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Im Schatten des Waldes verblassen die Farben von Andreas Flögel
Joran Elane © http://www.glenvore-art.com Kein Kind sollte in solch einer Nacht geboren werden.
Merthe eilte durch den Regen, den Mantel fest um sich geschlungen. Sie beugte sich vor, um dem Sturm möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Blitz und Donner ließen sie zusammenzucken. Immer wieder blieb sie stehen, von Hustenkrämpfen geschüttelt.
Wenn der Anfall nachließ, fiel ihr Blick auf die Silhouette des Nachtwalds, die sich pechschwarz hinter den Dächern Soldheims abzeichnete. Wie jeder Bewohner des Dorfes sprach sie die rituellen Formeln zum Schutz gegen Geister. Reisende mochten solches Verhalten für besonders abergläubisch halten. Doch woher sollten Fremde wissen, was es bedeutete, im Schatten des Nachtwalds zu leben? Keine andere Siedlung grenzte direkt an dieses Gebiet und Merthe hoffte, dass auch keine andere so unter seinem Einfluss zu leiden hatte.
Wieder wurde sie von einem Hustenanfall gepackt, so heftig, dass ihre klammen Hände das Bündel mit den Instrumenten und Kräutern nicht mehr halten konnten.
Sie kam zu spät.
Sie hatte das Haus fast erreicht, das Licht brannte noch, aber sie konnte sehen, wie Orthum schon wieder heraustrat, die Miene versteinert und ohne einen Gruß. Niemand hatte den alten Mann zum Ortsvorsteher ernannt. Seine Vorfahren hatten den Ort gegründet. Nur Merthe konnte von sich behaupten, dass ihre Familie noch länger in dieser Gegend ansässig war. Außerdem wusste jeder, dass die dunklen Geister des Waldes zu Orthum sprachen und so gab es keinen Zweifel daran, dass sein Wort Gesetz war.
Sein Verhalten ließ nur zwei Deutungen zu. Entweder hatte das Kind die Geburt nicht überlebt, oder es war erneut geschehen. Merthe wurde schwindelig. Wenn es wirklich wieder passiert war, wie sollte sie ihre Aufgabe erfüllen, jetzt, wo sie so krank war, dass sie kaum mehr den Weg von ihrer Hütte in den Ort bewältigte?
Als sie das Haus betrat, sah sie die schluchzende Mutter auf ihrem Lager, den Vater daneben, Trauer im Blick, den weinenden Säugling im Arm.
Orthum hat gesprochen. Er sagt, dass unsere Tochter ein Kind des Nachtwalds ist.
Die beiden Reisenden erreichten Soldheim im strahlenden Licht der Mittagssonne. Seit der Geburt des Kindes vor mehr als einer Woche hatte es ununterbrochen geregnet. Jeder Bewohner des Dorfes, der es irgendwie mit seinen Aufgaben verbinden konnte, befand sich im Freien, um endlich wieder die Wärme der Sonnenstrahlen zu spüren. So schien es, als ob sich eine Abordnung zum Empfang der Ankömmlinge eingefunden hätte.
Dass die beiden edler Herkunft waren, erkannte man sofort am schweren, mit Borten gesäumten Stoff ihrer Kleidung und natürlich daran, dass die junge Frau auf einem Ross ritt, wie man es in Soldheim noch nie gesehen hatte. Nicht, dass es hier überhaupt ein Pferd gegeben hätte, aber es war keine Frage, dass dieser stattliche Schimmel mit den schlanken Fesseln nicht das Geringste mit den gedrungenen Gäulen zu tun hatte, die vor die Wagen der fahrenden Händler gespannt waren.
Die Stute wurde von einem Jüngling geführt. Zumindest wirkte er so auf die Dörfler, denn sein Gesicht zeigte keine Spuren von schwerer Arbeit oder irgendwelchen Entbehrungen. Trotz seiner Jugend hatte er ein Schwert quer über den Rücken geschnallt.
Vor dem Wirtshaus hielten die Reisenden an.
Wir sind Abgesandte von Herzog Ruud und suchen eine Frau namens Merthe, die hier leben soll. Der junge Mann hielt kurz inne. Und bringt uns Wein, den besten, den ihr habt, mit Wasser.
Unruhe entstand. Man suchte Orthum, da niemand sich berufen sah, den hohen Herrschaften zu antworten.
Kurz darauf eilte der Wirt herbei, streckte den Gästen einen Kelch entgegen. Der Jüngling probierte, verzog angewidert das Gesicht und spuckte aus. Gerade wollte er den Kelch ausschütten, als ihn die junge Frau abhielt. Sie nahm das Gefäß aus seiner Hand, tat einen kräftigen Schluck und reichte es lächelnd an den Wirt zurück, nicht ohne ihm zu danken.
Inzwischen war Orthum erschienen, begrüßte die Ankömmlinge in Soldheim und bestimmte einen der Burschen, der sie zu Merthes Hütte führen sollte.
Die Blicke der Soldheimer folgten ihnen, als sie sich aufmachten.
Und nun? Die Stimme des Wirtes verriet seine Sorge. Orthum antwortete bestimmt: Es ändert nichts. Die Zeremonie findet heute Nacht statt. Wir haben schon zu lange gewartet.
Nur das Rasseln ihres Atems verriet, dass Merthe noch lebte. Unter den Decken war ihr Körper kaum zu erahnen. Ihr zerfurchtes Gesicht war eingefallen, die Augen hatte sie geschlossen. Von ihren Besuchern nahm sie keine Notiz.
Der junge Mann stand in der Tür, eine Hand vor Mund und Nase, aufgehalten von dem Gestank, der ihm entgegenschlug. Doch das Mädchen in seiner Begleitung schob ihn zur Seite, kniete sich neben Merthes Lager und umfasste die Hand der Alten.
Schnell Bellant, mach ein Feuer. Es ist noch nicht zu spät.
Sie achtete nicht darauf, ob der Jüngling ihren Anordnungen nachkam, sondern warf ihren Mantel und ihr Oberkleid von sich und schlug Merthes Decke zurück. Dann legte sie sich vorsichtig auf die alte Frau und schloss die Augen. Nach einiger Zeit bildete sich Schweiß auf ihrer Stirn und die Muskeln in ihrem Nacken spannten sich. Kurz darauf wurde das rasselnde Atemgeräusch leiser, Merthes Gesicht verlor die Blässe.
Als endlich das Feuer im Kamin brannte, ging Merthes Atem ruhig und tief und ihre Haut hatte eine gesunde Farbe.
Schließlich schlug sie die Augen auf, musterte die junge Frau und versuchte, sich aufzurichten.
Bleib besser liegen. Du bist zwar über den Berg, aber du brauchst noch Ruhe, bis du ganz wiederhergestellt bist.
Das Mädchen stand auf, das Gesicht von Erschöpfung gezeichnet, und legte sorgfältig wieder die Decken über Merthe.
Ich bin Isalaide. Deine Nachricht hat Herzog Ruud erreicht. Er hat mich und Bellant geschickt, damit wir dich unterstützen. Ich hoffe, wir sind noch zur rechten Zeit gekommen.
Der Regen hat uns geholfen. Merthe lächelte zaghaft. Doch heute Nacht wird es passieren. Aber ich bin zu schwach
Bellant trat vor. Macht euch keine Sorgen, gute Frau. Wir kümmern uns darum. Herzog Ruud möchte dem Ganzen ein Ende machen.
In den Augen der alten Frau erschienen Tränen. Endlich, ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben.
Bringt mir das Kind, das dem Wald gehört.
Orthum und die meisten Bewohner des Dorfes hatten sich in der abendlichen Dämmerung auf einem Platz am Waldrand versammelt, dessen Zentrum ein abgeflachter Felsbrocken bildete.
Der Wirt sprach eindringlich flüsternd mit den stumm zu Boden blickenden Eltern, während er ihnen den in schwarze Tücher gehüllten Säugling abnahm. Er legte das Bündel auf den Stein, dann trat er einige Schritte zurück.
Hinter dem einfachen Altar stand Orthum, die Arme gen Himmel gehoben.
Für die Geister des Waldes und zu unserem Schutz.
Er sang die Worte vor und die Dorfbewohner antworteten, indem sie den Satz murmelnd wiederholten.
Orthum zog einen Dolch, legte die Scheide neben das Kind und hob die Klinge in die Höhe. Alle Muskeln angespannt, bereit zuzustoßen, verharrte er einen Moment.
Lautes Rufen riss ihn aus der Erstarrung. Halt, im Namen von Herzog Ruud! Wagt es nicht, das Kind zu verletzen!
Bellant und Isalaide standen am Rand der Lichtung. Der Jüngling hastete zum Altar, legte eine Hand auf den Säugling und bedrohte Orthum mit gezücktem Schwert. Dieser senkte den Dolch und musterte Bellant mit durchdringendem Blick. Besser ihr verschwindet wieder. Der Nachtwald hat seine eigenen Gesetze. Dieses Kind gehört ihm. Der Herzog hat damit nichts zu schaffen.
Bitte, ihr versteht das falsch. Was wir hier tun, ist notwendig. Der Wirt trat aus der Menge hervor. Er sprach zu Isalaide, doch immer wieder ging sein Blick zu Bellant. Vor einigen Jahren haben wir ein Mädchen, das auch von den Geistern des Waldes berührt war, in unserem Dorf leben lassen. Eines Nachmittags weckte etwas ihren Zorn. Niemand vermag zu sagen, ob die Blitze aus ihren Augen oder Händen hervorschossen. Jedenfalls haben ihre Spielkameraden und jeder, der zu Hilfe eilte, dies nicht überlebt. Auf Bellant zugehend, fuhr er fort: Wir töten die Kinder nicht. Sie verschwinden, lösen sich auf, noch ehe der Dolch sie erreicht. Nie ist Blut geflossen. Der Wald hat sie geholt.
Bellant beobachtete den Wirt, der immer näher gekommen war. Ihr Narren! Nicht der Wald hat die Kinder verschwinden lassen,
In diesem Moment stieß Orthum ihm den Dolch in den Rücken. Die Waffe drang tief genug ein, um stecken zu bleiben. Bellant wirbelte herum, schlug wild mit dem Schwert auf Orthum ein, ohne sich von der Wunde in seinem Rücken stören zu lassen. Schließlich verstummten die Schreie des Alten.
Isalaide trat hinter Bellant, fasste den Dolch mit beiden Händen und zog ihn mit einem Ruck heraus. Der junge Mann reckte sich, ließ kurz die Schultern kreisen, dann sprach er zu den Dorfbewohnern, leise und mühsam beherrscht: Es war Merthe. Sie ließ die Kinder verschwinden, um sie zu retten. Geister waren dabei nicht im Spiel. Sie besitzt eine außergewöhnliche Gabe, kann Dinge blitzschnell an einen anderen Ort versetzen, ohne sie anzufassen. Die Kinder brachte sie an Herzog Ruuds Hof. Seine Stimme wurde lauter, leidenschaftlicher. Abergläubisches Pack. Alle geretteten Kinder sind mit besonderen Gaben gesegnet. Nehmt Isalaide, sie besitzt die Kraft zu heilen. Oder mich. Kein Hieb, kein Stoß vermag meinem Fleisch etwas anzuhaben. Unter dem Schlag verwandelt es sich in eine feste, undurchdringliche Borke.
Ihr seht also, nahm Isalaide den Faden auf und sprach mit ruhiger Stimme zu den Dörflern, wir selbst haben als Säugling hier gelegen und verdanken Merthe und dem Herzog unser Leben. Sie wartete, bis sich die Unruhe in der Menge wieder etwas gelegt hatte. Geht nach Hause. Es ist der Wille des Herzogs, dass sich hier einiges ändert.
Der Wirt hatte die ganze Zeit über nicht den Blick von Orthums Leiche wenden können. Nun gab er sich einen Ruck und forderte die Dorfbewohner dazu auf, mit ihm zurückzugehen.
Isalaide beobachtete den Abzug, während Bellant den Säugling liebevoll im Arm wiegte.
Merthe erwachte am nächsten Tag, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Sie fühlte sich erholt und das schöne Wetter passte zu ihrer Stimmung. Endlich war sie frei, frei von der Verantwortung für die Rettung der Kinder, frei von der Sorge, dass ihre Gabe sie vielleicht im entscheidenden Moment im Stich lassen könnte.
Isalaide hatte ein spätes Frühstück gerichtet und schenkte ihr dampfenden Tee ein. Als sie den Säugling weinen hörte, wollte die alte Frau aufstehen und draußen nach ihm sehen, aber Isalaide hielt sie zurück. Soll Bellant sich um die Kleine kümmern. Sie lächelte Merthe zu. Das wird ihn lehren, sich besser zu beherrschen. Sehr ärgerlich, dass er den alten Mann getötet hat. Für einen Augenblick meinte Merthe, so etwas wie Wut im Blick der jungen Frau zu sehen, doch es war sofort vorbei. In Isalaides Stimme war davon nichts zu merken, als sie fortfuhr. Die Fähigkeit, den Neugeborenen sofort anzusehen, ob sie eine besondere Begabung haben, wird uns jetzt fehlen. Der Mund der jungen Frau lächelte immer noch, aber ihr Blick war hart. Ich hoffe, du fühlst dich wieder stark genug, damit ich mit dir über die Pläne des Herzogs sprechen kann, über das, was er hier zu ändern gedenkt. Wir können doch auf deine Hilfe zählen?
Natürlich. Merthe nahm einen Schluck Tee. Ich freue mich, wenn ich helfen kann.
Das dachte ich mir. Am besten fangen wir gleich damit an, ein Verzeichnis aller Bewohner Soldheims zu erstellen, mit Alter, Beruf, wie viele Kinder sie haben und in welchem Haus sie wohnen.
Merthe stellte die Tasse ab und musterte Isalaide erstaunt. Ich verstehe nicht ganz. Wozu soll das gut sein?
Der Herzog möchte, dass die Älteren, die keine Kinder mehr bekommen, Soldheim verlassen und Platz schaffen für junge Paare, die ihm viele neue Untertanen schenken. Möglichst solche mit besonderen Begabungen, eben Kinder des Nachtwalds. Wir müssen einen Weg finden, möglichst früh zu erkennen, welche Kinder eine Gabe aufweisen. Schließlich wollen wir nur diese fördern und nicht das restliche Gesocks. Sie hielt inne, als sie Merthes Gesichtsausdruck sah. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, niemand will dich hier vertreiben. Herzog Ruud ist dir dankbar, dass du ihn auf die Kinder und ihre Fähigkeiten aufmerksam gemacht hast.
Aber nein, darum geht es doch gar nicht. Merthe rang nach Worten. Was du sagst
ich meine
das bedeutet also, dass Herzog Ruud vorhat, Kinder des Nachtwalds zu züchten?
Es hat einige Zeit gedauert, aber schließlich ist es mir gelungen, dem Herzog die Augen zu öffnen. Endlich hat er erkannt, wie wertvoll wir für ihn und seine Armee sind. Isalaides Augen schienen durch Merthe hindurchzuschauen, als sie fortfuhr. Wir Kinder des Nachtwalds sind keine Missgeburten, die man auf einem Felsbrocken irgendwelchen Waldgeistern opfert. Wir sind die Elite des Herzogtums. Man wird uns bewundern und es wird immer mehr von uns geben. Letztendlich stehen wir weit über denjenigen, die keine besonderen Gaben besitzen, und sind dazu bestimmt, ihre Herrscher zu werden. Und hier ist das Zentrum, von hier wird das alles ausgehen.
Merthe wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie stand auf, öffnete die Tür, wankte nach draußen. Es fiel ihr schwer, Luft zu bekommen. Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte, fiel ihr Blick auf die Bäume des Nachtwalds hinter ihrer Hütte. Oft war er ihr so dunkel und bedrohlich erschienen, doch heute wirkte er farblos und grau. Sie ertappte sich dabei, wie sie dennoch unbewusst die Schutzformel gegen die Geister murmelte. Mitten im Wort brach sie ab.
Gegen die Geister, mit denen sie es jetzt zu tun hatte, waren ihre Schutzformeln wirkungslos.
03. Nov. 2010 - Andreas Flögel
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