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Das vergangene Volk
von Michael Sagenhorn

Michael Sagenhorn Michael Sagenhorn
© http://www.phantasaria.de
Als die Eingangstür der Taverne ‚Zum Kristallberg’ geöffnet wurde, wehte der eisige Wind des hohen Nordens in die Stube und verdrängte die beschauliche Wärme des Kaminfeuers mit seinem frostigen Atem. Er blies auch silbrig glitzernden Pulverschnee herein; der in kürzester Zeit die Schwelle bedeckte. Ein junger Mann trat schnell aus der Nacht in die schummerige Schänke, um die Kälte durch einen Tritt gegen die Tür auszuschließen. Er sah an sich herab und klopfte eine dicke Schneekruste von seinem Hirschfellmantel, stampfte seine Pelzstiefel fest gegen das Parkett, damit sich die Schneeschicht davon löste.
Bibbernd schlich er zu einem Tisch in der Ecke. Allerdings musste er ohnehin nicht befürchten, zuviel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Außer einem rotbäckigen Mann hinter dem Tresen, dem schon die meisten Haare abhandengekommen waren, einem Barden, der auf einem quer liegenden Bierfass auf seiner Leier zupfte, zwei grobschlächtigen Gästen, die gerade gierig einen Rehkalbbraten in sich hineinstopften, und einer hübsch anzusehenden Schankmaid, war in der Taverne niemand zugegen. Kein Wunder. Das kleine Haus stand mitten in der bergumkränzten Einsamkeit, zwischen drei hohen Tannen, etwa eine Tagesreise von der nächstgelegenen Ansiedlung entfernt. Bei den meisten Gästen handelte es sich daher um Reisende, die sich nach Rast und Stärkung sehnten, und ab und an ein Zimmer für die Nacht mieteten.
Vielleicht auch dieser Gast, hoffte Berthold Berchel, der dicke Wirt. Er konnte jedes zusätzliche Kupferstück, das er für eine Übernachtung bekam, gut brauchen. Als sich der Neuankömmling niedergelassen hatte, wackelte Berthold zu ihm.
„Was darf es sein, Fremder? Met, Braten, ein Bett für die Nacht?“
„Bitte bringt mir zuerst ein Glas heiße Milch!“, verlangte der neue Gast.
Einer der grobschlächtigen Hünen verschluckte sich und hustete ein Stück Rehkeule aus. Der Fremde wurde mit einem geringschätzigen Blick bedacht, doch Berthold stapfte sofort zurück und holte das gewünschte Getränk.
„Darf ich fragen, wer Ihr seid und was Ihr in dieser von den Göttern verlassenen Gegend treibt?“, wollte er wissen, nachdem er die Milch serviert hatte.
Auf dem Gesicht des Fremden lag ein Ausdruck von Erschöpfung. Er wirkte reif für sein jugendliches Aussehen, als hätte er schon so manche nennenswerte Erfahrung gemacht. Das interessierte den Wirt.
„Ich bin Malister, der Poet, guter Mann!“
Aus Richtung der Hünen erfolgte lautes Gelächter. „Ein Poet! Das hätte ich mir denken können, bei diesem schmächtigen Würmchen.“
Malister ging nicht darauf ein. Nach einem Schluck von der heißen Milch war ihm wärmer geworden, daher zog er seinen Mantel aus und legte ihn neben sich. „Ich bin weit im Norden gewesen, dicht vor den Bergen des ewigen Schnees. Dort ist mir Seltsames und zugleich Gefährliches widerfahren.“
„Was denn? Ist deine Feder ins Tintenfass gefroren?“ Der zweite Barbar lachte.
„Halt die Klappe, Ulf!“, rief das Schankmädchen wütend. „Und lass unsere Gäste in Ruhe, sonst schläfst du heute Nacht bei den Pferden!“ Jetzt begann der Poet auch ihr Interesse zu wecken.
„Von dieser Gegend kommen allerlei wunderliche Geschichten“, bemerkte Berthold. „Bitte achtet nicht auf diese Rüpel und erzählt uns, was Ihr erlebt habt.“
„Gern! Doch vorher möchte ich meinen Hunger besänftigen. Habt Ihr eine warme Suppe und dazu ein Stück Brot?“

Szenentrenner


Nachdem er eine kräftige Speckbrühe geschlürft und ein zweites Glas Milch erhalten hatte, begann er mit seiner Geschichte. Das Mädchen und der Barde saßen ebenfalls bei ihm am Tisch.
„Die Einsamkeit sollte mich zu neuen Werken beflügeln. Daher kam ich zu euch, denn eure verlassenen Pfade werden vielerorts erwähnt. Ich folgte einem dieser Pfade bis zum Fuß des großen Berges Wot, ohne dass mir eine Menschenseele begegnet wäre.
Diese wundervolle Verlassenheit ließ ich lange auf mich wirken. Tatsächlich fühlte ich mich meinen berühmten Vorbildern so nah wie noch nie. Oft notierte ich meine Stimmung oder skizzierte die weiße Landschaft um mich herum. Eines Nachts sah ich auf die Lichter eines Dorfes in der Hochebene herab. Der wunderschöne Anblick inspirierte mich zu einem Vers. Schon am Morgen danach beobachtete ich, wie eine Herde Rehe dicht an mir vorüber zog. Ein Kitz blickte mir dabei in die Augen, und es war als hätten wir eine besondere Verbindung ...“
„Komm endlich zur Sache!“, rief Ulf.
Der Poet sah beleidigt hinüber. Trotzdem war er ein wenig stolz darauf, auch die Aufmerksamkeit der Barbaren gewonnen zu haben. „Nun! Da ihr so geneigt an meinen Lippen hängt, will ich ein paar Details überspringen und zum wesentlichen Ereignis meiner Reise kommen:“

Szenentrenner


Als Malister die ersten Ausläufer des Berges Wot erreichte, stand die Mittagssonne strahlend hell am Himmel und versuchte der frostigen Gegend ein wenig Wärme zu spenden. Das verhinderte jedoch die kalte Luft. Sie war so klar, dass man scheinbar endlos in die Ferne blicken konnte. Das Umland schien zum Greifen nah, obwohl man viele Wegstunden benötigen würde, um einen ausgemachten Punkt zu erreichen.
Malister erkannte plötzlich etwas, das nicht in die unberührte Schneelandschaft passte. Erst nach einem langen Marsch konnte er ausmachen, um was es sich handelte. Ein Bauwerk? Der Poet erhöhte neugierig das Tempo. Bei näherem Hinsehen begriff er, dass es sich um eine Einkehr handelte. Der Baustil, exotisch und elegant, verriet ihm: Dieses Gebäude war von Elfen errichtet worden. Der Schnee begrub zwar die runde Terrasse, doch das grüne Dach wies keine Spur der weißen Pracht auf. Auch der Eingang und die Fenster lagen frei. Es schien als hätte die Naturgewalt keine Macht über diesen Ort.
Nach einer weiteren Stunde war er endlich am Ziel. Malister freute sich schon auf ein warmes Zimmer, ein gutes Mahl und vielleicht auf ein paar Lieder, denn die Elfen waren in allen Ländern als Schöngeister bekannt. Die Ernüchterung folgte auf dem Fuß. Als der Poet den Schnee über der Terrasse betrat, wurde ihm sofort bewusst, dass die Einkehr längst verlassen worden war. Bei genauerer Betrachtung der Gegend fielen ihm auch Umrisse von weiteren Häusern auf, die sich unter der Schneedecke abhoben.
„Jetzt erinnere ich mich!“, flüsterte Malister. „Die Elfen haben die nördlichen Regionen schon vor Jahrhunderten verlassen... Aber diese Einkehr! Sie steht noch so vollkommen da, wie am Tag ihrer Vollendung.“
Malister trat durch die offen stehende Tür. Eine nie zuvor gekannte Einsamkeit umfing ihn. Sie bohrte sich in sein Herz, tiefer als es die Kälte des Nordens vermochte. „Ach ja! Wenn Elfen einen lieb gewonnen Ort verlassen, bleibt ein Teil ihres Abschiedschmerzes zurück.“
Diese Elfen sind nicht freiwillig fortgezogen, dachte er, etwas muss sie vertrieben haben. Zwerge? Oger?
Malister kam plötzlich ein fürchterlicher Gedanke: Vielleicht war das, was für die Vertreibung der Elfen verantwortlich war, noch in der Gegend?
„Nein! Nicht nach der langen Zeit, die seitdem verstrichen ist.“, murmelte er vor sich hin.
Vorsichtig trat er auf die Bodenbretter. Das Holz knarrte leise, hielt aber seinem Gewicht mühelos stand. Ein leichter Wind kam auf. Das Knarren und Heulen drückte Malisters Stimmung. Er zitterte, war sich aber nicht sicher, ob das lediglich durch die Kälte ausgelöst wurde.
Durch die verschmierten Fenstergläser fielen Sonnenstrahlen gebündelt herein, beleuchteten grazile, ovale Tische, gemütlich aussehende Sitzbänke und das geschwungene, weiß gestrichene Gebälk, das unzählige Schnitzereien aufwies. Malister verlor sich beinahe in den Arbeiten der Elfen. Staunend betrachtete er die Reliefe der Stürzbalken, bis ihn sein Gefühl mahnte auf die Zeit zu achten. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass die Sonne den Berggipfeln schon sehr nah gekommen war. Der Wind nahm zu und Wolken formten sich in den Trichtern zwischen den Gipfeln.
„Vermaledeit! Mir schwant, böses Wetter kommt auf! Der Tag geht auch schon zur Neige.“
Vielleicht sollte er die Nacht in der Einkehr verbringen. Der Poet hätte das sicher für eine gute Idee gehalten, würde er sich nicht von Augenblick zu Augenblick unbehaglicher fühlen. Diese grässliche Einsamkeit! Aus ihr gewann man keine Poesie. Zudem fühlte er den quälenden Abschiedsschmerz des vergangenen Volkes.
„Ein ... ein kleiner Reim wird meine Gedanken erleichtern.“, sprach er sich selbst Mut zu.
Doch er fühlte noch etwas anderes, ganz so als würde ihm jemand auflauern
„ O schöne Maid, O Elfenwesen,
wie hast du’s mir angetan.
Bei deinem Lächeln werd’ ich genesen,
wie wohl ist mir, bei deinem Gesang.“


Eine latente Gefahr, die sich seiner zu bemächtigen versuchte. Die Dielen ächzten lauter, als wollten sie sein Gedicht begleiten. Oder verhöhnten sie ihn? Der Wind trieb ihm die Kälte in die Glieder.

„Beim Feuer .... beim Feuer tanzt du hell,
erstrahlest wie der Sonnenschein.
Ich kann nicht anders, frage schnell,
wann, O Maid wirst du die mein’?“


Tränen rannen ihm über die Wangen, obwohl er keine Trauer spürte. Oder doch? Trauerte er um das Volk? Der Schmerz der Elfen durchströmte jeden Nerv.

“Lass unsre Liebe über alle Grenzen tragen,
ob Elf, ob Mensch, das ist so gleich.
Zu den Sternen auf, mit unserem Himmelswagen,
Arm in Arm ich spür.... Es ist noch da!“


Malisters Gedicht erstarb mit einem Schreckensruf. Es war noch da! Seine schlimme Ahnung entsprang keinem Trugschluss. Was immer die Elfen vertrieben hatte, lauerte bis heute auf ahnungslose Opfer. Der Schmerz des Abschieds, den er fühlte, das war nicht der Schmerz der Abreise. Es war der des Todes.
„Sie starben!“, entfuhr es ihm.
Viele Elfen fanden den Tod, bevor sie sich entschlossen hatten, ihre Heimat zu verlassen. Sie versuchten zu kämpfen, aber es war ihnen nicht möglich den Gegner auszumachen. Unsichtbar, lautlos, ohne Erscheinungsbild kam das Grauen über sie und labte sich an ihren mächtigen Seelen. Das langlebige Volk wurde zur Beute für einen unersättlichen Jäger.
Malister sah in seinem Geist das Schicksal der Elfen nur durch einen Schleier, der schemenhaft die Geschehnisse wiedergab. Weniger durch Bilder, mehr durch Gefühle und Gedanken, denen es nicht vergönnt war zu verblassen, obwohl deren Urheber schon längst diese Welt hinter sich gelassen hatten.
Langsam ging die Sonne unter, die Dämmerung brach herein. Ein Laden schlug gegen das Fenster. Malister erschrak. Er musste fliehen bevor die Dunkelheit die Oberhand gewann. Sonst würde er das Schicksal der Elfen teilen.
Aber der Sturm! Der Wind nahm weiterhin zu. Egal! Lieber im eisigen Wind sein Ende finden, als hier.
Die Einkehr begann zu brummen. Ein Vibrieren kitzelte Malisters Körper. Er konnte sich vor Angst kaum noch bewegen und musste zusehen wie die Sonne mehr und mehr verschwand. Das rote Dämmerlicht nahm stetig ab. Malister starrte zur Decke. Dort tanzten dunkle Schatten, bewegten sich als wären sie lebendig. Noch mieden sie die hellen Stellen, aber mit den schwindenden Sonnenstrahlen kamen sie dem Boden immer näher. Malister schrie. Endlich erlangte er wieder Gewalt über seinen Körper. Mit klopfendem Herzen raste er zum Ausgang, mit einem Satz sprang er über die Schwelle. Dann lief er und lief und lief...
Szenentrenner


„Habt Ihr Euch denn gar nicht mehr umgesehen?“, fragte das zierliche Schankmädchen mit ängstlichem Ausdruck.
Malister hob zitternd seine Tasse an die Lippen. Während er trank bemerkte er wie still es in der Stube geworden war. Alle – selbst die Barbaren – schauten ihn mit großen Augen an. Und ihm kam es so vor, als wagte es keiner zu atmen.
„Einmal!“, flüsterte der Poet. „Nur einmal habe ich zurückgeblickt. Vor der Einkehr stand die Schimäre einer blassen Elfenfrau, die mir hinterhersah. Sie trug ein wunderschönes blaues Gewand und ihre hellgoldenen Haare wehten im Wind. Vielleicht war es ein geschundener Geist, ewig an diesem Ort gebunden, voll Verzweiflung und Trauer. Vielleicht aber, war es auch dieses hungrige Etwas selbst, das die Form seiner Opfer angenommen hat, um mich zu verhöhnen, oder um mich, mit der Schönheit einer Elfe, zurück in die Einkehr zu locken.“

08. Nov. 2009 - Michael Sagenhorn

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