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Die Wegleuchte von Ivonne Hübner
Joran Elane © http://www.glenvore-art.com Wenn die Dunkelheit die Erde zur Guten Nacht küsst, der Sommerwind sich eine Pause gönnt und die Wesen des Tages sich in warme Decken aus Federn von Gänsen und Hühnern betten, kann man dem leisen Rascheln eines Saumes lauschen, der den feuchten Boden eines vielbetretenen Pfades streichelt.
Das dumpfe Platschen von nackten Füßen lässt erahnen, welche Erfrischung die Spazierende durchfluten mag. Es ist ein Mädchen, das sich nach ihr gierende Zweige aus Gesicht und Haaren streicht, ihre Hüften an widerspenstigen Farnen vorbeiwindet und ihre Hände schützend vor klebrigen Weben erhebt. Sie ist nicht allein auf dem Weg durch den Wald in der Nacht, aber sie ist die Unerschrockene, die ihren Begleiterinnen vorausgeht. Ihr richtiger Name ist in Vergessenheit geraten, aber manch einer nennt sie Glundaike oder Daike.
Das Mädchen sucht. Es sucht seit langer Zeit und in vielen Nächten.
Einst konnte man die junge Frau mit ihren Freundinnen lachen hören und mit ihren Verehrern tanzen sehen. Von Glück beseelt und Treue umgeben, lebte sie herrschaftlich, zufrieden und bar jeder Ahnung schlechterer Zeiten. Ein stattlicher Mann wurde ihr zur Seite gestellt, ein Gefährte, ein Freund, ein Gatte, und es sollte eine Zeit auf ihre unbeschwerte Jugend folgen, die an Glückseligkeit kaum mehr zu übertreffen war. Irgendwann aber wurde es unruhig um das Land, in dem das Mädchen so freudvoll lebte. Schließlich begehrte das Volk auf. Die Männer zogen aus, um Ruhe und Frieden zu sichern und ließen ihre Frauen in bangem Warten zurück. Doch während Schwestern, Cousinen, Freundinnen und Nachbarinnen nach Monaten und Jahren der Einsamkeit ihren Lieben wieder in die Arme schließen konnten, blieb Daiken, einst so vollkommen glücklich, allein.
Verbittert und voller Gram streifte sie oft tagelang durch das Land und fragte nach ihrem Gemahl, doch von dem fehlte jede Spur. Ein Bursche redete dem Verschollenen übel nach und posaunte seine Untreue, seine Vorliebe für das Vergnügen mit Jungfrauen diesseits und jenseits der Landesgrenzen aus.
Wie kann das möglich sein, nachdem er mir sein Herz schwor? Mit diesen, deinen Worten löschst du ein Licht in mir, das einst jener Mann entfacht hat, sagte die junge Frau traurig und war durch das Gerücht sehr verletzt. Ihre Jugend und Unerfahrenheit im Umgang mit Fremden, ihre Einsamkeit und all der Schmerz, den sie mit sich brachte, machten Daike taub für die Warnungen ihres Herzens und blind für die trügerisch blitzenden Augen des Knaben. Sie glaubte ihm jedes einzelne seiner boshaften Worte, sie waren das Lippenbekenntnis, nach dem die Verzweifelte lechzte, um endlich einen Hort für ihren Kummer zu wissen. Eine Zeit vieler Tränen und Verwünschungen begann für die schöne, einst so stolze Frau. Sie fand weder Ruhe am Tag, noch Schlaf in der Nacht. Sie entsagte der Freude und hing ihren Erinnerungen nach, bis sie eines Tages von der Weissagung erfuhr, man könne auf einem einzigen Wege erfahren, wo der Geliebte sich aufhalte und ob seine Treue ihm wirklich abhanden gekommen war:
Ein Mann, weißes Haar und in Falten geworfene Stirn verrieten sein hohes Alter, erzählte dem Mädchen von einem gelben Schein, der nur des Nachts beobachtet werden könne und der verschleiert durch Dickicht und Unterholz dringe. Dieser Schein rühre von einem Schlüssel her, berichtete der Alte der Verzweifelten weiter, und würde das tränennasse Gesicht der Wahrheit offenbaren. Doch höre, schönes Kind, du darfst nur bei Nacht wandern.
Wie kann ich das? Ich lebe am Tag und die Nacht ist mir ein Grauen, gestand das Mädchen ängstlich.
Der Mann besah die zögernde Frau eine Weile und schloss dann: Du solltest zunächst dein Herz nach der Wahrheit befragen und dich nur mit reinem Gewissen und ehrlichem Willen auf die Suche machen.
Das Mädchen war des Grübelns und des Wartens müde und sann deshalb nicht lange nach. Es entschied, noch am selben Tag im Schutze der Nacht auf die Suche zu gehen. Mit nichts weiter am Leibe als einem weißen Leinengewand und ohne jedes Schuhwerk machte sich Daike auf den Weg. Begleitet wurde sie von ihren engsten Freundinnen, die sich nicht mit der Untreue des verschwundenen Ehegatten messen wollten. Von niemandem verabschiedeten sich die jungen Frauen. Kein Lebewohl, kein Kuss, keine Wiedersehensversprechen, keine guten Wünsche für die Reise im Herzen, sondern bar jeder Absolution begaben sie sich in Daikens Gefolge. Die Damen hüllten ihren Unmut in dunkelblaue Tücher, bedeckten ihre Furcht vor Wegelagerern und wilden Tieren mit den Farben der Nacht. Alles Zureden, die Herrin möge sich weniger verräterisch kleiden, wurde von ihr ausgeschlagen. Quälende Ungeduld hatte die Rastlose gepackt und nichts konnte sie mehr aufhalten.
Es sollte eine lange und beschwerliche Reise auf der Schattenseite der Tage sein und viel Sehnen wurde von den Freundinnen nach den Sonnenstrahlen gesandt, aber Daike verbat ihnen, bei Tageslicht zu wachen. Der Silbermond zeichnete ihr Gesicht bald mit eisiger Kälte und mit jeder Nacht, die Daike und ihre Begleiterinnen unterwegs waren., wurde sie schweigsamer. Die Frauen wurden von dem Leid ihrer Freundin in den Bann gezogen. Sie weinten heimlich, flüsterten manches Wort hinter vorgehaltener Hand und berieten einander, wie sie ihre Herrin zur Umkehr überreden könnten, denn die Stunden der durchwachten Nächte hingen bleiern auf ihren Leibern und beschwerten ihre Gemüter. Aber Daike schöpfte Mut aus dem fahlen Glanz der Nacht und Kraft aus den Worten des Greises. Die Verheißung des baldigen Wiedersehens mit ihrem Liebsten trug sie vor ihrer Seele wie einen Schild. Mit dieser geheimnisvollen Stärke vermochte sie, die Mädchen an sich zu fesseln und keines von ihnen erhob die Stimme gegen Daikens Irrsinn.
Wenn den Frauen im Morgengrauen die Füße vor Ermattung schmerzten, betteten sie sich auf ein Lager von Moos und Blättern, wenn ihnen dürstete, nahmen sie ein paar Schlucke aus einem Waldbach, wenn sie hungrig wurden, bedienten sie sich der Beeren, die saftig an Sträuchern wuchsen, und ruhten sich aus, bis der Tag vorüber war.
Das Mädchen, das ihre Gefährtinnen durch die nächtlichen Wälder führte, hatte bald ganz die Furcht vor den Tieren und den Geräuschen der Finsternis verloren, nur die Begleiterinnen erschraken und wimmerten ein um das andere Mal, wenn ein Fuchs bellte oder ein Wolf heulte, doch nie überrollte eine Gefahr die wandernden Frauen. Daike kümmerte sich nicht um die Ängste der Freundinnen. Sie war der Wahrheit um ihren geliebten Gatten auf der Spur und verschloss deshalb ihre Sinne vor dem Weh und Ach der anderen. Und vielmehr waren es die Waldbewohner, die das Gespann wandelnder Frauen scheuten und in die Tiefen der Wälder flohen. Die Bäume neigten ihre schützenden Wipfel, wenn Reiter oder Wanderer nahe Pfade passierten, und verbargen die Umherirrenden. Oft wurden die Frauen von rotschimmernden Alraunpflanzen in die falsche Richtung geleitet oder vom gelben Rund des Mondes, der im Waldbach badete, von ihrem Weg gelockt. Glühende Käferschwärme trieben die Mädchen tief in die Wälder und ließen sie dort allein, sodass es lange dauern sollte, bis sie wieder zurück zu ihrem Pfad fanden. Doch Daikes Augen und Gedanken blieben erfüllt vom Wunsch nach dem einen Leuchten.
Es war ein besonders düsterer Flecken unter dichten Bäumen, die das Mondlicht aussperrten und sogar den Nachttieren Schweigen geboten, an dem Daike plötzlich stehen blieb und auf einen Punkt im Dickicht starrte. Die Freundinnen sahen das Mädchen an und begriffen erst, als sie dessen reglosem Blick folgten, was die Aufmerksamkeit auf sich zog. Die junge Frau hob den Arm und deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle, an der ganz fein ein gelber Schein zu erkennen war. Die Gefährtinnen packten sich bei den Händen, denn ihre Angst war groß, doch Daike schritt unerschrocken auf den Lichtfleck zu.
Aus einem winzigen Fenster, behängt und verdunkelt von Spinnweben, schimmerte es verheißungsvoll in die Nacht und lockte die Frauen an. Das matte Licht stammte aus einer kleinen, unter einem Hügel hervorlugenden Hütte und erhellte die Umrisse eines steinernen Brunnens davor. Daike triumphierte und freute sich zum ersten Mal, seit ihr der Bursche Schlechtes über ihren Gemahl erzählt hatte. Auf ihrem lange Zeit traurig blassen Gesicht zeigte sich frische Hoffnung, als sie an die Tür klopfte. Das Klopfen wurde nicht erwidert, doch das Mädchen brannte darauf, zu erfahren, was es wissen wollte, und gewährte sich selbst und ihren Freundinnen Einlass.
Als die Frauen das Häuschen betraten, wurden sie vom gleißenden Licht in dem Raum gezwungen, die Augen, die sich an die Dunkelheit des Nachtwaldes gewöhnt hatten, zu bedecken. Sie fanden nichts außer einem Tisch. Es gab kein Bett, keinen Schrank, keinen Hocker, keine Stelle, an der man Wasser zum Kochen oder einen Braten zum Garen hätte bringen können. Auf dem Tisch aber stand eine Blumenvase und in ihr ein paar herrlich blühende Schlüsselblumen. Sie waren die Quelle des Lichts.
Daike klatschte vor Freude wie ein Kind in die Hände und entnahm der Vase eine der Blumen. Verraten, wofür sie diese benötigte, wollte sie nicht.
Mit einem flinken Satz verließ sie die kleine Stube und ihre Gefährtinnen machten, dass sie hinterdrein kamen.
Das tränennasse Gesicht der Wahrheit, überlegte Daike und wiegte die schillernde Blume nachdenklich in der Hand. Schließlich fiel ihr Blick auf den Brunnen vor der Hütte und sie wusste, was zu tun war.
Die junge Frau, begleitet von dem ängstlichen Gemurmel ihrer Freundinnen, trat dicht an den Brunnen heran und hielt die gelbleuchtende Schlüsselblume an die Kette des Brunneneimers. Kaum, dass die Blüte das rostige Eisenschloss berührt hatte, sprang es auf, und der hölzerne Eimer stürzte unter dem Rattern der Seilwinde in die Tiefe. Die Mädchen wichen vor Schreck einen Schritt zurück. Doch ihre Neugier war zu groß, um lange von dem steinernen Ring fernzubleiben. Mit vereinten Kräften zogen sie den schweren, mit Wasser angefüllten Bottich wieder hinauf. Mit dem Zittern, das die Mädchen durchfuhr, erwachte die Nacht zu Leben. Eine eisige Böe streifte die bleichen Gesichter der Staunenden; der Brunnen schien zu atmen. Sein Odem teilte die Wipfel der Bäume und lichtete den Waldflecken. Weiß und unwirtlich hockten die Hütte und die Wasserstelle am Hügel und die Mädchen betrachteten das Rund des hölzernen Eimers, in dem der Mond verhalten hin und her waberte. Für einen Moment stand Daike reglos da und spähte in das Glitzern der kleinen Wellen; dann verschaffte sie sich Platz und ihre Gefährtinnen sprangen zur Seite. Mit einer ehrerbietigen Armbewegung berührte sie die Wasseroberfläche mit der Schlüsselblume und sah zu, wie sich die Fratze des Mondes in einen Nebel verwandelte. Das Mondgesicht veränderte seine Gestalt und bald konnte Daike das jugendlich schöne Antlitz ihres geliebten Mannes darin erkennen.
Nur Daikes Begleiterinnen hörten das Rauschen der Kiefernkronen und das Tosen des Windes im Dickicht des Waldes. Ein Sturm erhob sich und silberne Fetzen von Fellen verdeckten den Mond. Das Rumoren war markerschütternd und Finsternis umfing die Frauen. Daiken aber war vertieft in den Anblick, den die Abgründe des Wassers ihr boten. Eine Stimme ertönte, die nicht aus dem Eimer, nicht aus dem Brunnen und nicht aus dem Wald zu kommen schien: Falsch hast du reden hören und falsch hast du geglaubt. Falsch hast du gesprochen und falsch hast du geliebt. Das Mädchen hörte mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen, was die Stimme weiter zu sagen hatte: Deine eigene Untreue an deinem Herzen soll bestraft werden.
Und das Stürmen setzte zu einem Grollen an, das wutschnaubend auf die Frauen herniederging, und Daike rief in die Nacht, denn sie wollte wissen: Wo ist er? Wo ist mein Liebster?
Er stand ein für dich und deinesgleichen. Nun ist Ruhe im Land eingekehrt und er ist auf dem Weg zu dir zurück, doch wird er dich nie mehr finden, und du nicht ihn, denn den Falschrednern hast du mehr geglaubt als seiner Treue ...
Blitze zuckten und weiße, nasse Fäden seilten sich vom Himmel ab. Von Daiken und ihren Freundinnen wurde jedes Lebenszeichen ausgewaschen.
Lange noch wütete das Unwetter und legte die Hütte und den Brunnen in Trümmer. An der Stelle, an der Daike zuletzt gestanden hatte, wuchsen mit den Jahren knorrig trockene Blumen mit mattgrünen Blättern und tückischen Stacheln. Sie trugen allesamt blaue Blüten, nur die mittlere besaß eine weiße.
Einer hat eine solche Blumengruppe auf einem Flecken mit Geröll entdeckt und nannte sie Zigeunerblumen, ein anderer hat sie am Rand eines Weges gefunden und sagte Wegwarten zu ihnen, wieder ein anderer meinte, diese Blumen in der Nacht leuchten gesehen zu haben und nannte sie Wegleuchten, ein Vierter hat sie am Waldrand erblickt und erklärte sie als Disteln, aber ein jeder von ihnen versicherte, unter den spitzen Dornen und der weißen Strohblüte ruhe das Mädchen, das sich einst auf die Suche nach der Wahrheit gemacht hatte und taub für die Stimme des Herzens gewesen war. Und ihr zur Seite stünden mit violett schimmernden Häuptern jene armen Geschöpfe, die es nicht vermocht hatten, der Leidenden die Vernunft zu lehren.
Eine weiße und ein paar blaue, so kann man sie stehen sehen. Sie nicken einladend mit ihren Blütenköpfen und der Wind macht sie wispern.
Und wenn die Dunkelheit die Erde zur Guten Nacht küsst, der Sommerwind sich eine Pause gönnt und die Wesen des Tages sich in warme Decken aus Federn von Gänsen und Hühnern betten, kann der, dessen Herz aufrichtig ist und der falschen Zeugnissen nicht ungefragt vertraut, dem leisen Rascheln eines Saumes lauschen, der den feuchten Boden eines vielbetretenen Pfades streichelt, und das dumpfe Platschen suchender Füße vernehmen.
15. Nov. 2010 - Ivonne Hübner
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