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Startseite > Kurzgeschichten > Klaus-Peter Walter / K. Peter Walter > Mystery-Crime > Sherlock Holmes und das indische Kraut

Sherlock Holmes und das indische Kraut
von Klaus-Peter Walter / K. Peter Walter

Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
Niemand war verschlossener als mein Freund Sherlock Holmes, wenn es um seine eigene Person ging. Lange Zeit wusste ich fast nichts von ihm, wusste nicht, wer seine Eltern waren, wo er herstammte und was er getan hatte, bevor wir Hausgenossen wurden. Gerade, dass ich seinen Bruder Mycroft kennen lernen durfte, jenen schwergewichtigen Mann, der einen so hohen Posten in der Regierung innehatte, dass er nach den Worten meines Freundes manchmal die Regierung selbst war. Wie Holmes erzählte, war er so wichtig, dass er Schriftstücke an Regierungsmitglieder nicht mit seinem Namen unterzeichnete, sondern mit einem „M“ in grüner Tinte.
Mein erster und einziger Versuch, mehr über Sherlock Holmes zu erfahren, als dieser preiszugeben bereit war, war ein glatter Fehlschlag. Dennoch entbehren die Umstände, die zu diesem Versuch führten, nicht jenes bizarren Charakters, den Holmes so sehr schätzte. Die Gelegenheit ergab sich, als Holmes mit meiner bescheidenen Assistenz den Fall der Mrs O`Shaugnessey gelöst hatten, von dem ich sicherlich bei passender Gelegenheit einmal ausführlicher berichten werde. Mrs O’Shaugnessey war hinter ein düsteres Lebensgeheimnis ihres Gatten gekommen, eines berühmten Gelehrten, mit dem sie viele Jahre in Indien verbracht hatte. Nur mit viel Mühe hatten wir die unglückliche Frau des Gattenmordes überführen können.
Als mir Holmes in unserem gemütlichen Wohnzimmer bei einem Glas Punsch den Fall darlegte, stellte ich mich bewusst dumm.
„Aber wie in aller Welt konnte sie wissen, dass er Bigamist war?“, fragte ich.
„Aber Watson“, belehrte mich Holmes. „Das liegt doch auf der Hand. Er hat es ihr selbst gesagt. Nicht freiwillig, aber er hat es gesagt“.
„Wie konnte sie ihn dazu zwingen?“
„O`Shaugnessey war ein Kenner der indischen Kultur. Seine Frau nicht minder. Sie hat seine Karriere von Anfang an treu begleitet, seine Fundstücke geordnet und katalogisiert, seine Veröffentlichungen nicht nur ins Reine geschrieben, sondern auch selbständig redigiert. Wahrscheinlich verstand sie mehr vom Fach als er selber. Ich habe doch selbst den Versuch gemacht und einen kapitalen Fehler in meine improvisierte Übersetzung des Sanskrittextes eingebaut, der aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lag. Sie hat mich sofort korrigiert, ohne nachzudenken. Sie liest, schreibt und spricht Sanskrit wie du und ich Englisch schreiben und sprechen. Mrs O`Shaugnessey ist hoch gebildet. Bewundernswürdig in vieler Hinsicht. Es ist ein Jammer, dass Frauen wir ihr die Hochschulen nicht offen stehen. Zu welchen Glanzleistungen wäre die britische Wissenschaft dann erst fähig!“
„Ich bitte Sie, Holmes! Eine Mörderin!“
„Sie hat sich selbst gerichtet. Geradezu mannhaft! Sie setzte genauso konsequent ihrem Leben ein Ende, wie sie dem ihres Mannes ein Ende setzte. Beschreiben Sie mir sein Arbeitszimmer!“
„Ein großer Esstisch voller Bücher. Bücherregale und Manuskriptschränke an allen Wänden. Indische Kunstwerke an den Wänden, Waffen, Wandbehänge. Ein Schreibtisch, ein wenig unaufgeräumt. Ein von Säure zerfressener Tisch, fast wie unserer hier.“
„Sehr schön, mein Freund, sehr schön. Wie immer haben Sie das Wesentliche übersehen. Übersehen, weil es so offensichtlich ist“.
„Was habe ich denn übersehen, weil es so offensichtlich ist?“, fragte ich beleidigt.
„Die vielen Pfeifen!“ Holmes frohlockte. „Pfeifen sind für Tabakfreunde wie Sie und mich nichts Ungewöhnliches. Wir rauchen sie täglich und nehmen sie allenfalls dann zur Kenntnis, wenn sie kaputtgehen oder plötzlich nicht mehr schmecken“.
„Ja, natürlich!“ Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Pfeifen und Tabatieren standen im ganzen Zimmer herum, auf dem Schreibtisch, in den Bücherregalen, überall“.
„Eben, Pfeifen und Tabatieren. Ich erinnere daran, dass ich mich einmal sehr intensiv mit Tabaken und ihren Aschen befasst habe. In zwei hölzernen Dosen war jedoch kein Tabak, obwohl der Inhalt in beiden Fällen bei oberflächlicher Betrachtung so aussah wie Tabak. Lestrade hat das gesehen, aber wie üblich nicht wahrgenommen. Er raucht immer Stumpen und versteht nichts von wirklich gutem Tabak. In der einen Dose nämlich waren Blätter eines Strauches, dessen Blätter getrocknet sie als ‚indisches Kraut’ verkauft werden. ‚Leaves of Truth’. Wenn man sie verbrennt, wird der Rauch zur Wahrheitsdroge“.
„Ich dachte, das wäre nur ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht!“
„Ist es nicht, wie Sie sehen.“ Holmes stopfte sich genüsslich eine Pfeife. Ich verging fast vor Ungeduld.
„Der Geruch des indischen Krautes unterscheidet sich eklatant von dem jedes Tabaks, der irgendwo auf der Welt hergestellt wird. Man braucht nur die Nase hineinzustecken“.
Holmes rieb sich sein in der Tat enormes Riechorgan, das ihn auf die Lösung des Falles geführt hatte.
„Der Teufel wollte es nun, und Professor O`Shaugnessey sprach im Schlaf. Seine Frau heißt beziehungsweise Margaret. Er aber redete im Traum mit seiner indischen Frau, Shmi. Als gebildete Frau wusste Margaret O`Shaugnessey natürlich, dass Lakshmi, wovon der Name Shmi abgeleitet ist, die indische Göttin des Glücks ist. Darauf angesprochen, mag ihr Mann dies auch erklärt haben. Margaret konnte jedoch nicht glauben, dass ihr Gatte im Schlaf ausgerechnet mit einer Göttin Zwiesprache halte. Der Keim des Misstrauens war gelegt, und sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, ohne dass der Professor das merkte“.
Mir stand der Mund förmlich offen vor Staunen.
„Und dann“, fuhr Holmes fort, „warf die Frau bei passender Gelegenheit das indische Kraut ins Kaminfeuer, und ihr Mann begann ihr zu erzählen, was er nie im Leben hatte erzählen wollen. So kam eine Wahrheit ans Licht, die die Frau nicht ertragen konnte! Worauf sie ihren Mann mit dem anderen indischen Kraut umbrachte.
„Jenem aus der Dose“, schloss ich messerscharf. „Mit dem sie ihm anschließend seine Gute-Nacht-Pfeife stopfte“.
„Seine große Gute-Nacht-Pfeife, genau, mein lieber Watson“, pflichtete mir Holmes bei. „Ich bin wirklich kein schlechter Chemiker, Watson, wahrlich nicht, aber es ist mir nicht gelungen, die Art des Giftes zu bestimmen. Darum habe ich einfach dem Kanarienvogel des Hauses ein paar Krümel davon in den Fressnapf gegeben. Es dauerte keine zwei Minuten, da fiel er tot von seiner Stange. Ganz einfach. Und dabei nicht ohne Pikanterie!“
„Nein, Holmes“, antwortete ich, „ganz und gar nicht“. Ich vermied es, die Hand in die Tasche meines Morgenmantels zu stecken, wo ich eine Handvoll der ominösen Blätter aus der ersten Tabatiere verborgen hatte. Holmes sollte auf keinen Fall merken, dass ich sie mit einem raschen Griff an mich genommen hatte, als wir das Haus der unglückseligen Mörderin verließen. Gerade war Lestrade gekommen, um sie festzunehmen, doch sie hatte sie sich blitzschnell Kraut aus der zweiten Dose in den Mund gestopft, es zerkaut und hinuntergeschluckt. Binnen einer Minute war sie tot gewesen. Ich wartete sogar einige Tage ab, bis Holmes seinen nächsten Fall gelöst hatte, der zufälligerweise wiederum mit Tabak zu hatte. Es war das befremdliche und verwickelte Problem des Tabakmillionärs John Vincent Harding, der sich belästigt fühlte (ich werde sicher einmal davon berichten).1
Erst als mir schien, als wäre genug Gras über die Sache gewachsen, wagte ich einen Versuch.
„Nein, nein, Mrs Hudson“, lehnte ich ab, ich mache das mit dem Kaminholz schon selbst. Gehen Sie ruhig schlafen“.
Mit beleidigter Miene überließ mir Mrs Hudson das Beschicken des Kamins und brachte dann den Punsch, den ich bestellt hatte.
Als Holmes am Kamin Platz genommen hatte, zündete ich erst das Feuer und dann meine Pfeife an. Holmes tat es mir nach. Ich schob meinen Stuhl etwas von Feuer weg, so als wäre es mir zu warm.
„Ihnen ist heiß, Watson?“, fragte Holmes leutselig, als er das sah.
„Ja“, antwortete ich etwas verlegen, „ein wenig. Aber das hat nichts zu sagen“.
Wir unterhielten uns über dieses und jenes, zum Beispiel über die Wettfahrt von Paris nach Rouen, bei der zwei wagemutige Lenker von Benzinkutschen am 22. Juli des Vorjahres über einen Dampftraktor obsiegt hatten, oder über den unersetzlichen Verlust, den die Russland und die Musikwelt überhaupt durch den Tod von Anton Rubinstein im zurückliegenden November erlitten hatte. Dann sah ich am Flackern von Holmes’ Augenlidern, dass das indische Kraut offenbar seine Wirkung entfaltete.
„Ich weiß eigentlich recht wenig über Sie“, sagte ich, „wer waren Ihre Eltern? Ihre Geschwister? Wie wurden Sie zu dem, was Sie sind? Erzählen Sie doch mal!“
„Ja, Watson“, begann mein Freund, „du wirst es kaum glauben, aber ich war einmal verlobt. Verlobt mit dem schönsten, dem sanftmütigsten Mädchen, das sich ein Mann nur wünschen kann. - Nein, fragen Sie jetzt nicht nach ihrem Namen. Nennen wir sie Deborah. Sie war lebenslustig und fröhlich von Natur aus. Eigentlich das genaue Gegenteil von mir. Ich war - und bin es, wenn ich Ihren Berichten Glauben schenken darf, noch immer - eigenbrötlerisch, mürrisch und humorlos. Schon als ich ein Junge war, fühlte ich immer diese Glasscheibe zwischen mir und meinen Träumen auf der einen Seite, der Ausgelassenheit auf der anderen. Vielleicht machte mich das eine Weile anziehend für Deborah, deren Herz ich mit meinem Geigenspiel zu verzaubern vermochte. Schon bald aber fielen Schatten über unsere Liebe. Schatten, die ich selbst verursachte. Ich hatte keinen Sinn für Zerstreuungen, für Tändeleien, Tanz und Ausgelassenheit. Das spürte mein Bruder, und er nutzte es skrupellos aus“.
„Sie meinen-“. staunte ich, „der dicke, pardon, Mycroft hat Ihnen die Braut? Ich glaube es nicht“.
„Brauchen Sie auch nicht, Watson. Es war nicht Mycroft. Mycroft ist mein älterer Bruder. Ich meine meinen Zwillingsbruder“.
„Sie haben einen Zwillingsbruder? Wo? Wen?“
„Ja, ich hatte einen Zwillingsbruder. Moriarty Holmes. Der wohl beste Logiker, der je unter der Sonne wandelte. Obwohl wir eineiige Zwillinge waren, waren wir vom Charakter her so verschieden, wie Menschen nur sein können“.
„Moment mal! Moriarty? Doch nicht d e r Moriarty?“
„Doch, der nachmalige Professor Moriarty. Als ich eines Tages krank zu Bette lag, schlüpfte er in meine Kleider, ging zu Deborah und verging sich aufs Schändlichste an ihr. Mehr detektivischen Scharfsinn musste ich nie mehr im Leben aufwenden, um meine Unschuld zu beweisen und – es gelang mir. Trotzdem wollte Deborah nichts mehr von mir wissen“.
„Ja, aber...“
„Nichts aber! Mycroft ohrfeigte Moriarty, doch der lachte nur. Moriarty verließ das Elternhaus, schlug eine akademische Karriere ein und lehrte Mathematik. Später lief er uns zufällig in der Schweiz über den Weg – wir vermieden es, einander zu begegnen, wie Sie verstehen werden. Da ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf und warf ihn die Reichenbachfälle hinunter“.
„Ich denke, er war der ‚Napoleon des Verbrechens?’“
„Ach was! Das war niemand anderes als Oberst Moran. Ich habe mir erlaubt, Ihre Neigung zum Romancieren ein wenig zu nutzen und Sie absichtsvoll auf eine falsche Fährte zu lenken. Schließlich handelte es sich bei dem Tod meines Zwillingsbruders um glatten Mord.“
Holmes beendete seinen Bericht. Fast schien es, als würde er einschlafen. Tatsächlich aber war er so wach, wie ein Mensch nur sein konnte.
„Sie sollten besser aufpassen, Watson“, rief er plötzlich aus.
„???“
Er holte eine Blechdose aus der Tasche seines Morgenmantels, öffnete sie und hielt sie mir hin. „Ich war so frei, dies sicherzustellen und gegen getrocknete Ahornblätter auszutauschen. Sie sollten sich schämen, Watson!“
„Sie haben alles gewusst?“
„Watson...“ Mein Fraund lachte. „Sie mögen, das bringt Ihr Beruf so mit sich, verteufelt geschickte, flinke Hände haben, und Sie können damit vom Tatort mitgehen lassen, was Sie wollen, aber ich werde es immer bemerken, denn ich habe verteufelt flinke Augen, und scharfe obendrein. Selbst wenn ich Ihren blitzschnellen Griff in die Tabaksdose mit dem indischen Kraut nicht bemerkt hätte – ich hätte die Reste auf dem Revers Ihrer Jacke und dem Ärmel niemals übersehen können. Und natürlich habe ich vorhin Ihren lauernden Blick vorhin bemerkt. Selbst ein Blinder hätte wahrgenommen, wie gespannt Sie auf meine Geschichte waren. Aber Sie haben eines vergessen!“
„Was denn?“
„Sie haben zwar versucht, möglichst weit weg vom Kamin Platz zu nehmen, aber das indische Kraut wirkte auch auf Sie“.
„Ich habe nichts bemerkt!“
„Erinnern Sie sich, was ich fragte, bevor ich so tat, als schliefe ich ein?“
„Sie haben mich nichts gefragt“.
„Eben doch. Ich fragte Sie streng: ‚Haben Sie auch genug indisches Kraut ins Kaminfeuer gegeben?’ Und Sie haben mit dem Brustton der Überzeugung bejaht“.
„Habe ich nicht!“
„Sie kennen anscheinend eine der Nebenwirkungen des Mittels nicht: es macht vergessen wie ein Schluck Wasser aus dem sagenhaften Fluss Lethe“.
Ich war verwirrt. „War das, was Sie mir erzählt haben, dann gar nicht die Wahrheit?“
„Wer weiß, mein Freund, wer weiß? ‚Was ist Wahrheit?’, fragt schon die Bibel. Und Sie müssen zugeben, wenn schon nicht wahr ist, was ich erzählt habe, so war es doch hoffentlich wenigstens gut erfunden. Vielleicht kenne ich ja auch ein Gegenmittel gegen das indische Kraut“.
Mir fehlten die Worte. Was sollte ich sagen, was tun? Ich hatte meinen Freund auszuhorchen versucht, hatte ihn regelrecht hintergangen. Nun hatte er alles Recht der Welt mich zu verachten. Doch Holmes tröstete mich.
„Schwamm drüber, Watson! Wovon wir nicht reden können, darüber müssen wir eben schweigen“.
_______
1 Hier hat Dr. Watson wieder einmal gepatzt. Zwar hat er von diesem bemerkenswerten Fall in Der einsame Radfahrer ausführlich berichtet, der Tabakmillionär aber hieß Harden, nicht Harding. K.P.W.

Anmerkung der LITERRA-REDAKTION:
Die Grafik von Crossvalley Smith wurde von uns abgewandelt und ist im Original und farbig in seinem Künstlerbereich zu sehen.

07. Mai. 2009 - Klaus-Peter Walter / K. Peter Walter

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