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Schlimmer als der Tod
von Hans Jürgen Kugler

Lothar Bauer Lothar Bauer
© http://www.3d-grafik-welt.de/
„Kein Mensch ist vor seinem Tod glücklich zu schätzen.“ Wohl wahr. Aber hinterher erst recht nicht, das können Sie mir glauben. Ich hab’s erlebt. Hört sich jetzt ein bisschen komisch an, ich weiß. Es war aber überhaupt nicht komisch, sondern bitterer Ernst.

Der Tod kam schnell und unerwartet. Die sprichwörtliche Gnade. Einmal nicht richtig umgeschaut, und das war’s auch schon. Diese hypermodernen Stadtbahnwagen schleichen sich regelrecht an einen heran. Die perfekte Jagdmaschine. Da rumpelt keine Karosserie mehr, kein Rad kreischt warnend in seinen Schienen. Da hast du keine Chance, vor allem nicht, wenn du Fahrrad fährst und mehr auf die Musik von deinem Walkman achtest als auf den Verkehr. Plötzlich war sie dann da und ich weg vom Fenster. Schädelbasis- und Genickbruch. Wenn schon, denn schon. Die Leute in der Straßenbahn hat es ganz schön durcheinandergeworfen, als der Fahrer meinetwegen voll in die Eisen steigen musste. Aber der hatte keine Chance – ich auch nicht. Weiß der Teufel, wie ich auf die Idee gekommen bin, ausgerechnet in diesem Moment auf die andere Straßenseite zu wechseln. Ehe ich mich versah, war ich auch schon hinüber. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich sehe noch genau die zu Tode erschrockenen Gesichter der Fahrgäste vor mir, als man meinen zermatschten Leib unter der Bahn hervorzog. Zu Tode erschrocken – was soll ich da erst sagen?

Es hat mir noch nicht einmal was ausgemacht, als ich meinen toten und nicht sehr schön zugerichteten Körper vor mir gesehen habe. Ich fand es sogar äußerst faszinierend, mich einmal auf diese Weise zu sehen. Der unnatürliche Winkel, in dem der zerschmetterte Kopf vom Hals abgeknickt war. Hätte eigentlich furchtbar wehtun müssen. Aber ich fühlte nichts, gar nichts. Da gab es auch nichts mehr zu fühlen. Nur Neugierde empfand ich, Staunen und Erleichterung. Irgendwie war es beruhigend, dass es so schnell und schmerzlos abgegangen war. Hätte ja auch schlimmer kommen können, das Ende. Mit monatelangen Qualen, unerträglichen Schmerzen, bewegungslos ans Bett gefesselt. Dann lieber so. Schnell und gut, ein sauberer Schnitt.

Ich weiß, was Sie wissen wollen. Falls es Sie beruhigt – ja, es gibt ein Leben nach dem Tod! Wenn man das Leben nennen kann. Sicher, man kann „sehen“, „hören“ und denken. Riechen zum Glück nicht, schmecken auch nicht und „fühlen“ – können Sie ganz vergessen. Fehlt Ihnen nach einer Weile aber auch gar nicht. Der Mensch gewöhnt sich an alles, auch an das, was nach ihm noch übrig bleibt. Aber als „Leben“ würde ich das nicht gerade bezeichnen, eher etwas wie „bewusstes Existieren“. Besser als nichts, sagen Sie? Warten Sie ab.

Also, zuerst einmal sind Sie heilfroh, dass alles so glimpflich abgegangen ist, ohne Schmerzen. Wenn Sie es überhaupt schnallen, dass Sie das sind, diese zerschmetterte blutige Fleischmasse, die da allmählich anfängt, vor sich hinzumodern. Die Fliegen sind immer als Erste zur Stelle. Flinke Burschen, diese Viecher, allgegenwärtig und einfach nicht totzukriegen. Im Gegensatz zu mir. Aber ich schweife ab.

Sie denken: „Wow! So ist das also!“ und „springen“ vor Freude unwillkürlich in die Luft. Das aber gleich ein paar Kilometer hoch, da wird Ihnen schnell schwindelig, und Sie wünschen sich nichts sehnlicher als wieder runterzukommen. Und – oh Wunder! – das geht auch. Leicht wie eine Feder segeln Sie hinab an den Ort Ihres finalen Abgangs.

Super! Das Ganze gleich noch mal. Aber diesmal nicht vertikal, sondern horizontal. Und – ssst! schon bin ich mitten durch die Straßenbahn, sogar quer durch die Leute; einem bin ich regelrecht ins offene Maul gefahren, das er ob meines betrüblichen Anblicks völlig selbstvergessen aufgesperrt hatte.

Es gibt keine Grenzen mehr! Voller Begeisterung rase ich im Tiefflug durch die Stadt, nichts kann mich aufhalten, keine Mauern, keine Gebäude, Brücken und Berge, und Verkehrszeichen schon gar nicht. Nur der Fahrtwind fehlt. Dafür scheint das Beschleunigungsvermögen unbegrenzt zu sein, irgendwann rast die Welt wie in einem Zeitrafferfilm unter einem weg, und bevor man überhaupt geschnallt hat, was da abgeht, ist man draußen im All! Wow! In Sekundenschnelle einmal um den Mond herum und noch einmal und dann noch mitten hindurch! Und dann – ja, wohin eigentlich? Es ist nämlich gar nicht so einfach, sich mitten im All zu orientieren. Verdammt viel schwarze Unendlichkeit und Leere da draußen. Wäre ich weiterhin so unbekümmert drauflosgerast, hätte ich den Sichtkontakt zu unserer guten alten Erde ganz schnell „aus den Augen“ verloren, wie mir gerade noch rechtzeitig klar wurde. Also ließ ich mich erst einmal wieder ganz gemütlich auf unseren schönen blauen Planeten zurückfallen.

Eine Zeit lang ist es ja auch aufregend genug, durch die Welt zu streifen und als quasi körperloser Gast überall und immerzu ungebeten dabei sein zu können. Bei lieben Freunden und Freundinnen beispielsweise, um „hautnah“ mitzuerleben, wie diese die Nachricht von deinem Abgang denn aufgenommen haben. (Nach einer Weile will man sich das nicht mehr antun.) Und was die anderen Typen so treiben, ist auch nicht eben spannend. Haben Sie schon mal „Big Brother“ gesehen? Gar über einige Monate hinweg? Dann wissen Sie, was ich meine. Es verliert eben alles seinen Reiz, wenn man es nur oft genug macht – na gut, nicht alles. Aber genau das eine kam ja mangels Körper auch gar nicht mehr in Frage. Und ohne einen Körper fehlt auch der Trieb, und Sie erblicken nur noch seltsame gymnastische Verrenkungen, wo Sie vorher noch die auf- und anregendsten Dinge wahrgenommen haben.

Um es kurz zu machen: Nach einiger Zeit hatte ich dann mehr als genug von dem merkwürdigen Treiben auf diesem Planeten, und deshalb beschloss ich, es nun doch mal mit einer extrasolaren Tour zu versuchen. Ich fasste mir also nun wirklich nur rein metaphorisch ein Herz und wagte den Sprung hinaus in die berühmten „unendlichen Weiten“.

Wenn man den Dreh erst mal raushat, macht es richtig Spaß, so durchs Universum zu rauschen. Zu Anfang jedenfalls. Man taucht durch einen Tunnel aus Farbe und Licht, und ehe man sich‘s versieht, ist man auch schon da, wo man hinwollte. Natürlich hapert’s zu Anfang noch etwas mit der Feinabstimmung. Einfach Augen zu und durch kann schließlich jeder – aber meistens doch nicht richtig und schießt dann schnell mal ein paar Millionen Lichtjahre übers Ziel hinaus, landet im Nichts oder, wenn man ganz viel „Glück“ hat, im Innern eines Sterns oder eines Planeten. Was natürlich weiter kein Unglück ist, wozu schließlich ist man körperlos. Aber eine irritierende Erfahrung ist es schon. Und, da kann einer sagen, was er will, im Innern eines Planeten kommen doch ganz schnell ziemliche Beklemmungsgefühle auf, auch wenn man de facto gar nichts hat, womit man sich woran auch immer stoßen könnte. Im Innern eines Planeten ist‘s im Grunde auch nicht viel anders, als wenn man weit draußen mitten im freien Raum herumhängt, alles schwarz ringsumher und sonst nichts. Aber wie gesagt: Beklemmend ist‘s halt doch. Also nichts wie raus!

Das viele Nichts da draußen zieht einen gleich wieder magisch zu den Sternen, zum Licht. Wie berauschend es auch sein mag, einmal quer durch die Milchstraße zu fegen, das eigentliche Leben spielt sich nun einmal auf den Planeten ab. Und davon gibt es jede Menge in unserer Milchstraße. Die meisten allerdings sind entweder riesige, brodelnde Gasbälle wie unser Jupiter oder vollkommen leere Steinkugeln, eisig wie Pluto, oder Gluthöllen wie die Venus. Man muss schon verdammt lange suchen, bis man mal auf einen halbwegs bewohnbaren Planeten stößt, der noch ein wenig mehr zu bieten hat als ein paar gelangweilt sich teilende Einzeller. Meiner Schätzung nach ist die Quote nicht höher als zehntausend zu eins, zehntausend taube Nüsse auf einen bewohnten Planeten. Wie beim Goldschürfen – man muss erst mal einen ganzen Haufen Schutt abtragen, bis man ein paar Goldkörnchen findet. Die Natur arbeitet eben immer mit der großen Zahl. Trotzdem gibt es natürlich unendlich viel zu sehen, wobei die Betonung auf „unendlich“ liegt. Hat man aber unendlich lange Zeit, wird auch das Unendliche bald nur noch unendlich langweilig. Zum Beispiel fand ich am Anfang die korallenroten Polypier irgendwo da draußen im Osten der Milchstraße ja absolut faszinierend. Und, glauben Sie mir, deren polymorphes, multischwingungsdynamisches Paarungsritual ist nun wirklich einmalig im Universum, absolut sehenswert – aber wenn man sich das erst zwei-, dreihundertmal angetan hat ... Und so über Jahrtausende. Auch nach fünfundsiebzig Millionen Jahren immer noch dasselbe. Sie entwickeln sich einfach nicht. Frühvollendet und nichts dazuerfunden, wie bei uns die Schildkröten oder die Pfeilschwanzkrebse. So ist das! Nach ein paar tausend Jahren hat man sie dann endlich alle durch, die Lebensformen und Zivilisationen in unserer Galaxis. Und in all den anderen Galaxien ist es auch nicht anders: Irgendwann brodeln in einer stinkenden Giftbrühe ein paar organische Moleküle heran, die wachsen, gedeihen, assimilieren erst Licht, dann sich gegenseitig, werden größer, komplexer, fressen sich, entwickeln Organe, bekommen Arme, Beine, Flossen, Flügel, Tentakel, Gleitschirme, Klauen, Zangen, Kiefer, fressen sich gegenseitig, werden größer und größer, rotten sich gegenseitig aus, werden ausgerottet, entwickeln sich von Neuem, fressen, ficken, sterben, gebären ... gähn! Glauben Sie mir, es ist immer und überall dasselbe! Es gibt einfach nichts Neues unter unserer Sonne und unter den anderen auch nicht.

Sie haben da ihre Zweifel, ich weiß. Angesichts dieser unglaublichen Möglichkeiten ... Denken Sie! Wissen Sie, das Problem ist: Man kann absolut nichts tun. Nur zusehen. Das ist zwar ganz schön, aber auf Dauer ... Sie haben doch bestimmt auch ein paar ganz, ganz tolle Lieblingsfilme, die Sie sich immer wieder anschauen können. Aber nach dem zwanzigsten, dreißigsten Mal ...? Und irgendwann löschen Sie die Kassette „aus Versehen“. Also, Sie können es mir ruhig glauben, immer nur zugucken zu müssen, ist auf Dauer auch nicht die reine Freude. Man will selber schon auch mal ran. Vor allen Dingen möchte man auch endlich einmal wahrgenommen werden! Das eben ist genau der Kern des Problems: Sie sind immer nur Zuschauer. Sie sehen alles, aber niemand sieht Sie. Für einen Voyeur mag das ja eine absolut perfekte Situation sein, aber es ist auch verdammt einsam, das kann ich Ihnen sagen. Man ist nun einmal als ein soziales Wesen auf die Welt gekommen – und dann das! Und das bis in alle Ewigkeit! Wozu da noch Feuer und Flamme für die Hölle?

Also, ich für meinen Teil jedenfalls bin verdammt dankbar, dass man mich wieder zurückgeholt hat, das gebe ich Ihnen schriftlich. Bin jetzt natürlich vom Hals abwärts gelähmt, aber Scheiß drauf – ich lebe! Ich kann sehen, hören, riechen, schmecken – und das Beste ist: Ich rede mit Ihnen, und Sie hören mir zu, sehen mich an, reagieren auf mich. Ich bin nicht mehr allein. Und das ist schon sehr viel. Man sollte das nicht unterschätzen, denn es gibt wirklich Schlimmeres als den Tod – tödliche Langeweile nämlich. Und die stellt sich nach ein paar tausend Jahren unweigerlich ein, das können Sie mir ruhig glauben. Ich habe es erlebt.

12. Aug. 2009 - Hans Jürgen Kugler

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