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Tour de Fini von Lothar Nietsch
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de 1946 gewann er damit Mailand - San Remo, griff 140 Kilometer vorm Ziel an, fuhr einen Vorsprung von vierzehn Minuten heraus. Sein Bruder Serse Coppi fuhr später einige Rennen damit. Dann kam es bis zu dessen Tod in Bartalis Besitz. Der Alte verstummte.
Klaus nickte abwesend, sein Blick versank in den von der Zeit gebleichten Rohren des Rennrades. Nicht zu fassen - der große Fausto Coppi. Klaus Vater hatte ihm in seiner Jugend alle Geschichten der großen Rennfahrer erzählt; er selbst war Radsportler gewesen, aber Klaus hatte er mit seiner Schwärmerei nie in den Sattel gebracht.
Und hier, über 40 Jahre nach Coppis Tod, lehnte eines seiner legendären Räder unschuldig, fast schüchtern, an einem vollgestopften Bücherregal des Trödelladens.
Ich habe ein Zertifikat, mit Rahmennummer und allem. Sogar eine Unterschrift von Fausto. Die Herkunft des Rades ist über jeden Zweifel erhaben., fuhr der nuschelnde Ladenbesitzer fort.
Klaus vermochte nicht zu sprechen, für ihn galt nur eins: Er musste dieses Rad haben. Er wusste, dass dies ausgemachter Blödsinn war, aber das Rad schien eigens auf ihn gewartet zu haben; als hätte es einen Deal mit dem Schicksal abgeschlossen, das seinen Weg dann zu diesem Trödelladen gelenkt hatte. Dabei hatte er hier doch nur ein wenig Zeit totschlagen wollen, bevor ihn sein Abreisetermin zum Bahnhof zwang.
Es ist im tadellosen Zustand., drang das Nuscheln des Alten in sein Ohr. Hab' die Speichen erst letzten Monat nachspannen und die Lager warten lassen.
Was wollen Sie dafür?, hörte er sich sagen und mechanisch griff er zu seiner Brieftasche.
Später, nachdem er in Mailand den Zug nach München bestiegen und der IC durch die verschneiten Alpen donnerte, wurde ihm bewusst, sich nicht daran zu erinnern, wie er in den Zug gekommen war. Etwas Düsteres, Unfassbares hing über seiner Gedächtnislücke. Dieses Zertifikat, von dem der Alte gesprochen hatte, konnte er auch nirgends finden.
Aber der Anblick des schlichten Rades, dessen ganze Erhabenheit eben in seiner schmucklosen Einfachheit bestand, ließ Klaus seine Befürchtungen vergessen. Das Siegerrad des großen Coppi von 1946 und es gehörte ihm - für alle Zeit.
Nach einer Weile sah er durch die spiegelnden Fenster des Abteils in die Nacht hinaus und eine berauschende Vision ereilte ihn. Er sah sich im Sattel seines Coppi-Renners über die Landstraßen jagen. In sausender Fahrt schoss er in schattige Täler hinunter, oder kletterte mit kraftvollem Wiegetritt endlose Alpenpässe empor, während die Schenkel wie pneumatische Kolben auf und nieder stampften. Und als der IC schließlich in den Hauptbahnhof Münchens einfuhr, verspürte er eine nie zuvor gekannte Spannkraft durch seine Arterien strömen. Die Lungen füllten und leerten sich mit jedem Atemzug, wie gewaltige Blasebälge. Als wäre er Fausto Coppi persönlich, in dessen allerbesten Jahren.
Der Morgen graute als er sich, beladen mit Koffern und Fahrrad, durch den engen Hausgang bis zu seiner Wohnung zwängte. Kein Gedanke an Schlaf, oder dass er später ins Büro musste. Auf ihn wartete Bedeutenderes. Liebevoll streichelte er über den stumpfen Lack des Rahmens, fühlte das abgegriffene Lenkerband, das aussah, als stammte es tatsächlich noch aus dem Jahr 1946. Schließlich setzte er den Fuß auf ein Pedal, schwang das andere Bein über den Sattel und andächtig ließ er sich darauf nieder. Alles an dem Rad schien den Willen und die Kraft Faustos auszustrahlen und Klaus sog sie in sich auf, bis ihn der Geist Coppis ausfüllte.
Noch am selben Abend war Klaus ein anderer geworden. All seine Erinnerungen schienen ihm, wie das Leben eines Fremden. Gleich nachdem er sich neue Radkleidung besorgt und aus der Stadt hinaus ins Umland gerauscht war, hatte er herausgefunden, was in ihm steckte. Oder war er etwa nicht im Sattel seines Rennrades über die Landstraßen rund um München nur so dahin geflogen? Ungeachtet der überschüssigen Pfunde und die stetig wachsende Anzahl der Kilometer verlachend, so wie einst der Campionissimo? Wie im Rausch waren die Stunden vergangen und erst jetzt, als er zu Hause mit hochrotem Schädel, hämmernden Herzschlag und hervorquellenden Augen, sein schweißtriefendes Trikot über den Kopf zog, registrierte er die Erschöpfung. Das musste er ändern, es war wirklich an der Zeit, sich in Form zu bringen und in einem plötzlichen Anfall von Optimismus, beschloss er, es ginge ihm hervorragend. Trotzdem zitterten seine Beine beängstigend, als er das Rad ins Wohnzimmer schob und neben dem Fernseher an die Wand lehnte.
Plötzlich nahm er nichts mehr davon wahr. Dass er den Fernseher einschaltete, sich wie ein ausgebrannter Rudersklave zum Sofa schleppte, wurde ihm nicht im Mindesten bewusst. Die Augen auf das Rennrad geheftet, schlief er ein.
Die folgenden Tage glichen dem ersten. Aufstehen, Trikot überstreifen und ab auf die Straße. Nur wurden seine Ausflüge täglich länger, seine Umwelt verschwand mehr und mehr hinter einem Nebel ferner Zukunft. Das Universum schrumpfte aufs Wesentliche, bestand nur aus Rad und Straße.
Briefkasten und Telefon ignorierte er, Nachbarn, denen er hin und wieder im Treppenhaus begegnete, grüßte er nicht. Auf diese Weise verging eine Woche und nichts an ihm erinnerte mehr an den feisten Versicherungsvertreter. Das schüttere, jetzt fettige Haar hing ihm wirr um den Kopf. Tief über den Lenker seines 60 Jahre alten Renners gebeugt, sah er tatsächlich aus, wie ein abgehängter Tour de France Teilnehmer aus den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, noch immer verzweifelt bemüht, den Anschluss ans Peloton zu schaffen.
Irgendwann fuhr er nicht mehr allein. Es hatten sich ihm zwei Gleichgesinnte angeschlossen, die, wie er, Rennräder aus den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts besaßen. Dieser Umstand schweißte sie zusammen. Zu Anfang fuhren sie schweigend mit, teilten sich die Führungsarbeit und reichten Klaus ab und zu die Trinkflasche. Später erfuhr er ihre Namen. Gino Bartali, der, wie er herausfand, sein größter Konkurrent war und sein jüngerer Bruder Serse Coppi, der ihn immer zum lachen brachte.
Eines Tages fragte ihn Bartali, ob er ihm nun nicht endlich Revanche gewähren würde. Das sei er (Fausto Coppi) ihm schließlich schuldig nach all den Jahren. Klaus willigte ein. Die Strecke würde sie direkt in die Alpen über Österreich nach Italien führen, als Ziel vereinbarten sie die Passhöhe des Stilfser Jochs.
In der folgenden Nacht schreckte Klaus aus seinem tranceartigen Halbschlaf hoch. Halb Zwei. Verwundert fragte er sich, was er sich hatte ansehen wollen. Der Fernseher lief, aber ohne Ton. Seine Verwunderung steigerte sich, als er sich seiner Radbekleidung bewusst wurde. Die Sachen stanken entsetzlich, Hose und Trikot waren viel zu weit. Mit wachsendem Entsetzen sah er an sich herunter; unmöglich, er schlief bestimmt noch und träumte das alles. Ihm fehlten mindestens zehn Kilo an Gewicht, die fleischigen Finger geradezu knöchern, sein Körper zitterte unter einer beängstigenden Schwäche. Sein Blick verharrte auf dem Renner Coppis und unwirkliche, traumähnliche Erinnerungen krochen empor. Lähmende Angst sickerte aus seinen Eingeweiden herauf, schnürte ihm die Kehle zu, während sein Blick das Rad fixierte.
Kein Traum.
Ein monströser Zwang schien von dem Rad auszugehen und ihm seinen Willen aufzuzwingen. Schweiß trat auf seine Stirn, als er unter immenser Anstrengung versuchte, sich diesem Bann zu entziehen und den Blick abzuwenden.
Diese bruchstückhaften Reminiszenzen, die durch seinen Kopf spukten. Erinnerungen, die nicht die seinen sein konnten. Als wäre er selbst Fausto Coppi und als hätte er erst gestern mit dessen Bruder und dem hartnäckigsten Gegner trainiert. Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, beschlich ihn die unheilvolle Ahnung, das Fahrrad sei verflucht. Es musste verflucht sein.
Klaus stand auf. Er fühlte sich erbärmlich. Langsam, angespannt, als sähe er sich einem wütenden Krokodil gegenüber, näherte er sich dem Rad. Dabei versuchte er sich ins Gedächtnis zu rufen, was er über Coppi wusste. Eines der größten Radtalente des letzten Jahrhunderts, dessen Karriere der zweite Weltkrieg und die anschließende Kriegsgefangenschaft unterbrachen. Ab 1946 war Coppi dann nicht mehr aufzuhalten; er setzte im Radsport neue Maßstäbe. Trotzdem meinte es das Schicksal nicht gut mit ihm. Sein jüngerer Bruder starb während eines Rennens. Fausto selbst brach sich bei jedem Sturz einige Knochen, als wären sie aus Glas. In der Sylvesternacht von 1960 starb er überraschend an Malaria. All dies begann, nachdem er im Sattel dieses Rades gesessen hatte...
Klaus' Gedanken waren plötzlich weg, als hätte ihn jemand abgeschaltet, ohne dass ihm dies bewusst geworden wäre. Etwas griff nach ihm, Kälte fingerte nach seinem Herzen, er verharrte mit leerem Blick und hängenden Schultern, bis die Sonne grell durchs Fenster strahlte. Dann schulterte Klaus das Fahrrad und stapfte die Stufen zur Straße hinunter. Er war Fausto Coppi und das Rennrad sein Element.
Dreißig Minuten später flog er im Windschatten Bartalis aus München. Ihr Ziel: Das Stilfser Joch. Dicht an seinem Hinterrad klebte Serse.
Es wurde ein heißer Tag. Klaus bemerkte nichts davon. Nur die rhythmischen Bewegungen der Schenkel, den Fahrtwind, das Wechseln der Führungsarbeit und die Scherze des jungen Coppi drangen in sein Bewusstsein. Bei Anbruch der Dämmerung hatten sie die ersten Pässe in den Alpen überquert, näherten sich der italienischen Grenze. Bis tief in die Nacht gab Klaus das Letzte. In der feuchtkalten Morgendämmerung färbte sich die Haut seiner ungeschützten Arme und Beine blau. Sein Atem rasselte, Augen, tief in den schwarz geränderten Höhlen, die wie Grottenöffnungen aus seinem eingefallenen Gesicht starrten. Zäher Schleim troff aus seinen Mundwinkeln, als die aufgehende Sonne die Straße zum Stilfser Jochs in goldenes Licht tauchte.
33 Kilometer, 50 Kehren und 12 Prozent Steigung standen ihm noch bevor. Entschlossen blickte er in die Gesichter seiner Mitstreiter. Totenschädel grinsten ihn mit ausdruckslosen Augen an. Er war der große Fausto Coppi und von niemand zu schlagen.
Zu Beginn der Steigung wechselte Klaus in den Wiegetritt, beschleunigte, ungeachtet seiner protestierenden Beine. Nach der dritten Kehre blickte er zurück. Sein Vorsprung auf die Verfolger betrug bereits einige hundert Meter. Ja, er war der Meister, der Campionissimo.
Nach Kehre dreißig in 2000 Meter Höhe passierte es. Die Muskeln seiner Beine verkrampften, ein feuriger Stich bohrte ihm ins Herz. Unfähig abzusteigen, fiel Klaus seitlich an die Leitplanke, schwankte gefährlich über dem Abgrund. Der Lenker entglitt seinen tauben Fingern. Jähe Erkenntnis trat in seinen Blick. Er rutschte aus dem Sattel, den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet, glitt sein Körper über die Leitplanke. Erst vierhundert Meter tiefer fand er mit zerschmetterten Gliedern seine letzte Ruhe, von der Straße aus nicht zu sehen. Das Siegerrad des großen Coppi lehnte an der Leitplanke, als hätte es jemand dort vergessen. Angestrahlt vom Licht der gleißenden Sonne, umgeben von der Kulisse des Ortlermassivs, schien es sich für einen neuen Besitzer zur Schau zu stellen.
Unter protestierendem Brummen, dabei Rußwolken ausstoßend, näherte sich der betagte Laster der Straßenwacht. Der Fahrer hatte seinen Dienst erst vor drei Monaten begonnen und er freute sich noch jedes Mal auf die langwierige Streckenkontrolle, bis hinauf zur Passhöhe. Heute schien auch wirklich sein Glückstag zu sein. Schnaufend und schüttelnd kam der Laster neben dem Rennrad zum stehen. Der junge Mann entstieg der Kabine und sah er sich nach allen Seiten um. Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getäuscht, es war niemand in der Nähe. Auch ein prüfender Blick in die Schlucht änderte nichts daran.
Wenig später setzte sich der Laster unwillig vibrierend in Bewegung. Auf seiner Ladefläche eine Rarität von einem Rennrad und am Steuer ein junger Bursche mit glänzenden Augen, der nur von dem einzigen Wunsch beseelt war: Gleich nach Feierabend Fahrrad zu fahren.
08. Jul. 2009 - Lothar Nietsch
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