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Geschichte eines Todes von Damian Wolfe
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Mundet es nicht, Verehrteste?
Beinahe hätte sich Emily an dem Stück gebratene Wachtel verschluckt, auf dem sie in Gedanken versunken herumgekaut hatte.
Wie? Oh, doch, natürlich, es ist
exzellent, wie immer.
Lord Vincent Turnroy lächelte sein perfektes Gastgeberlächeln, während er zu seinem Weinglas griff. Emily fühlte sich ertappt. Sie wusste, dass sie sich unschicklich benahm, indem sie sich mehr auf den ausgestopften Vogel auf dem Kaminsims konzentrierte als auf den Mann, der sie für ein Wochenende in die große Stadt eingeladen hatte.
Raben scheinen Sie jedenfalls mehr zu interessieren als Wachteln, bemerkte Turnroy süffisant und nippte an seinem Wein.
Emily fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden. Der Lord hatte Recht. Sie konnte den Blick nicht von diesem düsteren Vogel abwenden, dem das Kerzenlicht ein unheimliches Eigenleben einhauchte.
Er ist
, stammelte sie verlegen, ich meine, es ist
Ungewöhnlich, ein solches Tier auf dem Kamin zu haben?, half ihr Turnroy galant aus ihrer Wortlosigkeit.
Ja, sagte Emily und schnitt sich ein Stück Wachtel ab.
Ich gebe zu, ein Keilerkopf wäre imposanter, fuhr der Lord fort, doch dieser Rabe ist etwas Besonderes. Er betrachtete den Vogel mit einer Vertrautheit, die Emily schaudern ließ.
Aber es ist doch nur ein Rabe, widersprach sie, nachdem sie den Bissen heruntergeschluckt hatte. Es gibt Tausende seiner Art.
Ja, aber keinen wie ihn, denn dieser Vogel hat eine Geschichte.
Eine Geschichte?
In der Tat. Aber ich fürchte, sie bei Tisch zu erzählen, wäre nicht angemessen.
Emily errötete noch mehr und hoffte inständig, dass ihr Gastgeber es nicht bemerkte.
Nichts Unzüchtiges, meine Liebe, zerstörte der Lord ihre Hoffnung. Es geht in dieser Geschichte um den Tod.
Den Tod?, wiederholte Emily und erntete ein Nicken ihres Gegenübers.
Der Rabe ist ein Bote des Todes. Wussten Sie das nicht?
Emily verneinte zaghaft. Eine Gänsehaut überzog ihren Rücken. Sie ahnte, dass die Geschichte nichts für ihre Ohren war. Dennoch legte sie das Besteck beiseite und bat den Lord, sie zu erzählen.
Er nickte, holte tief Luft und deutete auf den ausgestopften Raben.
Dieser Vogel hat unter anderem den Tod von Jonathan Wickett verkündet, begann er.
Dem Mörder?
Dem mehrfachen Mörder, ja.
Aber er starb doch durch den Strang.
Das ist richtig, meine Teuerste, bestätigte Turnroy lächelnd.
Was hatte dann der Rabe damit zu tun?
Das werde ich Ihnen erzählen: Morgen sind es auf den Tag genau drei Jahre, seit Wickett seinen letzten Gang angetreten hat. Ich saß damals mit einigen Gästen in Tyburn. Wir hatten die beste Sicht auf den Galgen und leider auch auf den Pöbel, sagte der Lord verächtlich. Doch auch die lautesten Krakeeler verstummten, als die Glocke von St. Sepulchre schlug. Die Spannung schwebte beinahe greifbar über dem Hinrichtungsplatz, doch es sollte zwei Stunden dauern, bis der Karren mit dem Verurteilten zu sehen war.
Emily hielt sich mit einem erschreckten Schluchzen die Hand vor den Mund und spürte, wie sich die Wachtel im Magen zu drehen begann. Noch nie hatte sie gehört, dass es so lange dauerte, einen Verurteilten vom Newgate-Gefängnis nach Tyburn zu bringen.
Die halbe Stadt war auf den Beinen und hat es sich nicht nehmen lassen, einen letzten Blick auf Wickett zu werfen, erklärte der Lord schließlich.
Emilys zitternde Hand fand das Weinglas und führte es an die trockenen Lippen. Der schwere Port sah aus wie Blut
Doch es war nicht nur der Mörder, der die Blicke auf sich zog, denn auf Wicketts Schulter hockte ein Rabe. Dieser Rabe! Turnroy zeigte mit dem Finger auf den Vogel, der der Erzählung mit stoischer Ruhe zu folgen schien.
Ich bitte Sie, Vincent, wie können Sie sicher sein, dass
Der Lord hob die Hand und bedeutete Emily zu schweigen. Dann griff auch er zum Glas und leerte es in einem Zug.
Der Rabe ließ sich von nichts und niemandem stören. Nicht von der pöbelnden Menge, nicht von den Wachen, die den Karren eskortierten, und nicht vom Priester, der unablässig auf Wickett einredete. Wickett wiederum schien sich an seinem gefiederten Begleiter ebenso wenig zu stören. Im Gegenteil, er grinste über das ganze Gesicht.
Abscheu lag in der Stimme des Lords, als er sich an den Mann erinnerte, der die Stadt wochenlang in Atem gehalten hatte und anschließend während des Prozesses kein Wort gesagt, sondern lediglich süffisant gegrinst hatte.
Jedenfalls, nahm Turnroy den Faden wieder auf, ergötzte sich der Pöbel an diesem Schauspiel geradezu: Alle johlten und schrien, als Wickett schließlich vom Karren stieg und mit dem Vogel auf der Schulter und hoch erhobenen Hauptes auf die Plattform gebracht wurde. Der Himmel überzog sich mit düsteren Wolken, während der Henker die Schlinge um den Hals des Mörders legte. Hast du noch etwas zu sagen, bevor du diese Welt verlässt, Jonathan Jeremiah Wickett?, fragte der Henker und brachte die Menge zum Verstummen. Der Verurteilte blickte den Raben an, dann den Henker, spuckte zu Boden und sagte: Ich werde nicht der Einzige sein, der hier heute stirbt. Meine Nackenhaare richten sich jetzt noch auf, wenn ich daran denke, gestand der Lord und goss sich ein weiteres Glas des blutroten Weins ein.
Emily erging es ebenso. Ob ihr Gastgeber wohl auch einen Kloß in der Magengegend verspürte? Wie gern hätte sie jetzt ein Glas Wasser gehabt, doch sie wagte es nicht, Turnroys Erzählung zu unterbrechen.
Dann zog der Henker die weiße Kapuze aus seiner Tasche und schaffte es tatsächlich, damit den Raben zu vertreiben, der krächzend hochflatterte und sich auf dem Galgengerüst niederließ. Die Menge hielt den Atem an, als der Henker Wickett die Kapuze über den Kopf stülpte und von der Plattform stieg. Feierlich umfasste er mit beiden Händen den langen Hebel, der den Mörder in Jenseits befördern würde, riss ihn mit einem Ruck nach unten und
Turnroy schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass das Geschirr klirrte und Emily erschreckt aufschrie. Und die Falltür öffnete sich.
Emilys Herz pochte wie wild. Beinahe erwartete sie, dass der Lord ob ihrer Schreckhaftigkeit in lautes Gelächter ausbräche, doch ein Blick in seine Augen machte ihr klar, dass seine Gedanken nicht in der Gegenwart waren.
Und dann?, flüsterte sie zaghaft.
Wickett fiel wie ein Sack Getreide, erwiderte Turnroy ebenso leise. Just in diesem Augenblick stieß sich der Rabe ab und flatterte krächzend in den düsteren Himmel. Alle starrten auf den zuckenden, strampelnden Mörder. Ich aber sah, wie sich eine glänzend schwarze Feder aus dem Flügel des Raben löste und sanft nach unten segelte. Der Vogel hörte nicht auf zu krächzen, während er über dem Galgen seine Kreise zog, als warte er darauf, bis seine Feder den Boden berührt. Doch das tat sie nicht. Turnroys Blick verfinsterte sich noch mehr. Sie landete auf dem Kopf des Henkers, der sich plötzlich an die Brust griff und in sich zusammensackte. Wickett hatte Recht behalten: Der Henker starb nur wenige Momente nach ihm. Ein Herzinfarkt, hieß es später. Ein seltsamer Zufall, nicht wahr?
Die Stille, die das Zimmer erfüllte, war so bedrückend, dass Emily kaum zu atmen wagte. Wieder und wieder huschte ihre Zungenspitze über die trockenen Lippen in dem vergeblichen Versuch, sie zu befeuchten. Denn nach ihrem halbvollen Weinglas zu greifen, erschien ihr wie eine Störung der Totenruhe.
Und der Rabe?, fragte sie schließlich doch.
Er setzte sich wieder auf das Galgengerüst.
Wie kam er dann hierher auf den Kaminsims?
Ganz einfach, antwortete Turnroy mit dem Anflug eines Lächelns. Während die Wachen damit beschäftigt waren, den neugierigen Pöbel im Zaum zu halten, zog ich meine Pistole und erschoss den Vogel.
Aber weshalb?, rief Emily, der das Tier plötzlich leid tat.
Nun, meine Teuerste, ich wollte schon immer wissen, wann ich von dieser Welt abzutreten habe. Und dieser Rabe schien mir ein sehr verlässlicher Vorbote dieses Moments zu sein. Deshalb hielt ich es für eine gute Idee, ihn ständig bei mir zu haben.
Aber er ist tot, protestierte Emily. Wie soll er da Ihren Tod verkünden können?
Ein verschlagenes Lächeln legte sich auf die Lippen des Lords. Er griff nach der Karaffe und füllte erst Emilys, dann sein eigenes Glas und erhob es feierlich.
Sie sind eine kluge junge Dame, meine Liebe. Der Vogel kann den Schnabel nicht mehr aufreißen, geschweige denn meinen Tod verkünden. Daher sollten wir jetzt auf mein langes Leben anstoßen.
Emily wusste nicht, vor wem sie sich mehr fürchtete: vor dem Raben oder vor ihrem Gastgeber.
Als Emily am nächsten Morgen die Treppe hinabstieg, gab sie kein besonders damenhaftes Bild ab. Sie hatte kaum geschlafen, und ihr Kopf war immer noch schwer vom Wein. Der Betriebsamkeit in der Küche entnahm sie, dass Turnroy wohl schon wach war.
Sie nahm sich vor, sich nichts anmerken zu lassen, als sie festen Schrittes die letzten Stufen nahm, das Esszimmer betrat und aufschrie. Der Lord saß an seinem Platz, ein reichliches Frühstück vor sich auf dem Tisch. Eine Hand klammerte sich an der Tischkante fest, während die andere um seinen Hals geschlossen war. In dem bläulich angelaufenen Gesicht strahlten die Augen unnatürlich weiß.
Und leblos.
Dass die Dienerschaft herbeieilte und sich bemühte, dem Lord Leben einzuhauchen, nahm Emily nur am Rande wahr. Ebenso wenig bemerkte sie, dass man versuchte, sie aus dem Zimmer zu führen. Dann gaben ihre Beine nach, und sie verlor das Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie allein auf einer Ottomane im Wohnzimmer. Aus dem Esszimmer hingegen drangen aufgeregte Stimmen, weshalb sich Emily hochstemmte und ihnen entgegenwankte. Jemand hatte einen Arzt geholt, der gerade dabei war, mit einer Pinzette etwas aus Turnroys Schlund zu ziehen. Plötzlich bemerkte Emily etwas auf dem Teller des Lords, das nicht dorthin gehörte: eine glänzend schwarze Feder.
Unwillkürlich huschte Emilys Blick zum Raben hinüber. Noch immer hockte der Vogel auf seinem Platz auf dem Kaminsims. Nur etwas hatte sich verändert: Sein Schnabel stand weit offen.
22. Sep. 2009 - Damian Wolfe
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