Main Logo
LITERRA - Die Welt der Literatur
Home Autoren und ihre Werke Künstler und ihre Werke Hörbücher / Hörspiele Neuerscheinungen Vorschau Musik Filme Kurzgeschichten Übersicht
Neu hinzugefügt
Autoren
Genres Magazine Verlage Specials Rezensionen Interviews Kolumnen Artikel Partner Das Team
PDF
Startseite > Kurzgeschichten > Eva Markert > Phantastik > Das Geschöpf

Das Geschöpf
von Eva Markert

Anna Kuschnarowa Anna Kuschnarowa
© http://www.anna-kuschnarowa.de/
„Castor! Pollux!“
Leonie füllte die Futternäpfe. Das tat sie jeden Morgen, noch bevor sie für sich und Wolfhard den Frühstückstisch deckte.
„Wo seid ihr beiden?“
Sicher machten sie einen Morgenspaziergang durch den Garten: der kleine braune Mischlingshund vornweg mit dem schwarzen Kater im Schlepptau.
Castor war ihr damals als Erster zugelaufen. Wie aus dem Nichts tauchte er plötzlich in ihrer Küche auf. Er musste durch die geöffnete Terrassentür ins Haus gekommen sein. Als sie sich zu ihm hinunterneigte, um ihn zu streicheln, wedelte er so heftig mit dem Schwanz, dass der ganze kleine Hinterleib in Bewegung war. Dann winselte er leise und sah sie flehend aus seinen dunklen Augen an. Leonie gab ihm ein Stück Schwarzbrot mit Leberwurst, das er gierig verschlang.
Sie schloss ihn sofort ins Herz und er wich ihr nicht mehr von der Seite.
Wer seine Eltern waren, ließ sich allenfalls erahnen: Leonie verdächtigte einen Cairn Terrier, den sie mal in der Nachbarschaft gesehen hatte. Castors Kopf dagegen erinnerte an die Miniaturausgabe eines Schäferhundes.
„Castor! Pollux! Frühstück!“
Nur wenige Tage nach Castors Ankunft erschien Pollux. Als sie im Garten einen Rosenstrauch beschnitt, strich er plötzlich um ihre Beine. Er ließ sich streicheln und folgte ihr mit hoch aufgerichtetem Schwanz ins Haus.
Ihre anfängliche Besorgnis, Castor würde den Nebenbuhler nicht dulden, erwies sich als unbegründet. Er leckte dem Kater sofort das Gesicht und Pollux schnurrte dabei behaglich. Bald waren die beiden unzertrennlich, sie spielten zusammen, tranken aus derselben Schüssel und genossen es, aneinandergekuschelt in der Sonne zu liegen.
Nie hätte Leonie gedacht, dass man Tiere so sehr lieben konnte, wie sie Castor und Pollux liebte. Tag und Nacht verbrachten sie gemeinsam. Sie waren die Ersten, die sie morgens begrüßten, sie begleiteten Leonie auf Schritt und Tritt durch ihren einsamen Tag. Nachts schlief Pollux zu ihren Füßen und Castor neben ihrem Bett. Wenn sie sich schlecht fühlte, böse, traurig oder mutlos, waren es die Tiere, die ihr Kraft und Hoffnung gaben. Wenn sie sich freute, freuten sie sich mit ihr.
Leonie runzelte die Stirn. Wo blieben die beiden bloß?
Sie trat ans Küchenfenster und schaute in den Garten hinaus. Hatte sich unter den Rosenbüschen nicht gerade etwas bewegt? Sie kniff die Augen zusammen. Nein, sie musste sich getäuscht haben. Ein dünnes Miauen wie aus weiter Ferne drang an ihr Ohr. Sie lehnte sich aus dem Fenster. Oder nein, es war vielmehr ein geisterhaftes Jaulen, ein Bellen wie im Traum, das zu ihr herüberwehte. Und jetzt – sie erstarrte, eine Gänsehaut pflanzte sich von der Mitte aus auf ihrem Körper fort bis zu den Fingerspitzen –, jetzt ging der Nachhall dieser Schmerzenslaute in jämmerliches Winseln über.
Leonie rannte aus dem Haus und den Gartenweg entlang. Die Sonne schien bereits sehr warm, erste Hitze quoll aus dem Boden. Je näher sie den Rosenbüschen kam, desto stiller wurde es um sie her. Selbst das Vogelgezwitscher schien gedämpft.
Ihr wurde nicht bewusst, dass sie schrie, dass sie ihr Gesicht in die lockere Erde bohrte und Dornen ihren Rücken zerkratzten, während sie neben den beiden Kadavern kniete. Pollux‘ Kopf, seine Brust, die Vorderpfoten – alles war nur noch eine blutige, breiige Masse. Castor musste noch gelebt haben, als sein Mörder von ihm abließ. Er war zu Pollux gekrochen, hatte seinen unverletzten Kopf auf dessen Hinterflanke gelegt und war gestorben. Alle Knochen in seinem Leib schienen gebrochen, die Hinterbeine lagen in einem unnatürlichen Winkel vom Körper abgespreizt, Blut – ob Pollux‘ oder seins – verklebte sein Fell. Der traurige Blick aus seinen glasigen Augen bohrte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis.
Blind von Tränen stolperte sie ins Haus und holte das Körbchen, in dem die beiden noch vor kurzem gelegen hatten. Sie bettete die Tiere auf das Kissen und trug sie vorsichtig ins Haus.
Wolfhard saß am Frühstückstisch. „Warum hast du noch keinen Kaffee gemacht?“ Sein Blick fiel auf die Kadaver. „Musst du diese Schweinerei hier hereinbringen? Da vergeht einem ja der Appetit!“
Leonie stellte das Körbchen auf den Tisch, direkt vor ihn hin. Ihr Herz hämmerte und ihre Stimme klang gepresst. „Du warst es!“, keuchte sie. „Du hast sie gehasst …“
„Ich bin bloß froh, dass es ein Ende hat“, gab er ungerührt zurück. „Das war ja nicht mehr auszuhalten! Du bist wie besessen von den Viechern.“
„Du nennst sie ‚Viecher‘? Du … du …“ Sie packte den Korb und floh.
Ihr Ein und Alles war tot. Mit dem Korb auf den Knien saß Leonie auf dem Bett und weinte so heftig, dass sie fast an ihrem Schluchzen erstickt wäre. Als sie zu erschöpft war, um weiter zu weinen, legte sie sich auf das Bett, den Korb neben sich. Automatisch streckte sie die Hand aus, bekam ein Öhrchen zu fassen und kraulte es, doch dann berührten ihre Finger eine klebrige Masse und sie zuckte zurück.
Die Tränenspuren auf ihren Wangen trockneten und fühlten sich an wie ein Gerüst, das ihrem Gesicht Festigkeit gab, sodass es nicht auseinanderfallen konnte.
Plötzlich wurde ihr bewusst, wonach sie die ganze Zeit in den Tiefen ihres Gedächtnisses gesucht hatte. Sie richtete sich so hastig auf, dass ihr schwindlig wurde. Als sie die Treppe hinuntertaumelte, fühlten sich ihre Beine an wie brüchige Stöckchen.
Wolfhards Jackett und seine Aktentasche waren verschwunden. Er würde erst abends von der Arbeit zurückkommen.
Wo hatte sie die Werbung nur gesehen? Hastig durchwühlte sie einen Stapel Zeitungen. Als sie schon aufgeben wollte, fiel ihr die Anzeige in die Hände. Ihre Pupillen irrten über den Text, sie konnte nicht verstehen, was sie las, doch sie fand, was sie suchte: den Namen und die Adresse.
Tränen versengten ihre Augen, als sie den Korb mit den toten Tieren auf dem Rücksitz ihres schwarzen Wagens abstellte. Sie sank auf den Fahrersitz, umklammerte das glühendheiße Lenkrad und legte die Stirn darauf. Ihre Schultern bebten. Die Sonne knallte auf das Wagendach, die Luft war stickig und stank nach rohem, blutigem Fleisch.
Sie kurbelte das Fenster hinunter und fuhr los.
Das kleine schiefe Fachwerkhaus lag etwas abseits und war umgeben von hohen Büschen, sodass Leonie es beinahe übersehen hätte. Eine Klingel gab es nicht. Mit einem Türklopfer schlug sie gegen die schwere, schwarze Holztür.
Bis auf den Widerhall blieb alles still.
Ein Haus des Todes, dachte sie unwillkürlich und klopfte erneut.
Der alte Mann, der ihr öffnete, sah hingegen sehr lebendig aus. Er war klein, beinahe zierlich gebaut, hatte weißes Haar, leuchtendblaue Augen und rote Apfelbäckchen. Sein Blick fiel auf den Korb. „Kommen Sie herein“.
Leonie folgte ihm in einen Raum, der offensichtlich seine Werkstatt war.
Er schob ihr einen Stuhl hin. „Setzen Sie sich.“ Seine Stimme klang unnatürlich hoch, fast wie die eines Gnoms.
Er ließ sich ihr gegenüber an seinen Arbeitstisch nieder. Vor ihm lag eine steife, tote Ratte.
Leonie schaute sich um. Feder- und Fellbälge hingen an den Wänden zum Trocknen. Weiße Knochen waren auf dem Tisch angeordnet, andere schwammen in Behältern, die auf dem Boden standen und mit einer übelriechenden Flüssigkeit gefüllt waren. Auf den Regalen an den Wänden hockten Vögel, Mäuse, Füchse, Hasen und allerlei anderes Getier. Funkelnde Glasaugen starrten sie feindselig an.
„Sie … sehen sehr lebendig aus.“
Der Präparator lächelte. „Das ist es, was ich bezwecke. Ich will dem Tod ein Schnippchen schlagen.“
Leonie schob ihm den Korb hin. „Können Sie etwas für mich tun?“
„Sie wollen sich nicht damit abfinden, dass sie tot sind.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Sie nickte. „Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Ich muss sie einfach um mich haben, sie berühren können …“ Ihre Stimme versagte.
Er knipste eine Lampe an und richtete gleißend helles Licht auf die Kadaver. Das Blut, schwarz wie altes Öl, und die Wunden hoben sich in grausamer Deutlichkeit ab.
Leonie betrachtete fasziniert ein ausgestopftes Eichhörnchen, das sie auf einer Kommode zwischen verschiedenen Materialien entdeckt hatte. Trotz der leeren Augenhöhlen sah es so lebendig aus, dass man erwartete, es würde gleich davonspringen.
„Bis auf die Glasaugen ist es fertig“, erklärte der alte Mann.
Leonie zuckte zusammen. Sie glaubte, eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Mit einem zitternden Finger zeigte sie auf das ausgestopfte Tier: „Es … es ist noch nicht ganz tot.“
Wieder lächelte er. „Glauben Sie mir: Alles, was Sie hier sehen, ist Mimikry: ist Tod, der sich durch die Vortäuschung von Leben tarnt. Oder Leben, das sich durch die Vortäuschung des Todes tarnt. Wie Sie es sehen wollen, bleibt Ihnen überlassen.“
„Sie scheinen ein Meister Ihres Fachs zu sein.“
„Das bin ich in der Tat“, erwiderte er nicht ohne Stolz. „Ich habe sehr lange geforscht, bin in der ganzen Welt herumgereist und habe Rezepte für Salben, Kräutermischungen und Tinkturen gesammelt. Ich kenne die Geheimnisse aller Kulturen, die es wagen, dem Tod die Stirn zu bieten. Gefährliches Wissen, das ich sorgsam bewahre und mit in mein Grab nehmen werde.“
„Bitte helfen Sie mir!“
Er musterte die Kadaver ausdauernd und kritisch. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Es tut mir leid. Die Körper sind zu sehr verstümmelt, die Felle zu stark beschädigt.“
„Dann bilden Sie meine Tiere nach. Ich habe Fotos …“ Mit fliegenden Fingern öffnete Leonie ihre Handtasche.
„Ich bilde nicht nach, ich konserviere“, entgegnete der Alte. „Ich kann den Tod ein wenig ungeschehen machen. Aber dafür brauche ich echtes Material. Viel echtes Material.“
„Ich weiß. Sie sind ein Künstler. Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen.“ Leonie legte die Fotos vor ihn hin.
Er betrachtete sie ausgiebig. Sein Blick wanderte dauernd zwischen ihnen und den Kadavern hin und her.
Atemlos hing Leonie an seinen Lippen. Schließlich sah sie, wie sich sein Mund bewegte. Doch in ihren Ohren rauschte und brauste es, sie konnte nichts verstehen. Hilflos zuckte sie mit den Schultern.
„Es gibt nur eine Möglichkeit“, wiederholte er mit seiner hohen Greisenstimme. „Allerdings …“ Er brach ab.
„Welche?“, hauchte sie. „Sagen Sie es mir!“
„Es wird Ihnen nicht gefallen.“
„Mir ist alles recht, wenn ich Castor und Pollux nur nicht ganz verliere.“
Er räusperte sich. „Ich könnte den Kopf des Hundes und die intakten Partien seines Oberkörpers auf den hinteren Teil des Katzenkörpers setzen.“
Leonie stockte der Atem.
„Ich würde ein Zwitterwesen schaffen – eine Art Chimäre.“ Er schob zwei Fotos halb übereinander. „So sähe es in etwa aus.
Leonie betrachtete das Bild lange. Sie konnte ihre Tiere noch erkennen, sowohl Castor als auch Pollux. Schließlich nickte sie. „Tun Sie es.“
„Ich muss Sie warnen. Es ist nicht ungefährlich. Die Natur wehrt sich gegen Frevel. Ich weiß mich zu schützen, doch wie steht es mit Ihnen?“
„Ich bin zu allem bereit.“
„Also gut. Kommen Sie heute in sieben Tagen um dieselbe Zeit wieder.“

Szenentrenner


Pünktlich eine Woche später klopfte Leonie an die schwere Holztür. Die Tage voll Tränen, Sehnsucht und Verzweiflung und die Leere in ihrem Haus hatten sie ausgelaugt.
Kaum ließ sie den Türklopfer los, wurde geöffnet. Der Greis strahlte sie aus seinen himmelblauen Augen an. „Ich habe das Werk soeben vollendet“, fispelte er. „Ich hoffe, Sie werden zufrieden sein.“
Voll ängstlicher Erwartung betrat Leonie sein Arbeitszimmer. Und da, auf dem Tisch, saß Castor und sah ihr entgegen. Lediglich der Blick aus seinen dunklen Augen erschien ihr ein wenig fremd. Irgendwie – vorwurfsvoll. Und doch war er es, zweifellos. Er hatte seine Lefzen hochgezogen, sie konnte spitze Zähne sehen. „Castor“, raunte sie, „mein Kleiner …“ Sie ließ sich auf einem Stuhl nieder und kraulte seinen wuscheligen Kopf zwischen den spitzen Ohren, da, wo er es so gern hatte. Er fühlte sich an wie früher, gar nicht kalt und tot, sondern im Gegenteil sehr lebendig!
Erst jetzt fiel ihr Blick auf den runden Rücken, die Hinterpfoten und den Schwanz. Ein Sonnenstrahl, der durch das Fenster fiel, ließ Pollux‘ schwarzes Fell seidig schimmern. „Pollux, endlich habe ich dich wieder“, wisperte sie. Sie liebkoste seinen Hinterleib, die Flanken, Pfötchen und berührte dabei scharfe Krallen.
Der Präparator beobachtete sie stumm. Sie hob ihr tränenüberströmtes Gesicht zu ihm auf. „Danke“, stieß sie hervor. Sie reichte ihm ein Bündel Geldscheine, nahm das Geschöpf behutsam auf den Arm und drückte es an sich. Es war kompakt und viel schwerer, als sie erwartet hatte.
Beinahe glücklich machte sie sich auf den Heimweg.
Wolfhard saß auf dem Sofa und las die Zeitung. Entgeistert ließ er sie sinken, als sie mit Castux ins Wohnzimmer trat. „Verdammt, was ist das?“
„Das ist Castux“, fauchte sie. „Und diesmal werde ich aufpassen!“
Misstrauisch verfolgte er, wie sie sich in den Sessel setzte, Castux auf den Schoß nahm und ihn streichelte. „Du bist ja noch verrückter, als ich dachte“, knurrte er. „Aber mir soll’s egal sein. Dieses Monster macht wenigstens keinen Lärm und keinen Dreck. Und man muss es nicht durchfüttern.“

Szenentrenner


Genau wie Castor und Pollux nahm auch Castux Leonies ganzes Denken in Anspruch. Morgens und abends gab sie ihm frisches Wasser, füllte seinen Napf mit Futter und setzte ihn davor. Sie streichelte und kraulte ihn, striegelte sein Fell und nahm ihn überall mit hin. Wenn sie in der Küche werkelte, saß er auf der Fensterbank und sah ihr zu. Wenn sie bei der Gartenarbeit war, hockte er unter einem Strauch im Schatten und beobachtete sie. Er war auch bei ihr, als sie ins Gerätehäuschen trat, die blutverkrustete Schaufel fand, an der noch Fellreste klebten, und schreiend hinauslief.
Bald schon war Leonie davon überzeugt, dass eine Spur von Leben in Castux zurückgeblieben war. Sein Körper war warm. Manchmal kam es ihr so vor, als wäre etwas von dem Wasser oder dem Futter verschwunden, das sie für ihn bereitgestellt hatte. Oder sie erhaschte aus den Augenwinkeln eine winzige Bewegung. Ab und zu glaubte sie, ein leises Winseln zu hören. Doch vor allem seine Augen verrieten es: Sie blickten lebhaft, sie nahmen wahr, was um ihn herum vorging. Manchmal allerdings schien es ihr, als würden sie gequält blicken.
Nur nachts musste sich Leonie von ihm trennen. Wolfhard ließ sich nicht umstimmen. „Dieses Scheusal dulde ich nicht im Schlafzimmer. Davon bekommt man ja Alpträume.“
Bevor sie zu Bett ging, setzte sie Castux deshalb auf das oberste Podest des Katzenbaums vor dem Dachfenster. Dort hatte auch Pollux gern gesessen, und Castor lag zufrieden daneben auf dem Boden.
Je länger Castux bei ihr war, desto stärker glühte der Funke des Lebens in ihm. Erst glaubte sie, ihre Liebe würde ihn erwecken, doch nach und nach drang eine kleine, nagende Unruhe in Leonies Bewusstsein. Castor und Pollux hatten sie nie allein gelassen und sie immer voll Hingabe angeschaut. Auch Castux‘ Blick folgte ihr ständig, doch jetzt war er lauernd, und ein kaltes Glitzern lag darin. Castor hatte ihr oft die Hände geleckt, doch nun kam es vor, dass sie sich an seinen blitzendscharfen Zähnen verletzte. Pollux hatte geschnurrt, wenn sie seinen runden Rücken streichelte. Castux dagegen fuhr seine Krallen aus. Einmal, als sie ihn auf die Schulter setzte, fügte er ihr eine hässliche Wunde am Hals zu.
„Ich glaube, du magst die Menschen nicht mehr“, flüsterte Leonie ihm ins Ohr. „Und ich weiß auch, warum. Es ist alles seine Schuld.“ „Seine“ –, sie spuckte das Wort aus wie eine faule Kirsche. „Aber ich“, setzte sie hinzu, „ich liebe dich.“
Eines Morgens, als sie ihn von dem Podest vor dem Fenster herunterholen wollte, hatte sie den endgültigen Beweis, dass er lebte. Sie wusste genau, dass die nadelfeinen Kirchturmspitzen links von ihm ins Fenster ragten, als sie ihn am Abend zuvor dort abgesetzt hatte. Aber nun sah es so aus, als würden sie ihn durchbohren, als wäre Castux aufgespießt. Eilig ziehende Wolken umwirbelten seinen Leib. Sie stürzte auf ihn zu und nahm ihn auf den Arm. Castux machte sich steif und sprang auf den Boden. Dort blieb er auf der Seite liegen und sah sie aus einem anklagenden Auge an.
In der Nacht darauf hörte sie die Geräusche zum ersten Mal. Es begann mit einem dünnen Heulen und Jaulen. Der Ton klang so gespenstisch, dass ihr Schauer über den Rücken liefen.
Dann knarrten die Holzbalken in der Decke, als ob jemand im Dachzimmer herumliefe. Sie setzte sich auf. „Hörst du das?“, fragte sie Wolfhard.
„Holz arbeitet, das weißt du doch“, brummte er und drehte ihr den Rücken zu.
Kurz darauf näherten sich vorsichtig tapsende Schritte auf der glatten Holztreppe. „Wolfhard“, wisperte sie. Doch er antwortete nicht mehr.
Sie hielt den Atem an. Es kratzte an der Tür. Panik erfasste sie. Sie warf sich auf die Seite, krümmte sich und zog die Decke über den Kopf. Lange lag sie so da und spürte, wie ihr in der Brust eingequetschtes Herz hämmerte. Erst als sie kaum noch Luft bekam, wagte sie sich unter der Decke hervor. Die Geräusche hatten aufgehört, im Haus herrschte bleierne Stille.
Tiefe Furcht erfüllte sie. Sie schlief erst ein, als die Nacht verblasste.
Dieses Gefühl, dass etwas Unfassbares, Unbeherrschbares in ihrem Haus vorging, verließ sie von da an nicht mehr. Jede Nacht lag sie starr vor Schreck, wenn sie die Geräusche und das Kratzen an der Tür hörte.

Szenentrenner


Als Wolfhard eines Abends nach Hause kam, war er äußerst übel gelaunt. Leonie kannte die Anzeichen. Er murmelte einen Gruß, ohne sie anzusehen, und drängte an ihr vorbei ins Wohnzimmer, um sich aufs Sofa zu werfen. Aber dort saß noch Castux. Sie rannte hinter Wolfhard her. „Warte, ich nehme ihn.“
Doch der hatte ihn schon an der Schnauze gepackt und auf den Boden geschleudert. „Au!“, schrie er. „Das Biest hat ja messerscharfe Zähne.“ Er steckte einen Finger in den Mund und saugte daran.
Castux‘ Augen glitzerten bösartig, seine gefletschten Zähne waren blutig. Leonie riss ihn trotzdem in ihre Arme. Tief in seinem Innern schien Castux‘ Leib leise zu vibrieren. So als ob er schnurren würde. Oder knurren.
Wolfhard betrachtete die Wunde. „Diese Katzentöle hätte mir fast den Finger abgebissen.“
„Du übertreibst“, wandte Leonie ein, doch sie wusste, dass er das nicht tat. Einmal hatte sie unter dem Haselstrauch im Garten eine einzelne Nuss gefunden. Sie wollte sie knacken, und als es ihr nicht gelang, benutzte sie Castux‘ Gebiss. Die harte Schale war zwischen seinen Zähnen zersplittert wie dünne Eierschalen.
Sie setzte sich in einen Sessel und betrachtete unverwandt ihren Ehemann, der mit geschlossenen Augen auf der Couch lag, die Hände auf dem Bauch gefaltet. „Wie eine Leiche“, ging es ihr durch den Sinn. Gedankenverloren strichen ihre Finger über Castux‘ flauschigen Vorderkörper und seinen glatten Hinterleib. Sie dachte noch eine Weile nach, dann fällte sie ihre Entscheidung.
Als es in dieser Nacht wieder an der Schlafzimmertür kratzte, schwang sie die Beine aus dem Bett und schlich auf bloßen Füßen zur Tür. „Komm herein, mein Liebling“, flüsterte sie. „Komm ins Bett.“ Sie öffnete geräuschlos die Tür.
Mondlicht fiel durch das Dachfenster auf ihre bloßen Füße. Und da, als ob er auf einem Mondstrahl nach unten geglitten wäre, saß Castux. Er sah so lieb aus, so verloren. Ihr Herz zog sich zusammen vor Liebe – und vor Hass. Sie öffnete die Tür weit. „Räche dich“, zischte sie.
Und Castux setzte zum Sprung an.
Mit einem Grollen stürzte er sich auf Leonie.
Sie strauchelte und fiel rückwärts zu Boden. Das Geschöpf hatte ungeheure Kraft, es verbiss sich in ihre Kehle. Leonie spürte, wie seine Krallen ihre Halsschlagader öffneten.
Es kann nicht wahr sein, dachte sie, es ist ein Alptraum.
Doch dann kam die Gewissheit.
Und die Todesangst.
„Warum?“, fragte sie.
Die Antwort las sie in Castux‘ Augen.

03. Mar. 2009 - Eva Markert

[Zurück zur Übersicht]

Manuskripte

BITTE KEINE MANUS­KRIP­TE EIN­SENDEN!
Auf unverlangt ein­ge­sandte Texte erfolgt keine Antwort.

Über LITERRA

News-Archiv

Special Info

Batmans ewiger Kampf gegen den Joker erreicht eine neue Dimension. Gezeichnet im düsteren Noir-Stil erzählt Enrico Marini in cineastischen Bildern eine Geschichte voller Action und Dramatik. BATMAN: DER DUNKLE PRINZ ist ein Muss für alle Fans des Dunklen Ritters.

Heutige Updates

LITERRA - Die Welt der Literatur Facebook-Profil
Signierte Bücher
Die neueste Rattus Libri-Ausgabe
Home | Impressum | News-Archiv | RSS-Feeds Alle RSS-Feeds | Facebook-Seite Facebook LITERRA Literaturportal
Copyright © 2007 - 2018 literra.info