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Das Christuskind von Lothar Nietsch
Joe Kurz © http://www.joes3dfantasyworlds.com/index.htm Mit hängenden Schultern wartete Paul in seiner Küche. Draußen war es noch dunkel, trotzdem verzichtete er darauf Licht anzuschalten. Ihm reichte der Schein der Straßenlaterne vor dem Fenster. Ein gestreifter, im Laufe der Zeit farblos gewordener Pyjama baumelte um seine schmächtigen Glieder.
Mit ergebener Apathie haftete sein verschwommener Blick auf der Kellertür. Es war Heiligabend und zugleich sein Geburtstag. Und wie jedes Jahr an diesem Tag, so würde ihn auch heute das Christuskind besuchen kommen. Das tat es seit Pauls sechstem Geburtstag.
In den ersten Jahren, damals während seiner Kindheit, hatte er sich noch jedes Mal auf diesen Besuch gefreut. Das Christuskind war ihm so lieb, so rein erschienen, mit strahlenden, blonden Locken, weiser Haut und blauen Augen. Doch so verhielt es sich schon lange nicht mehr und mittlerweile hatte Paul vor allem eines, wenn er an diese Besuche dachte: Angst.
Hätte er vom Schicksal einen Wunsch zu seinem Geburtstag gewährt bekommen, dann hätte er sich von Herzen gewünscht, von diesen alptraumhaften Besuchen verschont zu bleiben.
Pauls Körper überlief ein Schauder nicht mehr lange und es war so weit. Es begann jedes Mal damit, dass sich Frühmorgens des vierundzwanzigsten Dezembers die Kellertür in Pauls Haus öffnete und das in Leinentüchern gehüllte Christuskind in seiner Küche stand.
Nie sah Paul es durch die Tür treten, immer war es plötzlich da, als spucke Pauls Keller das Christuskind in die Küche. So auch heute. Die Tür flog auf, Pauls Herz setzte für einen Schlag aus, dann stand das verhasste Christuskind vor ihm.
Die einst blonden Locken hingen ihm in fettigen Strähnen um den Kopf, seine Haut hatte seine Reinheit in all den Jahren verloren und war jetzt dunkelgrau vor Schmutz, auch das einstmals strahlende Blau der Augen war verschwunden, wurde ersetzt von einem satten, glänzenden Schwarz und sie sahen aus, wie zwei bodenlose Seen aus Öl. Paul fand, dass es irgendwie verschlissen aussah, als hätten die Jahre ihre unvermeidlichen Spuren an dem Kind hinterlassen. Mit einer Ausnahme: Es war seit seinem ersten Erscheinen vor sechsundsechzig Jahren um keinen Tag gealtert. Paul war inzwischen Zweiundsiebzig und diesmal hatte er Angst wie noch niemals zuvor.
Wie Paul es nicht anders kannte, so starrte ihn das Christuskind auch diesmal für eine Weile mit diesem vorwurfsvollen und für Paul deshalb auch so Angst einflößenden Blick an. Dann vernahm er die kalte Stimme in seinem Kopf, ohne dass sich die Lippen des Kindes bewegten.
Hallo Paul, hörte er und der eisige Blick des Kindes fixierte ihn. Der Klang dieser Stimme ließ Paul frösteln.
Freut mich, dass du mich erwartest. Lass uns spielen, so wie immer an Weihnachten. Das möchtest du doch auch oder?
In den Worten schwang ein bösartiger Unterton mit, den Paul sehr gut kannte. Eine Träne stahl sich aus seinem Augenwinkel, während er auf die Frage mit einem Nicken antwortete.
Das sieht aber nicht sehr begeistert aus, mein Freund, rollte die schauerliche Stimme durch Pauls Hirn. Dabei spielen wir doch immer so schön zusammen.
Doch, ich freue mich, ganz gewiss, versicherte Paul mit dünner Stimme. Er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als etwas anderes zu behaupten. Auch wenn er sich nie daran erinnerte, was in den Stunden geschah, nachdem das Christuskind in ihn geschlüpft war, so wusste er genau, dass er seinem dämonischen Besucher besser nicht widersprach.
Mit schief gelegtem Kopf musterte ihn das Christuskind, wie eine aufgerichtete Cobra, bevor sie für einen tödlichen Biss zustieß. Paul wusste, was nun folgte und es kam ihm auch fast so vor, wie der Biss einer hochgiftigen Schlange. Er spürte den Blick dieser Augen, die als brennende Punkte über sein Gesicht wanderten, so wie er ihn auch in den Jahren zuvor gespürt hatte, das war der Moment in dem das Kind in ihn schlüpfte.
Begleitet von dem für Paul so vertrauten Zerren und Reißen an seiner Seele, drängte das Kind Pauls Selbst in die kleine, dunkle Kammer, irgendwo in den Tiefen seines Bewusstseins. Hier war er zumindest sicher und Paul kauerte sich zusammen und wartete.
Äußerlich betrachtet, zitterte der alte Mann am ganzen Körper, ein Hustenanfall schüttelte die mageren Glieder, dann spuckte er aus und seine Gestalt straffte sich. Der Blick seiner Augen war der des Christuskindes, nicht das Geringste von Pauls Wesen lag noch darin.
Mit mechanischen Bewegungen wandte er sich um, stakste in den Flur, griff sich die Autoschlüssel von der Kommode und verließ das Haus. Nach wie vor trug er nichts weiter als seinen Pyjama und die Pantoffeln. Kaum war er ins Auto gestiegen, begann es zu schneien, so wie jedes Mal, wenn das Christuskind mit ihm zum Spielen fuhr. Aber wie gewöhnlich bekam Paul auch heute nicht das Geringste davon mit.
Als Pauls Bewusstsein wieder zu sich kam, war es beinahe genauso, wie in den zurückliegenden sechsundsechzig Weihnachten. Er fror erbärmlich. Die Haut schimmerte blau vor Kälte, auftauender Reif tropfte von seinem Schnurrbart und lief aus dem schütteren Haar über Stirn und Gesicht. Seine Pantoffeln und Hände waren voller Erde, als hätte er den gefrorenen Boden im Garten umgegraben. Auch den ekelerregenden Odeur in seiner Küche erkannte er als den der letzten Male wieder, sowie den penetranten Geschmack in Rachen und Gaumen. Von dem unerträglichen Völlegefühl ganz zu schweigen. Es war fast genau so wie immer, wenn diesmal nicht das Christuskind vor ihm gestanden hätte.
Mein guter Paul, hörte er die Stimme in seinem Kopf. Pauls Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
In all den Jahren warst du mir ein fürsorglicher Gastgeber. Ich kam gerne zu dir, fuhr das Christuskind fort. Die brennenden, schwarzen Augen unverwandt auf Paul geheftet. Doch ist es an der Zeit dir Lebewohl zusagen und dich für deine Treue zu entlohnen.
Die Bosheit in der Stimme ließ Pauls Blut gefrieren. Warum war das teuflische Kind nicht auch diesmal einfach nur verschwunden? Ihn schwindelte und unbewusst hielt er sich an der Lehne eines der Küchenstühle fest. Sein Blick versank in den Augen des Kindes.
Zum Abschied sollst du die Erinnerung erhalten, an unsere gemeinsamen Weihnachten. Meinst du nicht auch, dass dir wenigstens das zusteht, Paul?
Kaum war das Christuskind verstummt, taumelte Paul von den beängstigenden Bildern zurück, die im selben Augenblick auf ihn einstürmten. Er wollte sich davor verschließen, ohne dagegen anzukommen.
Schau genau hin, Paul, insistierte das Christuskind, während Pauls Herzschlag trommelte und sich sein Magen zunehmend verkrampfte. Sieh unsere Freude, wenn wir spielen.
Bilder vergangener Weihnachten stürmten ohne chronologische Ordnung auf ihn ein. Momentaufnahmen unvorstellbar grausamer Taten. Dann fokussierte sich ein Ereignis in den Vordergrund, ein spezielles Weihnachten und Paul registrierte, dass es der eben zu Ende gegangene Tag war, der nun vor seinem geistigen Auge ablief. Diesmal vermochte er nicht, sich in der geheimen Kammer seines Bewusstseins zu verkriechen und darauf zu warten, dass das Christuskind von ihm abließ. Paul sah, wie er in sein Auto stieg im Pyjama. Dann wechselte die Perspektive und er begriff, dass er das Geschehen von nun an mit eigenen Augen verfolgte. Doch nicht als er selbst, vielmehr mit dem Empfinden des Christuskindes. Kälte ging von seiner Seele aus. Kälte, Wut und Hass. Vereinzelt sah er Leute, die in der Morgendämmerung ihres Weges gingen, doch empfand er für sie nichts anderes, als er für Vieh empfunden hätte. Sklaven, die ihm ausgeliefert waren, wann immer ihm der Sinn danach stand. Aber sein Ziel war etwas anderes und am Rande einer Stadt, die Paul gänzlich unbekannt war, fand er es. Ein Mädchen, kaum älter als fünf Jahre, wie Paul voller Grauen erkannte. Das Mädchen lächelte, griff nach seiner ausgestreckten Hand und ohne Widerwillen, oder auch nur Scheu, ließ es sich zum Auto führen und stieg ein. Paul setzte sich neben das Mädchen und mit wachsendem Entsetzten beobachtete er seine Hände. Eine griff in den Nacken des Mädchens, das ihn mit vertrauensvollen Augen anschaute, die zweite Hand umfasste das zarte Kinn. Ein kräftiger Ruck und der kindliche Körper erschlaffte.
Plötzlich befand sich Paul zu Hause in seiner Küche, in einer Hand ein blutiges Messer. Auf dem Gasherd standen die vier größten Töpfe seines Haushaltes. Der daraus aufsteigende Dampf verbreitete das Aroma von Brühwürfeln.
Paul stockte der Atem, als sich seine Augen dem zuwandten, was auf dem Küchentisch lag. Das Mädchen! Es war nackt und offenbar hatte er es fachgerecht ausgeweidet, in einem Blecheimer vor seinen Füßen schwammen Gedärm und Organe in ihrem Blut.
Unbeeindruck von Pauls Entsetzen, legte seine Hand das Messer beiseite und griff zur Eisensäge, die neben der Leiche bereit lag. Dem Schauspiel ausgeliefert, verfolgte Paul, wie er den Körper des Mädchens zerteilte, in Stücke zersäbelte, die in seine Töpfe passten. Nachdem er fertig war, begann er damit, die Küche zu reinigen und er übersah nichts. Bald wies nicht die kleinste Spur auf das unfassbare Geschehen hin, das hier stattgefunden hatte. Auf dem Herd kochten währenddessen die Überreste des Mädchens, Fleisch löste sich von den Knochen, längst hatte Wasserdampf die Fensterscheiben beschlagen. Aus dem Hängeschrank über der Spüle holte Paul einen Teller heraus, suchte in der Schublade für Besteck Messer, Gabel und Löffel zusammen
Paul konnte nicht mehr, er wand sich, schrie und schlug um sich, er hielt es nicht mehr aus. Lass mich!
Aber Paul, was hast du denn?, ertönte die Stimme des Christuskinds. Es klang verärgert, vielleicht auch belustigt. Paul konnte es nicht sagen. Es war ihm egal.
Hast du bereits genug von deinen Erinnerungen? Die Frage klang wie Hohn.
Ja!, stieß er mit letzter Kraft hervor. Er wunderte sich, weshalb er sprechen konnte, dann realisierte er, dass die Vision von ihm abgefallen war und er sich wieder im hier und jetzt befand. Das Christuskind stand noch genauso vor ihm, wie vorhin. Pauls flackernder Blick suchte den Herd. Die Töpfe waren verschwunden, aufgeräumt, wie er vermutete. Sein Herz galoppierte, er hatte das Gefühl keine Luft zu bekommen.
Wir haben sie alle gegessen, Paul, flötete das Christuskind geradezu. Jedes Jahr zu Weihnachten. Ihr Fleisch so zart, so saftig. Willst du auf diese Erinnerung tatsächlich verzichten?
Was hast du mir angetan?, brach es aus Paul heraus. Er zitterte am ganzen Körper, seine kraftlosen Beine gaben unter ihm nach und er sackte auf die Knie, während Tränen über sein Gesicht strömten.
Nach dem Mahl vergruben wir Knochen und Eingeweide in deinem Garten. Jedes Mal, Jahr für Jahr, bis heute.
Paul hörte nicht mehr zu. Er sank zur Seite, kauerte sich auf den Boden in embryonaler Haltung zusammen, schrie und weinte bis seine Stimme versagte. Erlösender Wahnsinn fingerte nach seinem Verstand, würgend erbrach er sich. Halbverdaute Fleischstücke ergossen sich neben seinem Gesicht. Zwischen den Anfällen schnappte er nach Luft, sog Erbrochenes zurück in die Luftröhre. In diesem Augenblick blickte er zum Christuskind empor, das ihn beobachtete.
So ist es gut, hörte Paul die Stimme, zart, beinahe liebevoll. Gleich gehörst du mir.
Pauls Lippen formten ein Wort: Warum? Das Lachen des Christuskindes hallte ihm in den Ohren, er schnappte nach Luft, ohne etwas in die Lunge zu bekommen. Blitzende Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen, dann verschwamm sein Gesichtsfeld. Kurz darauf hörten seine Glieder auf zu zucken. Es wurde still in Pauls Küche. Milchig fiel das Licht der Straßenlaterne auf den Leichnam, der zusammengekrümmt in seinem Erbrochenen lag.
11. Dez. 2009 - Lothar Nietsch
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