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Herbst in Binz
von Alf Leue

Andrä Martyna Andrä Martyna
© http://www.andrae-martyna.de/
Wilhelm Belk steckte die Hände in die Taschen seiner verschlissenen Leinenhose. Ein kalter Oktoberwind blies erdbraun verfärbte Blätter durch die Straße vor dem Binzer Kurhaus und ließ sie in kleinen Wirbeln für ihn tanzen. Es hatte leise zu nieseln begonnen und der Wind trug den feinen Regen vom Meer her in Böen über die Insel. Der alte Bladow grüßte vom Kutschbock herab, den Kragen hochgeschlagen und die Mütze tief im Gesicht. Fast feierlich zog er im Schlepp seiner alten Mähre vorüber. Leiser werdende Hufschläge, Windpfeifen, regengedämpftes Blätterschaben auf dem Kopfsteinpflaster. Nichts sonst. Es war wie tot. Wie Bladows Sohn. Letzten Monat hatte er die Nachricht erhalten. In Verdun hatte es Richard erwischt. Er war nicht der einzige geblieben. Postmeister Carstensen und der Pfarrer hatten gut zu tun in diesen Tagen.
Wilhelm Belk fuhr die Konturen des stattlichen Kurhauses mit den Augen ab. Links und rechts zwei imposante Anbauten, auf denen jeweils ein rechteckiges Türmchen ruhte, das von einem zweistöckigen Walmdach gekrönt wurde. Ein majestätischer, luxuriöser Bau in Hufeisenform, der dem Betrachter seine Flügel einladend entgegenstreckte, als wolle er sagen Komm in meine Arme. Betrete meinen säulengetragenen Eingang. Lass dich für ein paar Mark belügen und träume dir eine Zeit herbei, die nicht mehr ist. Wilhelm Belk wollte sich nicht belügen lassen und schon gar nicht für Geld.
„Hallo, Wilhelm.“
Belk drehte sich überrascht um.
„Ah, Hans.“
„Und, träumst du von vergangenen Tagen?“
„Ja, es war wirklich wie ein Traum. Nur zwei Jahre nach dem Brand von 1906 wieder auferstanden aus der Asche. Der Kaiser selbst hat es eingeweiht und alle waren sie hier. Adel, Armee und Industrielle. Leute mit Geld und Macht. Und Lügen“, fügte Wilhelm Belk hinzu.
„Du bist verbittert.“
„Mir fehlt der Sinn.“
„Mein Paul kämpft für unsere Ehre. Auch für dein verlorenes Bein.“
„Es war ein anderer Krieg und davon kommt es nicht zurück.“
„Es war auch ein deutscher Krieg.“
Wilhelm Belk schwieg. Dann fragte er: „Glaubst du tatsächlich, was sie uns weismachen wollen, dass wir siegen werden?“
Hans Appelbohm lachte fast hysterisch „Natürlich! Es sind doch nur Franzmänner, Engländer und der Russ‘. Preußische Ordnung und Disziplin werden sie lehren, was es heißt, seine Majästät und die Deutschen herauszufordern. Rache und Vergeltung werden sie spüren.“
Wilhelm Belk deutete auf den rechten Turm des Kurhauses.
„Da oben hat der Kaiser genächtigt, im Juli 1908 für eine ganze Woche. Ich werde es nie vergessen. Es war, als würde sich sein Glanz auf Rügen, ja auf das ganze Reich legen. Wie die Sonne eines klaren Sommers. Das ist nun bald zehn Jahre her. Jetzt ist Herbst.“
Hans Appelbohm hob abwehrend die Hand. „Du tust gerade so, als hätten wir den Krieg schon verloren. Lass das niemanden hören, du weißt, wie schnell man in Verruf gerät.“
„Sie haben mein Bein. Mein Maul und mein Herz bekommen sie nicht auch noch“, sagte Wilhelm Belk ruhig und bestimmt.
„Ja hätten wir denn den Mord an unserem Thronfolger ungesühnt lassen sollen?“, polterte Hans Appelbohm ungehalten los. „Wie stünden wir da in der Welt? Du und dein Studiertengerede. Deutschland braucht nun Männer mit Ehre, keine alten Schwätzer und Besserwisser!“
Wilhelm Belk schüttelte ungläubig den Kopf. Er war nicht verletzt. „Ja, genau das wollen sie uns glauben machen. Erst schießen, dann denken. Mir wäre es lieber, es wäre Frieden und wir hätten Brot und Kohlen. Der Winter wird wieder bitter.“
Der Wind riss ein Plakat von einer Kurhausplatane und peitschte es vor sich her. Einige Flugsekunden später klebte „Tanztee mit Jubilee“ am Zaun fest. Nur noch eine Ecke des Anschlages schlug hilflos flatternd um eine Lattenkante.
„Feigling!“, brüllte Hans Appelbohm. „Elender Feigling! Wenn ich könnte, dann wäre ich selbst an der Front, um die Ehre des Kaisers und der Deutschen zu verteidigen. Aber ich bin zu alt. Zu alt, verstehst du? Nicht zu feige. Mein Paul verteidigt unsere Ehre, während du hier nur kluge Reden schwingst. Auf den deutschen Schultern meines Jungen ruht diese schwere Last. Warum bist du nicht in Hamburg an deiner Gelehrtenanstalt geblieben, bist nach Rügen zurückgekommen, nur um böses Blut zu stiften? Du bespritzt alles, was uns heilig ist mit Gülle aus deinem Mund. Kaiser, Krone, Reich, Blut, Ehre und Volk. Ich mag mir das nicht länger anhören.“
Hans Appelbohm drehte sich auf dem Absatz um und stürmte grußlos davon. Wilhelm Belk sah ihm ratlos nach, bis seine Konturen von Regenschwaden und grauem Herbstdunst am Ende der Straße aufgelöst worden waren. Dann schlug er sich den Kragen hoch. Die feinen Regentropfen hatten seinen Mantel völlig durchnässt. Von den Resten seiner Haare liefen ihm feine Rinnsale in den Nacken. Seine Brille war beschlagen. Er fuhr die unscharfen Konturen des Binzer Kurhauses wieder mit den Augen ab. Lügengebäude.
Postmeister Carstensen kämpfte sich auf seinem Fahrrad durch den nassen Wind. Als er Wilhelm Belk sah, steuerte er direkt auf ihn zu. Nachdem er ihn erreicht hatte, stoppte er quietschend, stieg vom Sattel und bockte sein Fahrrad auf.
„Post für mich?“, fragte Wilhelm Belk ungläubig. Carstensen schüttelte den Kopf.
„Ich habe Appelbohm gesehen. Ist er Ihnen nicht begegnet?“
„Doch, doch. Aber er zog es vor zu gehen, nachdem ich ihm meine Meinung über den Krieg gesagt habe.“
„Verstehe!“ Carstensen nickte. „Ja, aber wer wollte es ihm verübeln? Würde er zustimmen, dann wäre sein Sohn völlig umsonst gefallen.“
„Gefallen? Paul?“ Es traf Wilhelm Belk wie ein Donnerschlag.
„Ja, wussten Sie das denn nicht? Hat er es Ihnen nicht erzählt? Ich habe den Brief letzte Woche zustellen müssen. Ich erkenne sie immer schon am Absender. Ich hasse es. Es sind so viele. Binz, Bergen, Sassnitz, Göhren, Garz, Wiek, Putbus, Dreschwitz. Überall sterben jetzt auch hier Väter und Söhne. Das Festland kommt näher.“
„Wer ist hier jetzt der Feigling?“, murmelte Wilhelm Belk traurig, „armer, alter Feigling.“ Dann nickte er Carstensen zu und ging.

Szenentrenner


Wilhelm klopfte leise. Als Hans an die Tür kam, hielt Wilhelm ihm die Flasche Cognac aus besseren Tagen vor die Nase. Sie würden ihn heute brauchen für Blut, Ehre, Vaterland, den Kaiser und die Feiglinge und vor allem für ihren Schmerz. Nichts war so wie zuvor und es würde nie wieder so werden. Aber vielleicht besser.

20. Jul. 2010 - Alf Leue

Bereits veröffentlicht in:

Im Buch: Rügen schreibt Geschichte 2009

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