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Höhenflug von Alf Leue
Andrä Martyna © http://www.andrae-martyna.de/ Ich ging durch die Halle zum Fahrstuhl hinüber. Ein Mann in einem tristen, taubenblauen C&A-Dreiteiler wartete bereits davor. Den hatte ich irgendwo schon einmal gesehen. Bing. Die Türen schoben sich mit einem sanften, metallisch-mahlenden Geräusch auseinander. Der Arbeitstag begann. Er drückte seinen Etagenknopf. 12. Ich drückte ganz oben. Na, ja, fast. Aber das letzte Stockwerk schaffe ich auch noch. Irgendwann. Nur eine Frage der Zeit.
Schrecklich, das mit Herrn Neumaier, nicht wahr!, raunte mir der Dreiteiler vertraulich zu.
Ja, schrecklich!, entgegnete ich knapp. Ich hatte es zwar heute Morgen in der Zeitung gelesen, aber absolut kein Bedürfnis, mich bereits vor dem Frühstück auf Kantinenniveau zu unterhalten. Schon gar nicht mit jemandem aus dem 12. Stock.
Doch er ließ nicht locker. Vom Dach. Mein Gott! Wie verzweifelt muss man sein, um so etwas zu tun?
Das kann ich mir nicht im Entferntesten vorstellen, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Das ist ein herber Verlust. Nicht nur fachlich, meine ich. Herr Neumaier war doch in Ihrer Abteilung, nicht wahr? Bing. Schönen Tag noch.
Nein, Herr Neumaier war kein Verlust für mich. Menschlich nicht, weil ich ihn nicht wirklich kannte und fachlich ohnehin nicht. Er war der schlechteste Investmentbanker in meiner Gruppe gewesen. Gute Pferde bleiben im Geschirr, die anderen bleiben am Wegesrand zurück. Fressen und gefressen werden. So ist das eben. Bing.
Guten Morgen, sagte Fräulein Müller.
Guten Morgen, entgegnete ich.
Ich durchschritt das Vorzimmer zu meinem Büro.
Einen Kaffee, wie immer und meine Termine, bitte.
Ich zog die ledergepolsterte Tür hinter mir zu, hängte meinen Mantel an die Designergarderobe und ging zu meinem Schreibtisch am Ende des Raumes. Ich stellte meine Aktentasche ab und zögerte. Warum, weiß ich nicht. Es zog mich zu der langen Fensterreihe meines Büros. Ich sah hinab. Ganz schön hoch.
Es klopfte.
Herein.
Sie haben nur um 14:00 Uhr das Vorstandsmeeting, ansonsten ist heute nichts
Fräulein Müller stellte den Kaffee geübt, mit einem kaum hörbaren Löffelklirren, auf meinem Schreibtisch ab und legte die Tagespost daneben.
Ist noch etwas?, fragte ich.
Ihre Mundwinkel begannen leicht zu beben. Das untrügliche Zeichen einer Frau, dass Tränen im Anmarsch sind.
Oh, Gott, dachte ich, nicht hier und jetzt! Es war gerade einmal halb Acht. Ich sagte schnell Ja, ja, schrecklich das mit Herrn Neumaier.
Sie nickte verkrampft und stürmte aus dem Büro.
Ich rührte meinen Kaffee lange um. Brauner Rohrzucker löst sich viel schlechter, als der raffinierte. Er schmeckt aber wesentlich besser. So viel Zeit muss sein. Ich setzte mich hinter den Schreibtisch und warf meinen PC an. Während der Rechner gemächlich und mit seinem sonoren Schnurren hochfuhr, rührte ich weiter im Kaffee. Der braune Rohrzucker war mit Sicherheit bereits gelöst. Ich rührte weiter. Gedankenversunken. Neumaier. Ich meine, er hätte auch Kellner oder Schaffner werden können. Das große Geld hat alle gelockt. Auch ihn. Dann soll er sich hinterher nicht beschweren. Oder springen. Die Eingabemaske für das Passwort poppte hoch. C*A*Y*E*N*N*E gab ich ein. 10 neue Nachrichten meldete mir mein Bildschirm. Wechselkurse, Bankenkrise, Menüplan für KW 41 und: Herr Neumaier. Natürlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wie Sie sicher bereits aus den Medien erfahren haben, hat sich unser werter Kollege, Mitarbeiter und Freund Herr Walther Neumaier am gestrigen Abend auf tragische Weise das Leben genommen. Blablabla
Dr. Hilbert Schmitz
Vorstandsvorsitzender
Das Telefon klingelte.
Petersen, Guten Morgen. Ah, Herr Dr. Schmitz! Ja, schrecklich das mit Herrn Neumaier. Ich habe es bereits gehört. Wie, die Sitzung aus gegebenem Anlass vorziehen, auf 10:00 Uhr? Kein Problem! Ich habe heute einiges an Terminen, aber das sage ich natürlich ab. Selbstverständlich. Ja, natürlich Herr Dr. Schmitz. Bis nachher. Auf Wiederhören.
Schmitz klang ernst. Konnte man mir etwas vorwerfen? Nein. Mir wurde gesagt Setzen Sie die umsatzschwächste Hälfte Ihrer Mitarbeiter auf die Straße. Wir müssen das Investmentbanking um 50% verschlanken. Das hatte ich gemacht. Nicht mehr und nicht weniger. Herr Neumaier war von allen der Schlechteste und folglich der Erste, der gehen musste. Die zehn anderen hatten sich ja auch nicht gleich vom Dach der Bank gestürzt. In harten Zeiten müssen die Leute eben flexibel sein. Mein Gott, vor hundert Jahren wären sie jetzt verhungert. Heute gab es Hartz IV, Abfindungen, ein soziales Netz. Wer sich dann trotzdem das Leben nimmt, ist selbst Schuld. Mein Kaffee war kalt. Mist. Ich griff zum Hörer und wählte Kurzwahl #1.
Fräulein Müller, das Vorstandsmeeting wurde auf 10:00 Uhr vorverlegt. Stellen Sie mir die Unterlagen zusammen. Ach, und noch einen Kaffee. Danke.
Mir war schwindelig. Diese Schweine! Sie hatten mich auflaufen lassen. Das mussten Sie geplant haben. Sie ließen mich zuerst die Drecksarbeit machen, damit es nicht hieß Der böse Vorstand hat den Leuten gekündigt. Es sollte heißen Der Petersen hat die Leute mit in den Abgrund gerissen. Er hat Misswirtschaft betrieben und gierig nach den Subprime-Papieren gegriffen und jetzt müssen die armen Angestellten darunter leiden. So fühlte man sich also als Bauernopfer. Aber alle hatten gierig nach den Subprime-Papieren gegriffen, allen voran der Vorstand. Ich wusste gar nicht mehr, ob ich das damals als eine so geniale Idee erachtet hatte, aber ich hatte schließlich mitgemacht. Ich wollte ins oberste Stockwerk und die potenziellen Gewinnmargen lockten. No risk, no fun. Ich fühlte mich wie unter einer Käseglocke. Fräulein Müllers Ihre Frau hat angerufen drang nur gedämpft zu mir durch. Meine Frau. Ja, das wars dann wohl fürs erste mit Prada Schuhen. Ich warf die Polstertür zu und öffnete das Fenster. Luft. Ich starrte hinab auf Neumaiers weit entfernte Kreidekonturen auf den Waschbetonplatten. So hoch ist das eigentlich gar nicht, aber es reicht. Einige Passanten sahen zu mir herauf und einer zeigte mit dem Finger auf mich. Er sagte etwas zu seinem Nebenmann. Ich schlug wütend das Fenster zu und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Die hatten doch keine Ahnung. Sparbuchgesindel!
Ich ging zum Schreibtisch und setzte mich. www.stellen-boerse.de. Suchbegriff Investmentbanking, führende Position. Zwei Treffer. Wie, nur zwei Treffer? Das gibts doch nicht! Eine in Antwerpen für die Außenstelle einer Landesbank. Klang gut, doch leider war mein Englisch nicht wirklich perfekt und Una cerveza, por farvor! bildete meinen gesamten spanischen Wortschatz. Fehlanzeige. Die andere in München. Für jemanden, der unter Dreißig war und sein Diplom in BWL mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, sicher ein tolles Angebot. Also auch nichts. Aus Interesse gab ich die gleichen Suchbegriffe unter Stellengesuche ein. 789 Treffer. Ich schloss den Browser.
Das Telefon klingelte.
Petersen, Guten Morgen, äh Guten Tag. Ah, Hallo Jochen, ach du bist es. Ja, schrecklich das mit dem Neumaier. Wie, ob es mich auch erwischt hat? Was meinst du? Ich lebe noch, wie du hörst, oder? Ach du meinst, ob ich gekündigt wurde? Quatsch, die schmeißen doch nicht ihren Deckhengst aus dem Gestüt, ha, ha. Und bei dir? Ach, was, dein Stuhl wackelt? Oh, das tut mir leid. Kommt doch mal wieder bei Gelegenheit auf einen Bordeaux bei uns vorbei, das war doch immer ganz nett, dann können wir ein wenig plaudern. Ja, klar, werde ich ausrichten. Du auch. Wir telefonieren. Ja, Tschüss, machs besser!
Mein Stuhl wackelte auch. Ihm fehlte bereits ein Bein. Oder waren es zwei? Ich wackelte. Bordeaux. Prada Schuhe. Mein Boot, mein Haus, mein Pferd. Deckhengst ohne Eier. Scheiße. Und nun? Neumaier, du Arschloch!
Ich griff zum Telefon. Kurzwahl #9. Ute nahm nicht ab. Ach stimmt, sie hatte ja gestern Abend etwas von einem Frisörtermin gesagt und um halb zwei Tennis mit Petra. Zu spät. Ich würde gerne reden. Jetzt. Kurzwahl #1. Kommen Sie doch bitte einmal herein, Fräulein Müller.
Kurz darauf stand sie vor mir.
Ja, Herr Petersen?
Sagen Sie mal, hatte der Neumaier eigentlich Familie?
Warum fragte ich das? Sie sah mich entsprechend ungläubig an und ließ den Notizblock sinken.
Ja, eine Frau und drei Kinder.
Drei Kinder? Aha. Können Sie mir mal die Adresse von Neumaier heraussuchen?
Pestalozzistraße 47.
Das wissen Sie?
Die Beileidskarte. Ich habe die Adresse für die Beileidskarte gebraucht.
Verstehe.
Drei Kinder, dachte ich. Eigentlich schön wenn man Kinder hat. Dann hat man jemanden zum Reden. Wenn sie alt genug sind und sich nicht mehr vollscheißen. Hätte ich Zeit für Kinder gehabt, so wie andere Leute, dann müssten meine Kinder jetzt so um die Achtzehn sein. Alt genug zum Reden. Aber ihr Vater würde sicher nicht fast ganz oben in der Bank sitzen. Entweder oder. Meine Frau war beim Frisör. Sie hatte auch keine Zeit.
Drei Kinder, hmm
Alles in Ordnung, Herr Petersen?
Äh, ja, ja. Haben Sie die Karte schon weggeschickt?
Die Kondolenzkarte? Nein, die liegt im Ausgang. Aber ich kann sie sofort wegschicken, wenn Sie wollen!
Nein, geben Sie sie mir! Ich bringe sie persönlich vorbei.
Fräulein Müller starrte mich an. Ich griff Aktentasche und Mantel. Sie folgte mir hastig ins Vorzimmer und zog die Karte mit einem dünnen, schwarzen Kreuz aus dem Postausgang.
Hier bitte!
Danke. Ich bin für den Rest des Tages außer Haus, wenn jemand fragen sollte.
Ja, ist Recht. Auf Wiedersehen.
Wiedersehen.
Bing.
Frau Neumaier stand plötzlich in der Tür. Ich hatte schon gehofft, sie sei nicht zuhause. Ich hatte einen Kloß im Hals und sie sah aus wie ein Zombie. Leere Augen in tiefen Höhlen. Kein Leben, nur Schmerz.
Guten Tag, Frau Neumaier, ich bin Herr Petersen.
Ich weiß, wer Sie sind.
In ihren Augen stand abgrundtiefer Hass, aber sie war zu traurig, um mich zu töten. Ich stammelte.
Ja, ich ... ich wollte Ihnen nur mein Beileid bekunden, im Namen der ganzen Belegschaft der Abteilung und vor allem mein persönliches. Blablabla.
Ich hielt ihr hilflos die frankierte Kondolenzkarte hin.
Ihr kurzes Lächeln war zynisch oder war es nur Einbildung?
Wie aufmerksam. Da würde sich mein Mann aber freuen.
Ich stand da, wie ein getretener Hund. Hilflos.
Ja, das ist schrecklich, ich weiß auch nicht, wie das geschehen konnte. Ich wusste ganz genau, wie das geschehen konnte. Deshalb stand ich ja hier.
Sie wissen ganz genau, wie das geschehen konnte, deswegen stehen Sie ja hier. Zum ersten Mal in sieben Jahren übrigens. Ich bin gerührt, fügte sie hinzu.
Sie nahm die Karte nicht und schloss die Tür. Ganz ruhig. Ganz endgültig.
Und ich fiel. Ich fiel von ganz oben. Fünfzig Meter. Die Stockwerke rasten an mir vorbei. Die gaffenden Gesichter der Menschen hinter den Fensterscheiben verwischten. Dreißig Meter. Die Kreidekontur kam näher. Neumaiers Kontur. Meine Kontur. Keine Kontur. Zehn Meter. Ich schlug auf. Bing. Ich war auf dem Boden angekommen. Ich lag zerschmettert auf dem Grund. Aber ich atmete noch. Ich fühlte. Wirklich?
Ich hatte etwas begriffen. Vielleicht kann ich eines Tages wieder aufrecht gehen. Hoffentlich.
18. Aug. 2010 - Alf Leue
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