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Der Spiegel von Uschi Zietsch
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Gewissen? Ich brauche kein Gewissen. Der Mann saß mir gegenüber in der Ratsstube, wohin ich gern gehe, wenn ich mich ein wenig entspannen, gleichzeitig aber Menschen beobachten will. Die Ratsstube ist immer gut besetzt, doch diesmal hatte ich einen Tisch für mich allein so schien es zunächst. Ich hatte mich kaum niedergelassen, als ein Mann, den ich zuvor ruhelos durch den Raum irren gesehen hatte, auf mich zustürzte und bereits halb saß, bevor er mit einem gehetzt wirkenden Ausdruck fragte: Darf ich mich zu Ihnen setzen?
Ich hatte nichts dagegen, der Tisch war groß genug. Ich konnte immer noch für mich bleiben, vor mich hin sinnieren und das Treiben um mich herum auf mich einwirken lassen, während ich langsam mein Bier trank. Absichtlich drehte ich den Kopf zur Seite, um meinem Gegenüber anzuzeigen, dass ich keine Unterhaltung wünschte.
Doch das hielt den Mann nicht ab. Anscheinend musste er unbedingt eine Geschichte loswerden. Und köderte mich mit dem zusammenhanglosen Satz, dass er kein Gewissen brauche.
Wissen Sie, normalerweise mache ich so was ja nicht, fuhr er fort, nachdem er seine Bestellung aufgegeben hatte. Aber manchmal hat man keine Wahl, verstehen Sie, was ich meine?
Innerlich seufzte ich. Ich würde dem Gespräch nicht entkommen. Es war besser, sich dem Unvermeidlichen zu fügen, dann hatte ich es schneller hinter mir. Ich wandte mich dem Mann zu. Er sah völlig durchschnittlich, eher unscheinbar aus. Jemand, den man sofort wieder vergaß, sobald man ihn aus den Augen verlor.
Auffällig an seinem Gesicht war allerdings der gequälte Ausdruck.
Manchmal, stimmte ich bedächtig zu, ohne damit eine wirkliche Meinung ausgedrückt zu haben.
Wissen Sie, jeder hat auf irgendeine Weise etwas zu verlieren, führte der Mann weiter aus. Jemanden, den man liebt. Seine Arbeit. Seinen Besitz. Seine Gesundheit. Und manchmal ... verliert man alles auf einmal und hat gar nichts mehr. Wissen Sie, was die Leute einem dann sagen?
Ich schüttelte den Kopf.
Sie sagen: Wenigstens hast du noch deine Würde. Du kannst in den Spiegel sehen. Das kann dir niemand nehmen.
Ist es nicht so?, fragte ich.
Der Mann lachte trocken. Das hört jemand, der alles verloren hat, außer seinem Leben, und sich verdammt würdelos, gedemütigt und benachteiligt fühlt.
Ich machte den Mund wieder zu.
In Wirklichkeit, erklärte der Mann, ist es eine billige Ausrede, in die sich die Leute flüchten, weil sie nicht wagen zu sagen: Was für ein Pech, mein lieber Junge, du bist wahrlich das ärmste Schwein auf Erden, und da sehe ich mal, wie gut es mir dagegen geht. Aber bestimmt wird es wieder, irgendwer wird dir auf die Beine helfen. Nur sei mir nicht böse, dass ich es nicht bin, denn ich habe jede Menge eigene Probleme.
Da ist was dran, musste ich zugeben.
Ich spreche aus Erfahrung. Der Mann deutete auf sich. Meine Frau verließ mich wegen eines anderen, mein Arbeitgeber betrog mich, die Schule zeigte mich wegen Kindesmissbrauchs an, mein ganzer Besitz kam unter den Hammer und ich landete nach einer Reihe von Prozessen und Haftstrafen auf der Straße. Mein Leben lang war ich ein anständiger Kerl gewesen - das hatte sich wirklich bezahlt gemacht, nicht wahr?
Ich wich verlegen seinem Blick aus.
Der Mann erzählte weiter: Eine Zeitlang lebte ich also auf der Straße. Ein elendes Leben, kann ich Ihnen sagen, von Romantik keine Spur, und von der Würde bleibt auch nichts mehr übrig, wenn man sich vor Hunger übergeben muss und von den Leuten gedemütigt und wie ein Aussätziger behandelt wird. Ich hatte es satt, verstehen Sie? Nur, damit auf meinem Grabstein steht: Er war ein ehrlicher Mann, sollte ich so dahinvegetieren?
Nun wurde ich neugierig. Also?
Also verkaufte ich meine Seele, als sich jemand dafür interessierte, antwortete der Mann. Ein ungeheuer reicher Mann. Er sagte, ich hätte genau das, was er bräuchte: Meine Ehre, meine Würde, zusammengefasst: mein Gewissen. Oder auch mein moralisches Empfinden, wie Sie es nennen wollen. Dafür, sagte er, würde er alles geben. Und ich nahm an.
Ich hob die Brauen. Ein Teufelspakt? Der Mann hatte entweder eine tolle Fantasie oder krankhafte Wahnvorstellungen.
Sehen Sie! Er öffnete seine Brieftasche, prall voller großer Banknoten. Mindestens 10 Platin-Kreditkarten. Er zeigte mir seine Visitenkarte, und mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ich den Namen darauf las. Wenn das stimmte, was da stand, sprach ich soeben mit dem geheimnisvollsten Multimillionär der Stadt, dessen Gesicht niemand kannte!
Allmählich wurde mir die Geschichte unheimlich. Dann ist jeder mit dem Tausch zufrieden?, fragte ich vorsichtig. In den Märchen funktionierte das selten, denke man beispielsweise an Der Prinz und der Bettelknabe.
Aber ja!, versicherte mir der Mann. Und wie! Es lebt sich so doch viel besser. Ich brauche auf niemanden mehr Rücksicht zu nehmen, ich kann tun und lassen, was ich will. Ist das nicht herrlich? Das ist wahre Macht, sage ich Ihnen. Alles tun zu können, ohne Ausnahme, ohne die Folgen befürchten zu müssen. Keine Angst vor Alpträumen, oder dass die Geister der Vergangenheit einen einholen, und so weiter. Nichts macht mir mehr etwas aus, ich bin frei von jeglicher moralischer Schuld. Nur eine einzige Sache ist ein wenig ... nun ja, unangenehm, aber daran gewöhnt man sich. Ja, wirklich, das tut man.
Übergangslos sprang der Mann auf, schob einen viel zu großen Schein unter sein unberührtes Bierglas, und eilte ohne Abschied auf den Ausgang zu.
Ich konnte ihn in dem großen Spiegel sehen, der direkt beim Ausgang, neben der Garderobe, hing.
Er hatte kein Gesicht. Es war völlig leer, wie eine bleiche, konturlose Fläche.
26. Mar. 2009 - Uschi Zietsch
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