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Spieglein, Spieglein
von Carola Kickers
Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Fünf Jahre nach dem Tode ihrer Großmutter lebte Daniela immer noch in dem ländlich gelegenen Waisenhaus, in dem die barmherzigen Schwestern von St. Bernadette ein strenges Regiment führten.
Aus der damals Zwölfjährigen war ein bildhübscher Teenager geworden mit kristallklaren, blauen Augen und langen, dunkelbraunen Haaren, die sie jeden Tag zu einem strengen Zopf zu flechten hatte.
Die Kinder mussten zwischen ihren Gebeten hart arbeiten und nebenbei noch für ihr Schulpensum lernen. Aber niemand wollte sie so recht auf das Leben da draußen vorbereiten, hegten die Nonnen doch immer die Hoffnung, dass die eine oder andere ihrer Schützlinge als Novizin in den Orden eintreten würde. Und in der Tat konnte sich dieser Orden über Nachwuchs nicht beklagen.
Seit ihrer Ankunft fühlte sich Daniela mit ihrem freien Geist und ihrem fröhlichen Naturell einsam und unverstanden. Ihre Aufsässigkeit hatte ihr schon so manche Strafarbeit eingebracht. Jede Nacht, wenn sie allein in ihrem Bett in dem großen Schlafsaal lag, den sie sich mit weiteren zehn Mädchen teilte, quälte sie der Gedanke an Flucht. Aber wohin hätte sie gehen können? Sie hatte keine lebenden Verwandten mehr. Langsam rückte der Tag näher, in dem sie diese schützenden Mauern würde verlassen müssen. So sehr sie sich auch nach der Freiheit sehnte, so sehr fürchtete sie diese.
An diesem Abend hatte die Oberin Daniela zu sich gebeten. Ein hartes und entbehrungsreiches Leben hatte das Gesicht der Vorsteherin dieses Waisenhauses gezeichnet, und ihre dunklen Augen blickten unendlich müde. Sie hatten wohl zuviel Leid gesehen. Die Schwestern erzählten sich, dass die Oberin lange Jahre im Missionarsdienst in Afrika gewesen war und dort allerlei Kämpfe gegen die dunklen Künste ausgefochten haben musste.
Mit strengem, aber gütigem Ausdruck in den Augen schaute sie nun auf das junge Mädchen vor ihr, das achtungsvoll den Blick gesenkt hielt.
Nun, es ist an der Zeit, dass du dir über deine Zukunft klar wirst, welchen Beruf du ergreifen möchtest. Willst du vielleicht eine Lehre in der Stadt absolvieren? Mit deiner schönen Stimme wärst du aber auch in unserem Chor willkommen. Solche Talente wie du sind selten. Natürlich möchte ich dich nicht drängen, schließlich hast du einen freien Willen.
Aha, dachte Daniela, darauf soll es also hinauslaufen.
Sie schaute weiter zu Boden und ließ die Oberin reden, die die Vorzüge des Klosterlebens in den höchsten Tönen pries.
Niemals, ihr kriegt mich nicht, antwortete Daniela wiederum in Gedanken.
Es schien, als habe die Oberin ihren Widerspruch in ihrem Gesicht abgelesen. Sie lächelte in sich hinein. Dann legte sie dem Mädchen die Hand auf die Schulter. Folge mir, mein Kind, du sollst in Ruhe nachdenken können.
Wortlos folgte Daniela der schwarz-weiß gekleideten Nonne die Treppen hinauf bis auf den Dachboden des Heimes. Verwundert blickte sie sich in der mit abgedeckten alten Möbeln, Spielzeug und allerlei Krimskrams zugestellten Kammer um. Das letzte Sonnenlicht schien durch die beiden kleinen Glasfenster in der Schräge und verwandelte die Staubschleier in der stickigen Luft in tanzende goldene Punkte.
Was soll ich hier, Mutter Oberin? Etwa aufräumen?, wieder war da diese gewisse Abneigung in ihrer Stimme herauszuhören, doch die Oberin überhörte ihre Widerwilligkeit geflissentlich.
Du wirst die Nacht hier oben verbringen. Allein. Schau dich in Ruhe um, vielleicht entdeckst du etwas, was dich zu deiner Berufung führt.
Verständnislos schüttelte Daniela den Kopf. Für sie war das absoluter Blödsinn, die Nacht hier oben in diesem zugigen und kalten Loch zu verbringen. Sie wusste doch längst was sie wollte weg hier, egal wohin. Für sie war dieses Heim ein Gefängnis.
Die Oberin öffnete einen der alten Schränke und zog zwei Wolldecken und ein Kissen heraus. Hier, mein Kind, natürlich sollst du nicht frieren. Aber ich rate dir gut, halte Zwiesprache mit Gott in dieser Nacht, damit er dir deinen Weg erleuchtet.
Daniela schnaubte verächtlich. Die Oberin verließ die Dachkammer und das junge Mädchen hörte, wie sich der rostige Schlüssel im Schloss umdrehte. Man hatte doch tatsächlich die Frechheit, sie hier einzuschließen! Wollte man sie etwa damit erpressen, Nonne zu werden? Lächerlich, sie würde sich niemals diesem Orden anschließen.
Vielleicht ließ sich aber etwas Wertvolles zwischen all dem alten Kram finden? Neugierig durchstöberte Daniela die Dachkammer. Als Erstes griff sie nach einem schmutzig silbrigen Kerzenleuchter, in dem sich noch eine halbe Kerze befand und nach ein paar Streichhölzern aus einer Schublade voller alter Küchenutensilien. Zumindest würde sie in dieser Nacht nicht völlig im Dunkeln stehen. Sie blickte durch eines der kleinen Dachfenster in den Himmel, wo schon der aufgehende Mond halb zu sehen war.
Wieder ging sie auf die Suche. In einem der Schränke fand sie ein spitzenbesetztes, schwarzes Seidenkleid, mit Perlen bestickt. Sie schlüpfte hinein, und es schien wie für sie gemacht. Das war doch etwas anderes, als diese Waisenhausuniform! Wie weich es sich anfühlte! Selbstverliebt drehte sie sich im Kreis, ließ den weiten Rock schwingen. Sie löste den Zopf in ihrem Nacken und ihre langen Haare flossen als dunkler Storm über ihre Schultern. Was für ein herrliches Gefühl!
Unter einer der staubigen Abdeckungen fand sie schließlich einen ovalen, alten Standspiegel in einem glänzenden, geschnitzten Holzrahmen.
Im Spiegel liegt die Wahrheit behauptete eine der Schnitzereien im oberen Rahmen.
Zum ersten Mal sah das Waisenmädchen seine aufblühende Schönheit. Spiegel waren sonst im Heim nur in den Waschräumen erlaubt. Daniela spürte ein Gefühl von Stolz und Eitelkeit. Sie fühlte sich wie eine verwunschene Prinzessin.
All das sollte sie in Zukunft unter der eintönigen Schwesterntracht verbergen, wenn es nach der Oberin ging. Diese makellose Haut, die zierliche Taille, die schönen, langen Beine? Alles in Daniela wehrte sich gegen diese Vorstellung. So, wie sie sich gerade da im Spiegel betrachtete, würde ihr die Welt offen stehen, würde sie Männerherzen höher schlagen lassen. So wollte sie leben und nicht anders!
Die Nonnen hatten den Mädchen schon früh alle kleinen Schmuckstücke untersagt. Wenn man nachts in den Spiegel sieht, guckt der Teufel heraus, dieses altväterliche Sprichwort hatten sie den heranwachsenden Kindern immer wieder vorgehalten.
Lächerlich, dachte Daniela, als sie sich in em Moment daran erinnerte.
Mit der Gewissheit, eine Entscheidung über ihre Zukunft getroffen zu haben, legte sie sich auf ein ausrangiertes Sofa und kuschelte sich zufrieden in die nach Mottenkugeln duftenden Wolldecken.
Ihr Schlaf war unruhig. Nicht nur die ungewohnte Umgebung machte Daniela zu schaffen, viel mehr der Alptraum, der sie quälte.
Dabei fing er so harmlos an: Daniela sah sich erneut vor diesem kunstvollen, alten Spiegel stehen in dem bezaubernden, schwarzen Kleid. Dann entwickelte das Abbild ein Eigenleben. Es zeigte ihr wie in einem Film die Szenen einer imaginären Zukunft ihrer Zukunft.
Zuerst sah sie ihre Entdeckung als Sängerin bei einem Talentwettbewerb in einer großen Stadt, ihre aufsteigende Karriere und später deren schreckliches Ende in Form von Kokain und schmutzigen Schlagzeilen. Aber sie sah auch, wie sich ihr Charakter veränderte, von der anständig erzogenen jungen Dame zu einer überheblichen, bösartigen Frau mit Starallüren. Und zuletzt zeigte der seltsame Spiegel ihr die Menschen, die sie zunächst umjubelten und dann voller Selbstsucht umschmeichelten, um sie schließlich fallen zu lassen und zu vergessen.
Daniela erwachte schweißgebadet. Sie blickte an sich herunter und bemerkte, dass sie immer noch dieses Kleid trug. Hastig zog sie es aus und hängte es zurück in den Schrank. Dann schlüpfte sie in ihre eigenen Sachen und lief zur Tür der Dachkammer. Mit heftigem Klopfen machte sie auf sich aufmerksam, bis eine der Schwestern ihr schließlich öffnete. Mit immer noch zitternden Knien eilte die Waise in den Waschraum. Die meisten Mädchen befanden sich schon beim Frühstück, so dass sie ganz alleine war. Nach einer Katzenwäsche blickte sie in den kleinen, schon angelaufenen Spiegel über dem Waschbecken und stellte fest, dass sie immer noch ihre Haare offen trug. Wie gewohnt begann sie, diese wieder zu einem Zopf zu flechten. Danach lief sie hinunter in den Speisesaal zu den anderen.
Nach dem gemeinsamen Frühstück gingen die Mädchen an die ihnen zugewiesenen Arbeiten. Nur Daniela wurde erneut zur Oberin gerufen.
Schüchtern blieb sie vor der Leiterin des Waisenhauses stehen, um deren Mund ein wissendes Lächeln spielte.
Nun, mein Kind, was ist dir in der letzten Nacht widerfahren? Du siehst sehr blass aus, begann sie das Gespräch im mütterlichen Tonfall. Daniela machte einen tiefen Atemzug. Stockend erzählte sie von dem Traum, der sie immer noch nicht loslassen wollte, solch intensive Bilder und Gefühle hatte der Spiegel in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Die Oberin nickte nur, nachdem Daniela ihre Geschichte geendet hatte. Ja, die Versuchung lauert in vielerlei Gestalt auf uns, erwiderte sie nachdenklich, mit dem Rücken zu ihrem Schützling gewandt. Sie hatte die ganze Zeit am Fenster gestanden und zugehört.
Und wie hast du dich nun entschieden?, wollte sie dann wissen.
Daniela schwieg. Sollte sie wirklich ihre blühende Schönheit und ihr gerade beginnendes, junges Leben einem trostlosen Alltag im Kloster opfern? Aber was, wenn dieser merkwürdige Spiegel ihr wirklich die Wahrheit gezeigt hatte? So wollte sie auf keinen Fall enden!
Sie seufzte. Dann würde sie doch lieber das kleinere Übel wählen.
Ich werde in den Orden eintreten, sagte sie leise, fast flüsternd, nach einer Weile.
Die Mutter Oberin drehte sich um und ging zu ihr hinüber.
Eine kluge Entscheidung, mein Kind. Du wirst eine wahre Bereicherung für uns sein, sagte sie und hob mit der rechten Hand Danielas Kinn hoch, so dass das Mädchen ihr direkt in die Augen schauen konnte.
Daniela zuckte zusammen. Das Gesicht der Oberin wirkt heute Morgen überraschend jugendlich mit rosigen Wangen. In ihren moosgrünen Augen lag ein seltsamer Schimmer, der das hübsche Kind in die Tiefe zu reißen schien.
Wirklich eine kluge Entscheidung, lobte die Oberin noch einmal, und Daniela schien es, als ob in der Dunkelheit dieser Augen eine tückische, rote Glut aufloderte. Wir sollten immer prüfen, wem wir unsere Seele anvertrauen.
15. Aug. 2010 - Carola Kickers
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