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Ruhe in Frieden von Sören Prescher
Andrä Martyna © http://www.andrae-martyna.de/ Studentin Lydia Bruckman wusste, dass sie etwas Falsches tat und doch blieb ihr keine andere Wahl. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas Unrechtes getan und wenn diese Sache nicht so zwingend notwendig gewesen wäre, wäre sie diesem Grundsatz auch weiterhin treu geblieben.
Friss oder du wirst gefressen, pflegte ihr Freund John Needles immer zu sagen. Lydia glaubte, dass das im Hinblick auf ihre Situation wohl das Treffendste war. Wenn John allerdings gewusst hätte, wie sie es interpretierte, hätte er empört aufgeschrien. Immerhin war sie in das Labor der Uniklinik eingebrochen, um seinen Vater zu töten! Das Kuriose an dieser Sache war, dass Johns Vater eigentlich schon seit einem Jahr tot war.
Sie erinnerte sich noch genau, wie alles begann: schon oft hatte sie Bilder von Mr Needles auf dem Kaminsims stehen gesehen. Sogar in Johns Zimmer stand ein Bilderrahmen mit seinem Foto. Mr Needles selbst jedoch war ihr nie begegnet. Da John es tunlichst vermied, auch nur ein Wort über ihn zu verlieren, vermutete sie, dass dem Familienoberhaupt etwas zugestoßen war.
Vor gut einem halben Jahr war ihr eine Frage dazu herausgerutscht. Schlagartig hatte sich Johns Verhalten verändert. Vorher war er lustig und gut gelaunt gewesen, doch den Rest des Tages hatte er kaum ein Wort mehr mit ihr gewechselt. Das war für Lydia ein deutliches Zeichen und sie hatte danach darauf geachtet, dass ihr ein solcher Fehler kein zweites Mal unterlief. Irgendwann hatte sie es allerdings nicht mehr ausgehalten. Wenn ihre Beziehung eine Zukunft haben sollte, durfte es einfach keine solchen Geheimnisse geben.
Deshalb hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und John direkt darauf angesprochen. Die Furcht, ihn dadurch zu verletzten, hatte ihr Herz hämmern und die Beine zittern lassen. Doch zu ihrer Verwunderung hatte John vollkommen anders als erwartet reagiert.
Mein Vater starb vor gut einem Jahr bei einem Autounfall, hatte er mit leiser Stimme erzählt. Ein Betrunkener rammte ihn von der Seite. Wäre mein Vater angeschnallt gewesen, hätte er vielleicht eine Chance gehabt, aber so wurde er aus dem Auto geschleudert und brach sich das Genick.
Mit Tränen in den Augen hatte John vor ihr gestanden und das Foto seines Vaters in den Händen gehalten. Vor allem dieser Moment hatte ihr mehr als alles andere eine Gänsehaut verschafft. Sein bleiches Gesicht und die traurigen dunklen Augen. Sie schämte sich dafür, ihn zum Weinen gebracht zu haben. Gleichzeitig war sie erleichtert gewesen, nun endlich die Wahrheit zu kennen.
Irgendwann hätte ich es dir sowieso erzählen müssen, hatte er gesagt. Ich bin sogar froh, dass du es jetzt weißt. Doch da du nun den Anfang der Geschichte erfahren hast, sollst du auch wissen, wie es weiterging.
Danach hatte Lydia ihn verwirrt angeschaut und nicht gewusst, wie sie den letzten Satz verstehen sollte. Und was hatte John getan? Er hatte tief durchgeatmet und für einen Moment die Augen geschlossen. Dabei war es ihr ein weiteres Mal kalt den Rücken heruntergelaufen.
Am nächsten Tag kam ein Arbeitskollege meines Vaters zu uns, der ebenfalls in der Uniklinik arbeitete. Er erzählte, dass sich mein Vater für ein Projekt verpflichtet hat. Er hatte dieser Sache sogar seine gesamte Lebensversicherung vermacht. Und das, ohne uns gegenüber auch nur ein einziges Wort zu erwähnen. Das Projekt hieß Wiederauferstehung. Er selbst hatte ihm diesen Namen gegeben. Wenn einer der Beteiligten starb, wurde sein Körper für die Zukunft eingefroren und, wenn es der Wissenschaft irgendwann möglich ist, wiedererweckt. Kannst du dir das vorstellen? Vielleicht erwacht mein Vater in fünfzig Jahren wieder und ist jünger als ich!
Während er erzählte, hatte er traurig über den Bilderrahmen gestrichen und das Foto an die Brust gepresst. Ein weiterer Gänsehautmoment. Selbst jetzt schauderte Lydia, wenn sie nur daran dachte. Der Kollege meines Vater sprach über das, was sie alles getan hatten, damit er später weiterleben kann. Es war eine Menge wissenschaftlicher Krimskrams, den ich dir ersparen möchte. Zum Schluss sagte er jedenfalls, dass sie meinen Vater in eine Plastikhülle mit einer Silikonflüssigkeit gesteckt und seinen Körper in einem Stahltank auf minus 196 Grad Celsius abgekühlt haben. Nun wartet er darauf, wieder zum Leben erweckt zu werden.
Nach dem Geständnis hatte John sie mit Dackelblick und Unschuldsmiene angeschaut.
Morgen will ich Vater wieder besuchen gehen. Möchtest du mitkommen und mir Gesellschaft leisten? Ich fühle mich dann nicht so einsam.
Zwar hatte Lydia keine große Lust verspürt, einen Toten in einem Stahltank zu bewundern, doch als sie in Johns Gesicht sah, hatte sie ihm den Wunsch nicht abschlagen können. Und so waren sie am nächsten Tag zur Uniklinik gefahren und hatten Johns Vater besucht. Normalerweise hatte hier außer dem Fachperson niemand Zutritt. Aber für Dr. Needles Sohn machte man gern eine Ausnahme.
In der darauf folgenden Nacht hatten die Träume begonnen. Lydia träumte davon, dass sie beobachtet wurde. Zunächst wusste sie nicht, wer oder was es war, doch dann wurde es ihr schlagartig klar: es waren die Augen von Johns Vater. Sie kannte ihn zwar nur von Fotos, dennoch zweifelte sie nicht eine Sekunde daran.
Egal was sie tat, sie konnte seine Augen nicht vergessen. Überallhin folgten sie ihr. Nacht für Nacht wachte sie schreiend auf und hoffte, nie wieder so etwas Schreckliches träumen zu müssen. Doch ihr Wunsch blieb ungehört und schon in der Nacht darauf träumte sie wieder davon. Einmal sah sie sogar sein Gesicht. Es war das Bild, das John in den Händen hielt, als er ihr von seinem Vater erzählt hatte.
Lydia bekam Angst davor, ins Bett zu gehen, und wurde von Tag zu Tag nervöser. Schließlich hatte sie sich keinen anderen Rat mehr gewusst, als sich John anzuvertrauen. Als sie ihm jedoch gegenüberstand, erzählte sie nur von den Schlafproblemen. Die Augen seines Vater verschwieg sie. John nahm sie in den Arm und sprach ihr gut zu. Die Albträume konnte er ihr jedoch nicht nehmen.
Nach einiger Zeit verschlimmerte sich die Situation und Lydia sah die Augen am helllichten Tag. Bei allem was sie tat, fühlte sie sich beobachtet. Selbst in der U-Bahn und in der Uni war sie davor nicht sicher. Sie versuchte es zu ignorieren, aber es gelang ihr nicht. Permanent liefen ihr eisige Schauer über den Rücken, sodass sie letzten Endes einen Entschluss fasste.
Nun war sie hier. Eingebrochen in die Uniklinik, um den toten Vater ihres Freundes noch einmal zu töten. Im Licht des durch die Fenster scheinenden Mondes betrachtete sie ihre zitternden Hände. Sie konnte sie einfach nicht still halten. Lag es am Schlafmangel oder ihrer Nervosität? Egal. Morgen würde sowieso alles vorbei sein.
Als sie auf dem verwaisten Flur um eine Kurve bog, hörte sie plötzlich Schritte und das Klirren eines Schlüsselbundes. Vorsichtig lugte sie um die Gangecke und sah den Mitarbeiter von Johns Vater. Was um alles in der Welt suchte er um diese Zeit hier? Ängstlich kniff Lydia die Augen zusammen und betete, dass er verschwinden würde. Als sie die Augen wieder öffnete, konnte sie es kaum glauben. Der Mann war tatsächlich weg.
Hatte sie sich ihn vielleicht bloß eingebildet? Bei ihren überreizten Nerven wäre es nicht mal verwunderlich. Wahrscheinlich würde sie gleich aufwachen und feststellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Wie so oft. Doch warum war ihr dann auf einmal so entsetzlich kalt? Früher hatte sie in ihren Träumen nie Kälte oder Wärme gespürt. Träumte sie eventuell doch nicht? Sie zwickte sich fest in den Oberarm. Der Schmerz loderte auf. Es war also kein Traum.
Begleitet vom blassen Mond und dem Sternenlicht lief sie weiter über den Flur. Von rechts warfen die Fenster unheimliche Schatten auf den Boden. Hätte Lydia noch kein Gänsehaut, hätte sie spätestens jetzt eine bekommen. Zum Glück waren es nur noch fünfzig Meter bis zum Labor. Dennoch kam ihr die Strecke unendlich lang vor. Das Einzige, was sie weiter antrieb, war der Gedanke, dass sie es gleich geschafft hatte.
Vorsichtig betrat sie das Labor und huschte an einer Reihe klobiger Stahltanks vorbei. Im Mondschein schimmerten sie matt und unheimlich. Zum wiederholten Male wünschte sie, an einem anderen Ort zu sein.
Sie brauchte einige Zeit, um den richtigen Stahltank zu finden. In der Dunkelheit sahen die Behälter alle gleich aus. Als sie ihn schließlich fand, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Dr. Derek Needles war in dicken Buchstaben in eine Metallplatte eingraviert worden. Darunter standen die genaue Todesursache und das Sterbedatum. Lydia überflog die Daten und wollte sich gerade abwenden, als sie ein weiteres Mal Schritte hörte. Erschrocken zuckte sie zusammen und wagte sich nicht zu bewegen. Die Schritte schienen sich dem Raum zu nähern.
Panisch schaute sie sich um. Hinter den Stahltanks konnte sie sich nicht verstecken, da die Behälter zu dicht nebeneinander standen. Nach kurzem Suchen entdeckte sie ein Regal und versteckte sich dahinter. Keine Sekunde zu früh. Im gleichen Augenblick betrat der Mitarbeiter von Dr. Needles das Labor. Er schaltete das Licht an und ging zu seinem Schreibtisch.
Hier liegen sie also, murmelte er und griff nach einigen Blättern, die er sorgfältig in der Mitte faltete und in seiner Manteltasche verschwinden ließ. Dann marschierte er in Richtung des Regals, hinter dem sich Lydia versteckte. Sie hielt vor Angst den Atem an und betete zu Gott, dass sie unentdeckt blieb. Sie durfte nicht so knapp vor ihrem Ziel scheitern.
Unfassbar lange Sekunden verstrichen, dann ging der Mann am Regal vorbei und verließ den Raum. Lydia seufzte vor Erleichterung, wagte sich aber trotzdem erst zu bewegen, als die Schritte vollständig verklungen waren.
Als sie an den Stahltanks vorbei ging, erwartete sie der nächste Schreck. Für einen kurzen Moment glaubte sie, nicht ihr eigenes mattes Spiegelbild sondern das Gesicht von Johns Vater zu sehen. Lydia zuckte zusammen und taumelte rückwärts. Ihr Herz raste. Dann schaute sie ein weiteres Mal hin und sah nur ihr eigenes Spiegelbild. War auch das nur Einbildung gewesen? Lydia war nicht sicher. Sie zitterte und ihr war eiskalt. Eigentlich wollte sie nur noch weg von hier. Doch zuvor musste sie noch etwas erledigen. Nachdem sie sich beruhigt hatte, tastete sie sich an der linken Tankseite bis zu einem länglichen Kasten. Darin befand sich die Elektronik. Lydia riss sämtliche Kabel heraus, die ihr in die Finger kamen. Sie hoffte, dass das genügte.
Eine Sekunde verstrich. Dann noch eine.
Schließlich begann der Zeiger der Temperaturanzeige zu steigen. Zuerst nur langsam, dann jedoch immer schneller. Minus 190 Grad Celsius. Dann minus 180, minus 179, minus 178 °C
Am liebsten hätte sie gewartet, bis der Temperaturpegel bei Null ankam, doch zu groß war ihre Angst, entdeckt zu werden. Ewig würde ihr Glück nicht andauern.
Deshalb zog sie hastig ein weißes Tuch aus der Tasche und wischte die Kabel ab. Keinesfalls wollte sie Fingerabdrücke hinterlassen. Dann eilte sie zur Tür und warf noch einen letzten Blick auf den Tank, in dem der tote Vater ihres Freundes lag. Seine Temperatur lag jetzt bei minus 152 Grad Celsius.
Zufrieden verschloss sie die Labortür und verließ die Uniklinik. Noch während des Heimwegs spürte sie große Müdigkeit. Lydia war sicher, dass sie diese Nacht in Ruhe durchschlafen konnte.
Gegen zehn Uhr klingelte es an der Tür. Verschlafen öffnete Lydia und erblickte ihren Freund John. Er war kreidebleich. Wahrscheinlich hat er es gerade erfahren, dachte Lydia und bat ihn herein.
Es ist unglaublich! Jemand ist heute Nacht im Labor der Uniklinik gewesen und hat die Maschine meines Vaters beschädigt. Die Temperatur ist gefährlich weit gesunken. Aber zum Glück konnten sie meinen Vater retten. Er liegt jetzt in einem anderen Tank.
John Needles stand die große Erleichterung deutlich ins Gesicht geschrieben. Lydia hingegen fühlte sich unwohler als jemals zuvor im Leben. Sie konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. War ihre nächtliche Aktion wirklich vollkommen umsonst gewesen?
So schnell sie konnte, verabschiedete sie ihren Freund und erzählte ihm, dass sie sich nicht besonders wohl fühlte. Morgen würden sie alles ganz genau besprechen können. John runzelte die Stirn, befolgte aber ihre Bitte und verließ die Wohnung.
Als er am nächsten Morgen klingelte und ihm niemand öffnete, wunderte er sich. Wahrscheinlich wird sie einkaufen sein, überlegte er. Doch auch am nächsten und übernächsten Tag traf er Lydia nicht an. Stattdessen bemerkte er einen unangenehmen Geruch, der von Tag zu Tag zunahm. Ein Nachbar benachrichtigte schließlich die Polizei. Als sie die Wohnung der jungen Frau durchsuchten, fanden sie Lydia Bruckman tot in ihrem Schlafzimmer. Die Augen waren weit aufgerissen. Ihr Blick war leer.
Der Notarzt stellte fest, dass sie bereits vor mehreren Tagen gestorben war. Als Todesursache bescheinigte er einen Herzanfall. Oder die gute Frau hat sich vor etwas ziemlich erschrocken.
03. Feb. 2010 - Sören Prescher
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