habe meine Verfolger abgehängt!
Erschöpft lege ich mich auf den Waldboden, rolle mich zusammen und schlafe ein. Als ich wieder erwache, fächert Sonnenlicht durch das Blätterdach. Ein alter Mann kniet vor mir. Er lächelt mild, seine Stimme klingt freundlich: »Du mußt ein Mensch sein, Junge. Aliens nämlich mögen den Wald nicht, musst du wissen.«
Er führt mich zu einem Haus auf einer Waldlichtung. Dort erzähle ich ihm, was ich erlebt habe und weine auf seinem Schoß.
»Das waren Aliens, die deinen Eltern das angetan haben«, versichert er und streicht mir tröstend über den Kopf. »Sie haben die Gestalt von Menschen angenommen, um uns zu täuschen. Doch in Wahrheit sind es Monster. Um zu leben, brauchen sie Informationen. Darum schließen sie Menschen an Geräte an und saugen ihnen das Wissen aus dem Gehirn, bis die Opfer tot sind. Auch mit mir haben sie es versucht. Aber ich entkam genau wie du, mein Junge.«
Er hebt meinen Kopf und sieht mich ernst an. »Sie werden zurückkommen und nach dir suchen. Du kannst nicht bei mir bleiben. Geh zurück in den Wald! Sie hassen den Wald und werden die Suche bald aufgeben. Dann hast du deinen Frieden.«
Allein und verängstigt streife ich danach durch den Wald. Ich finde eine Höhle und viele andere Orte, wo ich mich vor den Aliens verbergen kann. Wochenlang suchen sie den Wald nach mir ab. Ich beobachte sie aus meinen Verstecken heraus. Doch dann geben sie auf und verschwinden genau, wie es der Alte vorhergesagt hatte.
Zehn Jahre lebe ich nun in diesem Wald. Hier fühlte ich mich sicher ein Fehler: Die Aliens sind zurückgekommen. Sie haben den Alten geholt und machen nun Jagd auf mich!
Der Alien, hinter dem ich jetzt stehe, hätte mich vorhin fast erwischt. Er scheint die Nahrungsaufnahme abgeschlossen zu haben und nimmt nun über das weltumspannende Netz Kontakt mit einem anderen Alien auf.
»Hallo Stinker, wie war dein erster Tag?« lese ich die Botschaft seines Bruder-Aliens in einem Fenster auf dem Bildschirm.
»Beschissen«, tippt der Alien-Mann als Antwort in die Tastatur. »Der Wald ist mir unheimlich. Ich habe Flux auf der Jagd verloren. Die Sau, die ich angefärbt hatte, nahm ihn an und tötete ihn. Stell dir vor, sie hat Flux das Genick gebrochen!«
»Du Ärmster!«, antwortet sein Bruder-Alien. »Ich hoffe, du erwischt die Bestie noch! Wir könnten sie zusammen abschwarten und aufbrechen, wenn ich dich besuche was meinst du?«
Die Tastatur tickert, während der Mann seine Finger darüber hinwegfliegen läßt. »Ich werde im Morgengrauen losziehen und die Sau zur Strecke bringen«, versprach er. »Ich freue mich, wenn du kommst. Es ist beschissen einsam hier. Kein Wunder, daß der alte Förster verrückt wurde. Als sie ihn abholten, tobte er und wehrte sich mit Händen und Füßen.«
Ich presse die Augen fest zusammen. In mir rast wütender Schmerz. Es ist Zeit, etwas gegen die Aliens zu tun! Ich werde mich nicht länger wie ein Stück Wild im Wald verkriechen! Ich werde den Alten und meine Eltern rächen und all die anderen Menschen, die dem Informationshunger der Aliens zum Opfer fielen!
Ich ziehe den Hirschfänger blank, den der Alte mir vor drei Jahren geschenkt hat. Mit beiden Händen ramme ich die Klinge in den gebeugten Nacken des Alien. Es stirbt sofort. Sein Kopf sinkt auf die Tastatur, die Arme rutschen kraftlos vom Tisch.
»Ich kann leider erst nächste Woche kommen«, erscheint eine weitere Botschaft seines Bruder-Aliens im Bildschirmfenster.
Ich stoße den Kadaver zu Boden. »Das ist egal«, schreibe ich. »Denn statt dessen werde ich zu dir kommen! Ich weiß, wie man euch erkennt. Der Alte hat es mich gelehrt. Ich werde euch in euren Wohnzimmern heimsuchen und vom Antlitz der Erde tilgen!«
Ich drücke auf die Abschick-Taste. Dann reiße ich den Stromstecker aus der Dose. Knisternd erlischt der Bildschirm und der unheimliche Schimmer verschwindet aus den Glasaugen der Tierköpfe. Ich wende mich ab und verlasse das Haus. Mein Ziel ist die Großstadt. Dort fühlen sich die Aliens wohl noch!
04. Feb. 2009 - Jan Gardemann
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