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Abschied von Alexander Nofftz
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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SUN QUEST
U. Zietsch
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Andrä Martyna © http://www.andrae-martyna.de/
Torogard presste die Hände auf die Wunde, versuchte, den Fluss des Lebenssaftes aufzuhalten, der unaufhörlich aus ihrem Körper hervorquoll und den Boden, diesen abstoßend organischen Boden, benetzte.
»Lass gut sein«, sagte Zafira, ihre Stimme war nur mehr ein Flüstern. »Du kannst … nichts mehr tun.«
Ein Blutfaden löste sich aus ihrem Mundwinkel. Dies machte Torogards Befürchtung zur Gewissheit, dass der Schwertstich des Echsenkriegers ihre Lunge verletzt hatte.
»Ich muss doch irgendetwas tun!« Mühsam hielt er die Tränen zurück. Jetzt musste er stark sein, durfte nicht in dieser schrecklichen Lage in Tränen ausbrechen.
Stark sein … Seine Frau war immer stark gewesen, hatte mit ihrer Schwester gemeinsam Xam den Großen, den formellen Herrscher von Choc, auf ihren Schultern getragen. Seit unzähligen Generationen war es Tradition, dass die Stadt mit den Schokoladendächern von einem Jungen geführt wurde, den zwei Dienerinnen auf einer Sänfte durch die Straßen trugen. Er musste sich von der Schokolade ernähren und abdanken, sobald seine Trägerinnen ihn nicht mehr stemmen konnten. Xam war da die große Ausnahme gewesen, denn er hatte nie zugenommen. Erst …
»Es … war Wahnsinn, hierherzukommen …«, hauchte sie und riss ihn aus den Erinnerungen an die Zeit kurz vor ihrer Flucht. »Wir mussten … damit rechnen, dass es so … enden würde.«
»Aber meine Zafira!« Er stellte die sinnlosen Versuche, den Blutstrom aufzuhalten, endgültig ein. Er ergriff ihren Kopf und hob ihn sanft an, dann küsste er die bereits blau angelaufenen Lippen. »Ich werde dich nie zurücklassen!«
»Irgendwann … ist es für jeden Zeit … zu gehen.« Ihre Augen flackerten, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Xam musste … auch gehen.«
Torogard nickte hastig. Er hatte den arroganten und aufmüpfigen Jungen nie gemocht, doch Zafira hatte ihn geliebt wie ein eigenes Kind. Dennoch hätte er Xam so ein Lebensende niemals gewünscht. Er biss sich auf die Zähne, um einen Schluchzer zu vermeiden. Wie gerne hätte er mit ihr ein eigenes Kind gehabt!
Er verscheuchte den Gedanken und ballte die Fäuste hinter ihrem Nacken. »Daran ist nur diese verdammte Passage schuld!«
Zafiras Hände ruckten nach oben, berührten kurz seine Ellenbogen und wollten weiter zu seinen Fäusten wandern, fielen jedoch kraftlos nach unten. Zafira keuchte und Torogard stellte entsetzt fest, dass sich ein Rasseln in ihrem Atem gemischt hatte.
»So darfst … du nicht denken«, stieß sie hervor, dabei mehr und mehr Blut spuckend. »Ohne die Sonnenkraftträgerin … und Corundur … wären wir jetzt alle tot … wie Xam.«
Wie alle Bewohner von Less hatte auch der Prinz von Choc eine besondere Fähigkeit besessen. Seine Psimagie bestand darin, trotz aller Süßigkeiten sein Gewicht zu halten. Nach der Passage war die Psimagie auf Less so gut wie nicht mehr vorhanden gewesen und Xam war in beängstigenden Tempo aus allen Nähten geplatzt. Nach nur zwei Lunarien konnte er schon nicht mehr alleine laufen, sich wenig später überhaupt nicht mehr rühren. Schließlich hatten sie eines Morgens einen toten Fleischberg vorgefunden. Chocs Herrscher war tot!
Torogard rief sich zur Ordnung. Wie konnte er jetzt nur an Xam den Großen denken, wo seine Frau gerade um ihr Leben kämpfte? Seine Nägel bohrten sich in die Innenflächen der Hände.
»Ich werde diese Echsenkrieger finden und zur Strecke bringen, alle miteinander«, versprach er ihr mit düsterer Stimme. »Allen voran diesen alten Kuntar, der keinen Finger gerührt hat. Jede Wette, das war ihr Anführer und für den Angriff verantwortlich!«
Zafira bäumte sich auf. Er sah, wie kleine Insekten ihr Blut vom Boden aufsaugten und volltrunken in Ritzen des ledrigen, widerwärtig stinkenden Untergrundes verschwanden.
»Wir sind die Eindringlinge, Torogard!«, widersprach sie mit erstaunlicher Kraft, um direkt anschließend zusammenzusacken und zu röcheln. »Nur unsere Gier … ist schuld.«
Behutsam bettete er ihren Kopf auf den Boden zurück und wischte Blut aus ihrem Gesicht.
Sie zitterte.
»Mir ist … so kalt.«
Er drängte sich an sie, spürte ihren unnatürlich kühlen Körper, versuchte, seine Körperwärme auf sie zu übertragen. Ihr Blut drang durch seine Kleidung, verklebte die Haut. »Alle werden dafür bezahlen«, stieß er voller Hass und Bitterkeit hervor.
»Wie willst du das … denn anstellen?«, hauchte sie direkt in sein Ohr. Wieder vernahm er dieses Rasseln und Pfeifen, wie aus einem löchrigen Blasebalg. »Du kannst … gar nicht kämpfen … oder willst du diese … Kuntar mit deiner Sport-Armbrust … mit der du nicht einmal … die Zielscheibe triffst … töten?«
Täuschte er sich, oder war das letzte Wort in einem völlig anderen Tonfall erklungen? Rechnete sie etwa bereits mit dem eigenen Tod?
»Zafira, du kannst nicht hier bleiben. Lass mich noch einmal versuchen, dich hochzuheben und wegzutragen, bevor die Kuntar wiederkommen. Vielleicht tut es dieses Mal nicht so weh, und du kannst es aushalten.«
Statt einer Antwort hauchte sie ihm einen blutigen Kuss mit kalten Lippen auf die Wange. »Sie … werden nicht zurückkehren … Sie wollen … dass du entkommst … und berichtest, wie gefährlich … ELIUM ist.«
Torogard legte sich unmittelbar neben sie und bettete ihren Oberkörper in den Armen, damit er sie wärmen und in ihr Gesicht sehen konnte. Ihre Lippen waren nun völlig blau angelaufen, das Gesicht blass wie Pergament. Eine Eishand griff nach seinem Herz, als sie mit flatternden Liedern die Augen schloss. Ihr Mund öffnete sich weit, sog immer mühsamer die Luft ein.
Dann hörte sie auf zu atmen.
»Zafira!«, rief Torogard, doch seine Frau reagierte nicht. Stattdessen sank ihr Kopf zur Seite. »Zafira, lass mich nicht allein!«
Schlotternd vor Panik begann er mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Wie machte man das nur richtig? Sollte er auch ihr Herz massieren? Aber wie? Da war doch diese schreckliche Verletzung!
Schon nach zwei Beatmungsversuchen stellte er fest, dass die in Zafiras Körper gepresste Luft teilweise durch die Wunde entwich. Er riss ihr den provisorischen Verband von der Brust und presste die Hand mit aller Kraft auf die Verletzung, dass er schon fürchtete, ihre Rippen würden brechen. Dann wiederholte er seine Bemühungen mit der Beatmung.
Schließlich hatte er Erfolg – Zafira schlug die Augen auf und sog nun wieder selbst Luft ein, begleitet von diesem schauerlichen Geräusch, das er vermutlich sein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen würde.
Doch seine Frau nahm ihn nicht wahr. Sie starrte an ihm vorbei und fixierte einen Punkt an der Wand hinter ihm. Dort befand sich eine dieser widerwärtigen Öffnungen, von denen er auf seinem bisherigen Weg durch ELIUM schon Unzählige gesehen hatte. ELIUM, der Un-Ort im Tal der Lebenden Steine, den niemand wachen Verstandes aufsuchte.
Aber sie beide hatten es getan, hatten sich von den Legenden über die derzeit unbewachten Schätze blenden lassen. Und Zafira bezahlte nun den Preis dafür.
Sie begann, irgendetwas zu flüstern, das Torogard aufgrund der rasselnden Nebengeräusche ihres Atems nicht verstehen konnte. Er spürte, wie die Luft zwischen seinen auf die Wunde gepressten Fingern eingesaugt wurde, trotzdem quoll noch immer Blut hervor.
»Das Schiff …« Endlich verstand er ihr Flüstern, als sein Ohr nur noch fingerbreit von ihren Lippen entfernt war. »… auf der stürmischen See!«
Ein, zwei Herzschläge lang verstand er nicht, doch dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Sanft drehte er ihren Kopf zu sich. Ein paar Tropfen – seine Tränen – fielen auf ihre eingefallenen Wangen.
»Es …« Ihm versagte die Stimme, als würde jemand seine Kehle von hinten zudrücken. Fast wünschte er sich, es wäre so. »Das Schiff ist nicht da, Zafira. Das Gemälde hängt immer noch im Rathaus von Choc, hörst du? Das Schiff existiert nicht wirklich!«
Noch nicht, hatte er damals gesagt, doch das würde wohl nie wahr werden.
Zafira würde ihn jeden Moment verlassen.
Seine Eingeweide verkrampften sich. Nie würden sie ihren Ozeankreuzer bauen, nie das uralte Ölgemälde in die Realität umsetzen.
Niemals wieder würde er ihr Lachen hören, ihre Umarmung genießen.
Torogard bemühte sich nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten, so bemerkte er in seiner Trauer erst spät, dass Zafira ihn direkt ansprach. Er hielt die Luft an, um sie besser hören zu können, und legte ein weiteres Mal das Ohr an ihren Mund.
»Es war … nur ein Traum … aber wir brauchten einen Traum … nach der Flucht aus Choc … was hatten wir denn noch?«
»Wir hatten uns«, antwortete er, nun ebenfalls flüsternd. »Wer weiß, vielleicht hätte das mit dem Schiff wirklich geklappt und wir hätten irgendwo in einer Küstenstadt deine Schwester wiedergefunden. Dann hätten wir uns mit den erbeuteten Schätzen irgendwo ein ruhiges, friedliches Leben erlauben können – ohne Intrigen … und Habgier.«
Aus Zafiras Körper kam ein hässliches Geräusch. Eine Mischung aus dem Pfeifen der Brustwunde, dem Krächzen des mit Blut gefüllten Kehlkopfs – etwas, was wohl den Versuch eines Lachens darstellen sollte. Niemals wieder …
»… werde meine … Schwester wiedersehen«, hauchte sie, inzwischen so leise, dass Torogard auch mit äußerster Mühe nur jede zweite Silbe verstand. »Schon sehr bald … bin ganz leicht … keine Schmerzen … erinnerst du dich an … Flaschenschiffe … Markt von … Choc zu kaufen gab? Baue doch … so ein Schiff … als Urne für mich, dann … ich und unser … Traum … sind immer bei dir …«
Zafiras Stimme versiegte, und sie lag still. In ihren Augen lag kein Leben mehr.
Torogard schloss ihre Augen und kroch dann rückwärts, bis er mit dem Rücken die Wand berührte. Er schrammte an einem Dorn entlang, doch es kümmerte ihn nicht. Er sank in sich zusammen und ließ seinen Gefühlen freien Lauf. Wie hatte es nur dazu kommen können? Warum war nicht er voraus gegangen, um den Weg auszuspähen, hatte Zafira nicht aufgehalten? Warum hatten sie überhaupt ELIUM betreten?
Weil ELIUM führerlos ist, antwortete er sich selbst. Auf unserer Flucht haben wir gehört, dass der »Aderschlag«, die Führungsschicht, umgekommen sein soll. Und dass ELIUM Reichtümer beherbergen soll. Reichtümer, mit denen man ein Schiff bauen oder kaufen kann. Und die einfach so auf jemanden warten sollen, der sie birgt.
Von Kuntar, die sie bewachten, war hingegen nie die Rede gewesen.
Er öffnete die Augen und betrachtete seine Arme, seine Kleidung.
»Ich habe ihr Blut an meinen Händen«, murmelte er, angewidert über sich selbst. Er riss sich sein besudeltes Hemd vom Leib und schleuderte es von sich. Dann brüllte er: »Ich habe sie auf dem Gewissen, niemand sonst. Kommt endlich her und tötet mich!«
Doch niemand kam, er blieb mit seiner Trauer und seinem in Verzweiflung umschlagenden Hass allein. Nein, allein würde er sich nicht auf die Meere von Less aufmachen, das konnte er sich selbst und Zafira nicht antun. Oder doch? War es nicht ihr letzter Wille gewesen, als »Sandstrand« in einem Flaschenschiff beerdigt zu werden? Torogard seufzte. Das Flaschenschiff, gefüllt mit ihrer Asche, das würde er bauen. Ihr den letzten Wunsch erfüllen.
Als er sich so weit gefasst hatte, wagte er es erst wieder, sie zu betrachten. Und erstarrte.
Jene kleinen Insekten, die sich zuvor schon an ihrem Blut gelabt hatten, bedeckten nun zu Tausenden den Körper, gruben winzige Mundwerkzeuge in die sterblichen Überreste, bissen Stücke heraus und transportierten sie ab. Selbst sein Hemd war bereits von ihnen bedeckt.
»Nein, nein!«, schrie er, sprang auf und stürmte auf den Leichnam seiner Frau zu. »Ihr bekommt sie nicht! Ich muss sie verbrennen!«
Torogard wischte Krabbeltiere von Zafiras totem Körper, zerquetschte sie, zertrat sie, doch die Übermacht war zu groß. In kürzester Zeit ragten nur noch Knochen aus dem wimmelnden Haufen, dann wurden sogar diese verarbeitet. Inzwischen machten sie auch vor Torogard nicht mehr halt, krochen an seinen Beinen empor, über und unter seine Kleidung. Es juckte entsetzlich.
Schließlich stellte er jegliche Gegenwehr ein, ließ sich zu Boden fallen, schloss die Augen und ergab sich in sein Schicksal. Sollten die Biester auch ihn auffressen, dann war er wieder mit seiner Liebsten vereint. In diesem Leben gab es nichts mehr, was ihn hielt.
Doch die Insekten taten ihm den Gefallen nicht. Nach kurzer Zeit hörte das Jucken auf. Zögerlich öffnete er zunächst ein, dann das andere Auge. Kein einziges der Biester war mehr zu sehen. Torogards Oberkörper, sogar seine Kleidung waren makellos sauber. Sie hatten ihn nur aufgesucht, um jeden noch so kleinen Tropfen von Zafiras Blut abzulecken.
Er hob den Oberkörper und verbarg das Gesicht in Händen. »Ich kann hier nicht weg«, flüsterte er verzweifelt. »ELIUM hat sie aufgesogen, zu einem Teil von sich gemacht. Das hier ist jetzt nicht nur Zafiras Todesort, sondern nun auch ihre Ruhestätte. Wie könnte ich sie da zurücklassen?«
In wenigen Wochen hatte Torogard alles verloren – nach Xams Tod und den folgenden Machtkämpfen seine Position als einer der Machthaber von Choc, seine Heimat, als sie vor dem politischen Gegner fliehen mussten, seine Schwägerin auf der Flucht – und nun auch noch seine Frau.
»Allein. Ganz allein.«
Nein, er würde sich nicht an den Kuntar – oder Kriggets, wie sich die Kämpfer ELIUMS selbst nannten – durch Gewalt rächen. Es gab eine viel bessere Lösung als Gewalt, noch dazu, da er kein Kämpfer war. Er würde hierbleiben und sie mit seinen Waffen bekämpfen, und sich Schritt für Schritt in ihrer Hierarchie empor arbeiten.
Torogard hatte nun Zeit, die er sich nehmen würde. ELIUM war sein und Zafiras Ziel gewesen, und das war es noch immer. Mit Geduld und Ausdauer kam er zum Zuge. Irgendwann würde er einer der Machthaber sein und ELIUM zu einem Ort des Friedens machen. Irgendwo hier würde es schon einen Zufluchtsort geben, an dem er sich zunächst vor den Wachen verbergen konnte und seine ersten Schritte zur Unterwanderung wagen.
Zum ersten Mal seit der Attacke lächelte Torogard. Es war ein gefährlicher Plan, aber was hatte er zu verlieren? Sein Leben lag in Trümmern, und jede neue Chance barg Risiken. Also erfüllte er Zafiras letzten Wunsch, ihren gemeinsamen Plan, weswegen sie hierher gekommen waren, und eroberte ELIUM.
Er blickte zu der Stelle, wo vor wenigen Augenblicken die Liebe seines Lebens gestorben war. Nicht einmal ein Krümel erinnerte noch daran. Lediglich sein Hemd lag gesäubert und makellos da. Er wunderte sich nicht darüber, dass ihre Kleidung verschwunden war. Offenbar wussten die kleinen Biester genau, was als Abfall zu betrachten war, der keinerlei Verwendung mehr fand.
Wütend griff Torogard nach seinem Hemd, erhob sich und machte sich auf ins Innere von ELIUM, ließ sein bisheriges Leben endgültig hinter sich.
Er wollte nicht mehr Reichtümer bergen.
Er wollte ein Flaschenschiff bauen.
30. Nov. 2009 - Alexander Nofftz
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