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Die Tränen des Laurentius
von Sabine Ludwigs

Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
Es war der heißeste August, an den sich Corinna erinnern konnte. Der Asphalt kochte - trotzdem lief eine weiße Frau mit nackten Füßen durch die Fußgängerzone.
Sie war sehr blass. Mit der wilden, weißblonden Mähne und den farblosen Augen stach sie kühl aus der verschwitzten Menge heraus. Das schneeweiße Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte, reflektierte das Sonnenlicht.
Der einzige Hauch von Farbe an ihr war der gläserne Kettenanhänger. Eine Kugel, groß wie eine Kinderfaust, bläulich eingefärbt, beinahe wie Gletschereis.
Muranoglas, vermutete Corinna, als sie aus dem Schaufenster des Juweliergeschäfts sah. Selbst aus der Entfernung meinte sie das zu erkennen. Wahrscheinlich antik.
Sie fragte sich, wie die Albinofrau wohl daran gekommen war und was sie zu den Leuten sagte, die sie ansprach – vergeblich ansprach, denn niemand blieb stehen. Die meisten schüttelten den Kopf, ärgerlich, amüsiert oder gleichgültig. Viele hasteten an der weißen Frau vorüber, ohne sie zu beachten.
Corinna sortierte Trauringe in die Auslage und war mit ihren Gedanken bei Viola, die sie in einer knappen Stunde aus der Kita abholen musste. Als sie sich auf den Weg machte, stand die Albinofrau plötzlich vor ihr.
Die Augen mit der hellen Iris konnten keinen festen Punkt fixieren. Unruhig irrten sie hin und her und die Frau kniff die Lider zusammen, als könne sie schlecht sehen.
„Fünf Euro“, sagte sie mit hoher Stimme. „Nur fünf Euro.“
Eine bleiche Hand streckte sich Corinna entgegen.
„Für eine Bettlerin ist das nicht gerade bescheiden, oder?“
„Ich bettele nicht, sondern biete meine Dienste als Wahrsagerin an.“
Corinna schnaubte. „An so einen Quatsch glaube ich nicht.“
„Einen Blick in die Zukunft für wenig Geld ... Meine Mutter hat mir diese Gabe vererbt.“ Die Albinofrau lachte leise. „Ich werde Ihnen eine Kostprobe meiner Fähigkeiten geben.“
Sie nahm die Glaskugel, die zwischen ihren Brüsten ruhte, behutsam in die Hand und hielt sie ein wenig hoch, als wolle sie ihre Reinheit prüfen. Ihr unsteter Blick wanderte darüber, als könne sie tatsächlich etwas erkennen.
Unheimlich war das, richtig unheimlich, aber das Beklemmendste war, dass die Eisaugen plötzlich blicklos auf der Kugel verharrten.
In Corinnas Nacken prickelte es.
„Tränen“, wisperte die Albinofrau.
„Was sonst?“, versuchte Corinna zu spotten.
„Laurentius weint ...“
„Der Arme! Aber ich kenne niemanden, der so heißt.“ Es sollte belustigt klingen, hörte sich aber zittrig an.
„Ich sehe die Tränen des Laurentius!“, stieß die weiße Frau hervor. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unter gehetzten Atemzügen. Sie schaute auf und ihre unbeständigen Augen nahm ihre Wanderung wieder auf. „Die kostbare Blume wird sterben.“
„Hören Sie, ich habe keine Zeit für so einen Unsinn! Ich muss meine Tochter aus der Kita abholen.“ Brüsk wandte sich Corinna ab und hastete die Straße hinunter zur Haltestelle.
„Warten Sie!“, schrillte die hohe Stimme hinter ihrem Rücken.
„Und Geld habe ich auch keins übrig!“ Corinna rannte, um die einfahrende Straßenbahn noch zu kriegen. Mit einem Satz sprang sie in den Wagon.
„Erzählen Sie keine Märchen!“, hörte sie die weiße Frau rufen. „Erzählen Sie bloß keine Märchen!“
Aber da schlossen sich die Türen und die Bahn ruckelte davon.

Szenentrenner


Die sengende Sonne hatte die Stadt aufgeheizt. Selbst am späten Abend wurde es nicht kühler. Nachts konnte niemand schlafen und die Luft in Corinas Dachwohnung war besonders stickig.
Deshalb saß sie auf dem winzigen Balkon: zwei Stühle, ein Plastiktisch, die Flasche Rotwein und den Blick auf die einzige Wiese zwischen den Plattenbauten.
Der Verkehrslärm der nahen Autobahn rauschte herüber. Irgendwo heulte ein Martinshorn und Frau Schmitts Schäferhund bellte, dann wurde es allmählich stiller.
Keine Brise ging. Corinna goss den Rest Rotwein ins Glas. Im Westen sah sie Lichter aufzucken. Die Perseiden, dachte sie und beobachtete die ersten vereinzelten Meteoriten, die über den Nachthimmel fegten.
Im Kinderzimmer wälzte sich Viola in ihrem Bett herum und greinte, obwohl Corinna das Fenster gekippt und den einzigen Ventilator des Haushaltes an das Kinderbett gestellt hatte. Mit einem Zug leerte sie das Glas und ging unsicher hinein.
Viola war nass geschwitzt, das leichte Nachthemd klebte an ihrem Körper.
„Stenn-tala!“, schluchzte sie mit hochrotem Gesicht. „Stenn-tala!“
„Scht! Ist ja gut.“ Corinna nahm das Märchenbuch aus dem Regal und hob die Kleine hoch. Sie küsste ihre feuchte Stirn und setzte sich mit ihr auf den Teppich in den Wirbel des Ventilators: „Es war einmal ein ...“
Corinnas monotone Stimme hatte eine beruhigende Wirkung auf Viola. Friedlich saß sie da, hörte zu und schaute sich die Bilder an.
„... wie das Mädchen dastand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und es waren goldene Taler, und obwohl es sein Hemdchen weggegeben hatte, trug es ein neues, das war aus allerfeinstem Leinen. Da hinein sammelte es die Taler und war reich bis an sein Lebensende.“
Corinna schlug das Buch zu.
„Vio hat Durst“.
„Ich hole dir was zu trinken, mein Spatz.“
In der Küche schüttete sie Apfelsaft in einen Becher und öffnete eine zweite Flasche Rotwein, der viel zu warm war. Sie trank ihn trotzdem, nahm mehrere Schlucke direkt aus der Flasche.
Dann ging sie zurück ins Kinderzimmer.
Viola war verschwunden.
„Vio?“
Sie war nicht im Korridor, auch nicht im Schlafzimmer.
„Vio?“
Das Bad lag ebenso verlassen da, wie das Wohnzimmer.
„Vio!“
Mit einem Ruck riss Corinna den Kopf herum, als sie ein glucksendes Lachen hörte.
Es kam von draußen.
Vom Balkon.
In der offenen Balkontür hingen die schlaffen Vorhänge. Corinna zog sie auseinander und im selben Augenblick arbeiteten ihre Vitalfunktionen unabhängig voneinander, waren nicht mehr im Einklang, hatten nichts miteinander zu tun: Das Herz tobte, der Atem stockte und ging, stockte und ging. Ihre Hände zitterten und das Hirn war eingebettet in einen Nebel.
Vio war auf den Stuhl geklettert, von dort aus auf den wackligen Tisch und weiter auf die Balkonbrüstung.
Sie stand da und hielt die Zipfel ihres Hemdchens vor ihren Körper gerafft wie eine Schürze. Wie das Mädchen in ihrem Märchenbuch.
Vio hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schaute auf den heftigen Sternenschauer, der vom Himmel zur Erde raste.
Stumm und unendlich langsam, um die Kleine nicht zu erschrecken, ging Corinna auf sie zu, streckte die Arme nach ihr aus.
„Stenn-tala!“, juchzte Vio und wandte ihrer Mutter das lachende Gesicht zu. Ihre dunkelblonden Locken wippten, die Wangen waren vor Aufregung gerötet und ihre Augen funkelten „Mami, Stenn-tala!“
Dann tat sie einen Schritt nach vorn.
Und wurde von der Nacht verschluckt.
„Vio!“ brüllte Corinnas Mund. „Vio!!!”
Doch da war niemand.

Szenentrenner


Vio lag auf der Wiese zwischen dem grünen Schild, auf dem stand, dass Kinder den Rasen nicht betreten oder darauf spielen durften, und einem Hundehaufen, den Frau Schmitts Arko hinterlassen hatte.
Sie schaute Corinna aus riesigen Augen an. Veilchenblauen Augen, deshalb passte dieser Name so gut zu ihr. Viola, das Veilchen.
„Hast du dir wehgetan, Spatz?“
Viola antwortete nicht, aber seltsame dunkle Tränen sickerten aus den Veilchenaugen, hinterließen Schmierspuren auf den Wangen und für einen Augenblick bekam Corinna Angst, dass die Augen ihre Farbe verlieren könnten.
„Steh auf!“, sagte Corinna, nahm sie unter den Achseln, wie damals, als sie ihr das Laufen beibrachte, und zog sie über den Rasen. „Steh auf und komm!“ Sie ging hin und her, führte Viola mit ihrem haltlosen Köpfchen, schleifenden Füßen und baumelnden Armen auf und ab. Wieder und wieder - bis Frau Schmitt mit Arko auftauchte und den Rettungsdienst rief.

Szenentrenner


Corinna hatte einen Meteoritenschwarm in Violas Grabstein meißeln lassen, direkt unter das Todesdatum. Die Perseiden, oder die Tränen des Laurentius, wie der Volksmund sie nennt, fallen in die Hemdschürze eines lachenden Mädchens.
Wenn Corinna davor steht, hört sie manchmal die hohe Stimme der Albinofrau, die ihr zuruft: „Ich sehe die Tränen des Laurentius ... die kostbare Blume wird sterben ... erzählen Sie keine Märchen ... bloß keine Märchen. “

10. Aug. 2009 - Sabine Ludwigs

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