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Die gründe Seele von Melanie Metzenthin
Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Es fing damit an, dass die Spielzeuge starben. Ganze Familien von Barbiepuppen, Teddybären und Plüschtieren veränderten sich. Die rosige Plastikhaut färbte sich dunkel und das Fell der Kuscheltiere wurde räudig. War dieses Stadium überschritten, platzten die Bäuche. Aber es war kein Sägemehl, das aus ihren aufgedunsenen Leibern quoll. Es waren stinkende, verfaulte Eingeweide, in denen Dutzende von Maden wimmelten.
Was man zuerst für einen geschmacklosen Scherz gehalten hatte, breitete sich aus. Kein Kinderzimmer blieb verschont. Der Geruch des verwesenden Spielzeugs wehte durch die Straßen. Kitas und Grundschulen mussten geschlossen werden. Um Seuchen vorzubeugen, wurden die toten Puppen gesammelt und verbrannt. In den Medien gab es nur noch dieses Thema und die Polizei hatte eine Sonderkommission eingerichtet.
Wissen wir überhaupt, wann es anfing?, fragte Kommissar Malwart in die Runde seiner Mitarbeiter. Die Fenster waren trotz des sonnigen Apriltages geschlossen. Der Gestank von verbranntem Teddyfell hüllte die Stadt ein.
Unsere Ermittlungen haben ergeben, dass der erste Fall im Januar gemeldet wurde. Ein gewisser Paul Grodter hatte sich bei der Verbraucherzentrale beschwert, da die Puppe seines siebenjährigen Sohnes Florian die typischen Veränderungen aufwies. Grodter glaubte, es handle sich um einen Chemieskandal und war an einer Entschädigung durch den Hersteller interessiert. Leider konnte man die Puppe keiner der bekannten Produktionsfirmen zuordnen.
Haben wir diese Puppe?, hakte Malwart nach.
Inspektor Erdmann schüttelte den Kopf. Sie ist längst vernichtet.
Wurde Grodter schon polizeilich vernommen?
Abermals Kopfschütteln .
Dann sollten wir das umgehend nachholen. Malwart stand auf. Es kam ihm gelegen, die Sitzung zu beenden. Sinnloses Lamentieren war nicht sein Fall. Gemeinsam mit Erdmann machte er sich auf den Weg zu Grodters Wohnung.
Grodter lebte im schlimmsten Viertel der Stadt. Eine von den Ecken, in die man sich lieber nicht allein wagte, selbst wenn man eine Dienstwaffe trug. Das Ziel der Beamten war ein tristes Hochhaus, dessen graffitibeschmiertes Treppenhaus der Gegend alle Ehre machte. Es roch nach gebratenen Zwiebeln und der Aufzug war defekt. Paul Grodter wohnte im ersten Stock. Ein fetter Mann in schmuddeligem Jogginganzug. Malwart hielt ihm seinen Dienstausweis vor die Nase und bat um ein kurzes Gespräch. Widerwillig ließ Grodter die beiden Polizeibeamten in sein Wohnzimmer.
Es geht um ihren Sohn, fing Malwart an, während er sich auf das speckige Sofa setzte.
Was isn mit Jürgen? Hat er gegen die Bewährungsauflagen verstoßen?
Ich spreche von Florian.
Ach, der Lütte. Hat er was ausgefressen?
Nein, keine Sorge, beruhigte der Kommissar. Wir sind wegen der Puppe hier, mit der Sie vor drei Monaten bei der Verbraucherzentrale waren. Sie wissen bestimmt, was sich seither in dieser Stadt ereignet hat. Spielzeuge, die sich so verändern, dass sie als Sondermüll entsorgt werden müssen.
Kann ich was dafür, wenn das Bonzenpack unsere Kinder verseucht?, donnerte Grodter.
Nein, aber wir wüssten gern, woher ihr Sohn diese Puppe hatte.
Keine Ahnung. Ich hätte ihm son Scheiß nie gekauft! Ein echter Junge spielt nicht mit Barbiepuppen. Aber Schuld ist die Industrie. Ich bin seit vier Jahren arbeitslos. Die wolln uns ausrotten! Erst nehmen sie uns die Arbeit weg, dann vergiften sie unsere Kinder. Na ja, was erwartet man schon von dieser Regierung? Die gehören alle erschossen. An die Wand stellen und gut. Das würde das Land voranbringen!
Malwart ignorierte die politische Überzeugung seines Gegenübers. Dürften wir mit Florian sprechen?
Grodter nickte. Aber erwarten Sie nicht zuviel. Die Schulärztin sagte, er habe autotouristische Züge.
Autistisch, verbesserte Erdmann.
Sag ich doch, nörgelte Grodter. Dann brüllte er nach seinem Sohn.
Ein schmächtiger, kleiner Junge kam ins Wohnzimmer. Wortlos gab er seinem Vater eine Flasche Bier und wollte dann wieder verschwinden.
Das macht er immer, wenn ich ihn rufe. Daran sieht man die gute Erziehung. Grodter grinste, während er Florian am T-Shirt festhielt. Hier geblieben, Freundchen. Diese Männer wollen mit dir reden.
Wortlos gehorchte das Kind. Malwart fühlte sich an einen dressierten Hund erinnert.
Florian, sagte er väterlich. Ich bin Kommissar Malwart. Ich brauche deine Hilfe.
Der Junge blickte ausdruckslos an ihm vorbei. Unbeirrt sprach Malwart weiter: Du hattest im Januar eine Puppe, die sich plötzlich veränderte, nicht wahr?
Florian begann debil auf seinem Sitz hin- und herzuschaukeln.
Magst du mir sagen, woher du sie hattest? Er rechnete nicht wirklich mit einer Antwort.
Um so mehr wunderte er sich, als der Junge flüsterte: Weihnachtsgeschenk.
Ein Weihnachtsgeschenk? Weißt du auch, von wem?
Zum ersten Mal hielt der Junge dem Blick des Kommissars stand.
Vom Weihnachtsmann.
Malwart seufzte. Er versuchte es anders. Wo hat der Weihnachtsmann dir die Puppe gegeben?
Die lag unterm Baum.
Du hast den Weihnachtsmann nicht gesehen?
Florian schüttelte den Kopf.
Woher weißt du dann, dass es er es war?
Weil er die Geschenke bringt und ich brav war.
Ich sag doch, der Junge hat sie nicht alle, mischte sich Grodter ein.
Florians Schaukeln verstärkte sich. Fragen beantwortete er keine mehr. Erst als sich die beiden Polizisten verabschiedeten, flüsterte das Kind dem Kommissar zu: Sie ist zu ihm zurückgekehrt.
Wer?
Sie war grün.
Die Puppe?
Florian schüttelte den Kopf. Ihre Seele. Nachts kannst du sie sehen.
Armes Kind, dachte Malwart. Er würde den Fall dem Jugendamt melden.
Die Sonne war längst untergegangen, als der Kommissar Dienstschluss hatte. Trotzdem wurde es seit Wochen nicht mehr richtig dunkel. Vor der Stadt loderten Tag und Nacht die Flammen, die das verweste Spielzeug fraßen. Das war für ihn ein fast ebenso großes Mysterium. Wie viele Spielzeuge gab es in dieser verfluchten Stadt? Hier lebten anscheinend Kinder, die ganze Lastwagenladungen von Teddybären und Puppen in ihren Schränken horteten.
Gerade als Malwart ins Auto steigen wollte, fiel sein Blick auf den Feuerschein am anderen Ende der Stadt. Grüner Nebel hing über den Bränden. Florians Worte kamen ihm in den Sinn. Es war, als würde dieses merkwürdige Licht ein Eigenleben führen. Gebannt beobachtete er das Schauspiel. Langsam nahm das Grün eine Form an. Ein Pfeil aus Licht, der in den Himmel schoss und verschwand. Irritiert schüttelte Malwart den Kopf, dann startete er den Motor. Er war gerade zwei Straßen weiter gekommen, da tauchte der Pfeil wieder vor ihm auf. Das geformte Licht bewegte sich entgegen der Windrichtung. Der Kommissar zögerte nicht, sondern folgte dem merkwürdigen Gebilde. Ihm wurde gar nicht bewusst, dass er die Stadt verließ. Irgendwann verharrte der grüne Pfeil über dem Schornstein eines unscheinbaren Hauses. Es erschien Malwart, als hätte der Pfeil auf ihn gewartet, denn er sauste erst durch den Schlot, als der Kommissar vor der Tür geparkt hatte. Als er klingelte, ging im Obergeschoss das Licht an und wenig später öffnete ihm ein bärtiger, alter Mann.
Guten Abend, mein Name ist Kommissar Malwart. Hier mein Ausweis.
Der alte Mann warf nur einen kurzen Blick darauf. Was wollen Sie?
Darf ich reinkommen?
Wenn es unbedingt sein muss.
Es war das merkwürdigste Wohnzimmer, das Malwart je betreten hatte. Niemals hatte er solche Möbel gesehen. Die Stühle waren aus Tierknochen gezimmert und mit Fell bezogen. Der Tisch erinnerte ihn an irgendetwas, aber er konnte beim besten Willen nicht sagen, was es war. An den Wänden hingen Hirschgeweihe, Kuckucksuhren und lange, gestreifte Socken. Der Hausherr bot ihm einen Platz auf den seltsamen Stühlen an.
Nun, Herr Kommissar, womit kann ich Ihnen dienen?
Ich habe ein interessantes Naturschauspiel über Ihrem Schornstein beobachtet. Einen Pfeil aus grünem Licht.
Das haben Sie gesehen?
Malwart hatte das Gefühl, als mache der Mann sich über ihn lustig. Doch ehe der Eindruck sich verfestigen konnte, seufzte sein Gegenüber laut auf und sagte: Vielleicht ist es besser, wenn ich Sie einweihe. Er hat Sie gewiss nicht ohne Grund zu mir geführt. Nach einer kleinen Kunstpause fuhr er fort: Sie haben Florian Grodter kennen gelernt, nicht wahr?
Der Kommissar nickte. Ein bedauernswertes Kind. Ich habe das Jugendamt informiert.
Der alte Mann lachte bitter. Das dachte ich auch, ein bedauernswertes Kind. Wissen Sie, ich habe mich lange nicht mehr in die Belange der Menschen eingemischt. In kapitalen Zeiten, in denen nicht mehr geglaubt wird, sind Wesen wie ich überflüssig. Aber Florian rührte mich an. Seine Bitten drangen durch die Nacht bis an mein Ohr. Er wünschte sich eine Barbiepuppe. Dieser Junge tat mir unendlich leid. Ein desolates Elternhaus, keine Freunde, nichts, was das Leben zu dem wunderbaren Geschenk macht, das es ist. Deshalb wollte ich ihm etwas Besonderes schenken. Eine Puppe, in der ein Teil meiner Energie war. Ein lebendiges Spielzeug, das ihn Liebe und Freundschaft lehren sollte, Eigenschaften, die er nie entwickeln konnte. Aber ich habe mich geirrt. Dieser Junge ist schon zu sehr verwahrlost. Er konnte die Liebe nicht erwidern. Er misshandelte sein kostbares Spielzeug so, wie er selbst gequält wurde.
Obwohl Malwarts Verstand die Geschichte als aberwitzige Wahnvorstellung abtat, gab es etwas in ihm, das ihn glauben ließ. So hörte er weiter zu, ohne den alten Mann zu unterbrechen.
Florian nahm die Puppe überallhin mit, auch in die Schule. So kam sie mit den Spielzeugen anderer Kinder in Kontakt. Dadurch glaubte die gequälte Seelenenergie, sich retten zu können. Sie verließ Florians Puppe und suchte sich anderswo eine Heimstätte. Ein kleiner Funken reichte, um ein geliebtes Stofftier oder Püppchen zu beleben. Die Energie wurde immer stärker.
Seufzend machte der alte Mann eine Pause.
Ich habe einen großen Fehler gemacht. Keines dieser Kinder konnte mit dem großen Geschenk etwas anfangen. Jedes Mal verließ die Seelenenergie das Spielzeug innerhalb kurzer Zeit, um eine neue Heimat zu finden. Aber war ein Spielzeug einmal beseelt und wurde es dann von dieser Energie verlassen, so starb es. Ich habe versagt. Seit Monaten versuche ich, die Seelenenergie zu mir zurückzurufen, aber es ist vergeblich. Für jedes sterbende Spielzeug werden drei neue von der Kraft ergriffen, nur um dann ebenso zu verlöschen.
Der alte Mann sah den Kommissar an.Sie sagen gar nichts?
Mein Verstand sagt mir, dass Sie dringend ärztlicher Hilfe bedürfen.
Sie halten mich für verrückt?
Was bleibt mir anderes übrig? Sie wollen mir weismachen, dass Sie der Weihnachtsmann sind.
Ich kann es Ihnen beweisen, Herr Kommissar. Darf ich Sie bitten, kurz aufzustehen?
Malwart gehorchte und im selben Moment ging ein grünes Licht durch das Zimmer. Der Polizist sprang erschrocken zurück. Die Stühle hatten sich in ein Rentiergespann verwandelt und endlich fiel ihm ein, woran der Tisch ihn erinnert hatte. Es war ein Schlitten! Der Alte selbst stand so vor ihm, wie er ihn sich in seiner Kindheit stets vorgestellt hatte. Ein weißbärtiger Mann im roten Mantel mit roter Kapuze und schweren roten Stiefel, die mit weißem Pelz besetzt waren.
Ich habe alles versucht, Herr Kommissar. Letztlich gibt es nur eine Möglichkeit, das Unheil zu beenden, das ich über die Kinder gebracht habe. Deshalb hat der grüne Pfeil sie hergeführt. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber es muss sein.
Was?, fragte Malwart verwirrt. Die Ereignisse der letzten Minuten waren zuviel für seinen Verstand. Statt einer Antwort stieß der Weihnachtsmann den Kommissar unerwartet zu Boden und riss dessen Dienstwaffe an sich.
Es muss sein! Diese Welt ist ohne mich besser dran , waren seine letzten Worte, ehe der Knall die Luft spaltete.
Malwart hatte schon einige Tote gesehen, aber diesen Anblick würde er nie vergessen. Die Haut des Weihnachtsmanns verfärbte sich schwarz, dann zerfiel er, bis nur noch Staub auf dem Boden lag. Die Rentiere und der Schlitten verschwanden. Als Malwart zum zweiten Mal Atem holte und mühsam gegen die Übelkeit ankämpfte, stand er auf freiem Feld. Das Haus hatte sich ebenso aufgelöst wie alles andere. Er taumelte zu seinem Wagen, der mitten auf der leeren Landstraße stand, unfähig zu unterscheiden, was Wirklichkeit oder Hirngespinst war.
Als er zurück in die Stadt fuhr, fiel ihm auf, dass die Feuer verloschen waren und der Ort zum ersten Mal seit drei Monaten in friedlicher Dunkelheit vor ihm lag.
19. Dez. 2009 - Melanie Metzenthin
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