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Pfeilgenau von Rainer Innreiter
Andrä Martyna © http://www.andrae-martyna.de/ Helmut lief seit drei oder vier Kilometern alleine und genoss es. Marathonläufe waren für einen Einzelkämpfer wie ihn die ideale Sportart. Sein Körper und sein Geist gegen den Rest der Welt. Daran war er nicht nur gewöhnt, sondern regelrecht darauf spezialisiert.
Er warf einen Blick auf die Armbanduhr und fand, dass er gut in der Zeit lag. Sollte sich die Spitzengruppe vor ihm ruhig verausgaben. Er hielt sein Tempo und würde sie ein paar Kilometer vor dem Ziel mit der Präzision einer Maschine abfangen und schließlich weit hinter sich lassen.
Helmut lächelte zufrieden in sich hinein, wenngleich der Siegpreis mit einem angeblich üppigen Essen »zünftger Art« was immer das auch bedeuten mochte; vielleicht, dass die Bewohner dieses Kaffs von der Erfindung des Essbestecks noch nichts gehört hatten und noch immer mit den Fingern aßen und hundert Euro eher bescheiden dotiert war. Genau betrachtet ging es ihm nie um die Preise, sondern einzig und allein um das Gefühl des Siegens, den Triumph über seine schwächlichen Mitstreiter, die Bestätigung dafür, besser zu sein als die anderen.
Bereits in der Schule war ihm klar geworden, wie er seine Ziele erreichen konnte. »Streber« war für ihn nie ein Schimpfwort, sondern ein Synonym für »Gewinner« gewesen.
Und letztendlich war es das, was ein angenehmes Leben ausmachte: Zu den Gewinnern zu gehören, nicht zu den Verlierern.
Plötzlich durchzuckte ein stechender Schmerz wie unzählige in sein Fleisch gebohrte Nadeln die rechte Ferse. Helmut biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf die Strecke. Kies knirschte unter seinen brandneuen Laufschuhen. Nach ein paar Minuten ließ der Schmerz nach und verebbte schließlich zur Gänze. Vor ihm wies ein auf einem Telefonmast angebrachter Pfeil aus Pappe Richtung Wald. Automatisch befolgte Helmut die Anweisung und bog ab.
Er versuchte, auf dem schmalen Pfad den einen oder anderen Schuhabdruck zu erkennen. Doch die drückende Hitze der letzten Tage hatte den Boden völlig ausgetrocknet. Glücklicherweise herrschten an diesem Sonntagnachmittag mildere Temperaturen. So perfekt Helmut die ihm unterstellte Computerabteilung einer großen Bank leitete, so anfällig war er beim Laufen für äußere Umstände. Mit Schaudern erinnerte er sich an seinen ersten Marathon zurück, als er nach wenigen Kilometern in der sengenden Hitze kollabiert war und sich unter dem hämischen Gelächter der Zuschauer auf das Straßenpflaster übergeben hatte. Natürlich waren das allesamt Idioten gewesen und
Der langsam, aber stetig schmaler zulaufende Pfad riss Helmut aus den Gedanken. Beunruhigenderweise führte ihn der Weg immer tiefer in den Wald hinein.
Er stutzte, verringerte das Tempo und blieb schließlich stehen. Sein ruhiger, gleichmäßiger Atem erfüllte als einziges Geräusch den Wald. Erst jetzt registrierte er eine weitere Merkwürdigkeit: Vor ihm mussten vierzig bis fünfzig Läufer den Weg passiert haben. Aber nirgends hatte er zertrampelte Pflanzen bemerkt.
Entweder handelte es sich bei den vor ihm platzierten Teilnehmern um besonders pingelige Naturschützer oder er war schlichtweg falsch abgebogen.
»Nein, nicht ich bin falsch abgebogen«, korrigierte er sich in Gedanken, »sondern man hat mich absichtlich in die Irre geleitet.«
Der Pfeil aus Pappe hatte wie das Bastelwerk eines Kindes gewirkt: Ungelenk ausgeschnitten und ein tiefer Knick in der Mitte.
Helmut spürte, wie ihm die Zornesröte in die Wangen schoss. Ein toller Scherz war das, ehrlich! Ob es sich um ein abgekartetes Spiel handelte und er als einziger Teilnehmer angeschmiert worden war? Oder hatte einer der Läufer den Pappendeckel-Pfeil und ein paar Streifen Klebeband unter dem Trikot versteckt und auf eigene Faust dem Favoriten einen Umweg von gut und gerne einer Viertelstunde beschert?
Wütend knallte Helmut die Faust gegen eine alte Weißbirke. Bei dem Schlag lösten sich weiße Rindenstreifen ab und segelten anmutig zu Boden. Angestrengt überlegte er seine weitere Vorgangsweise. Den ganzen Weg bis zum Telefonmast zurücklaufen, und dann weiter, bis er den richtigen Pfeil fand? Das Rennen selbst konnte er ohnehin abschreiben. Mit mindestens einer Viertelstunde Rückstand auf die Spitzengruppe würde er höchstens im besseren Mittelfeld landen.
Unwillkürlich ballten sich seine Hände zu Fäusten. Er bekäme schon heraus, welches kranke Individuum hinter diesem dämlichen Scherz steckte. Und dann würde er dem Verantwortlichen seinen verdammten Pfeil aus Pappe in die Fresse stopfen! Er war doch keine zweihundert Kilometer in ein bayerisches Kaff gefahren, um sich von einem Bauerntrottel an der Nase herumführen zu lassen.
Zum ersten Mal seit Tagen verzogen sich seine Lippen zu einem aufrichtigen Lächeln. Er freute sich jetzt schon darauf, diesen Scherzkeks zur Sau zu machen.
Reflexartig zuckte er bei dem surrenden Geräusch zusammen, das von einem leisen »Plopp« abgeschlossen wurde. Er brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, dass ihn gerade ein Pfeil nur haarscharf verfehlt und sich anstatt in seinen Kopf in die Weißbirke gebohrt hatte. Fassungslos starrte er das Geschoss an. Die Federn zitterten noch nach. Auch Helmuts Beine begannen, im wiegenden Takt der Pfeilfedern zu zittern.
Wenige Schocksekunden später ergriff sein Überlebensinstinkt das Ruder und er rannte in die Gegenrichtung los. Keinen Moment zu früh, wie er panisch feststellte, als der Lufthauch eines weiteren Pfeils seine Nackenhaare mit morbider Zärtlichkeit streichelte.
Helmut stellte sich nicht die Frage, ob auch dies nur ein weiterer Teil des Scherzes auf seine Kosten war, oder wieso er überhaupt unter Beschuss genommen wurde. Jener Teil seines Verstandes, der nicht in Angst oder blanke Panik verfallen war, wusste um die Gefährlichkeit solcher Fragen. Helmut hatte viele Menschen an weitaus Harmloserem zerbrechen sehen: schlechte Zensuren, Scheidungen, finanzielle Engpässe.
Er hatte nie verstanden, wieso die meisten Leute auf drohende Gefahren mit Apathie reagierten, und gerade in Situationen wie dieser trennte sich die gesellschaftliche Spreu vom Weizen. Es gab Zeiten des besonnenen Reagierens, und es gab Zeiten, in denen der Instinkt die Oberhand übernehmen musste.
Ein dritter Pfeil schoss an ihm vorbei, verfehlte ihn aber um gut einen Meter und zersplitterte an einem Stein. Dies ermutigte Helmut zu einem Blick über die Schulter.
Nur ganz undeutlich konnte er einen Schatten zwischen den Bäumen erkennen. Der Bogenschütze hatte sich wohl auf seine Treffsicherheit verlassen. Helmut blickte wieder nach vorne und konnte bereits die Lichtung ausmachen, in die er wenige Minuten zuvor als ganz normaler Marathonläufer eingebogen war.
Fast rechnete er damit, noch vor dem Erreichen der Lichtung von einem Geschoss niedergestreckt zu werden. Die Vorstellung eines Pfeils, der sich durch seine Gedärme bohrte, verlieh ihm einen zusätzlichen Energieschub, und obwohl er kein besonders guter Sprinter war, legte er die restlichen Meter in wenigen Sekunden zurück.
Wie ein gigantisches Kreuz ragte der Telefonmast vor ihm auf. Der verdammte Pfeil klebte immer noch daran.
Helmut stieß die Luft aus den Lungen, atmete tief ein, schirmte die Augen mit der Hand ab und blickte zurück. Der Bogenschütze hatte sich nun also doch an die Verfolgung gemacht.
Helmut sprintete in der Hoffnung los, der Mann würde von ihm ablassen, wenn er merkte, dass sein vermeintliches Opfer durchtrainiert und bei besten Kräften war.
Aber schon nach wenigen Minuten stellte sich sein Plan als doppelter Fehlschlag heraus: Der Verfolger blieb ihm auf den Fersen, während Helmut selbst den Kräfteverschleiß schmerzlich spürte. Und schlimmer noch: Ausgerechnet jetzt erlitt er einen Wadenkrampf.
Helmut stöhnte auf und humpelte tapfer weiter. Er warf einen Blick zurück und hätte am liebsten vor Erleichterung geweint, als er sah, dass der Bogenschütze die Verfolgung aufgegeben hatte und mindestens dreißig Meter hinter ihm zurück lag.
Früher oder später müssten ein paar Nachzügler aufkreuzen. Oder einer der jungen Männer, die die Läufer mit Getränken versorgten. Helmut biss die Zähne zusammen und humpelte dahin. Wieder wagte er einen Blick zurück, und immer noch verharrte der Bogenschütze auf der Stelle.
So seltsam dessen Verhalten anmuten mochte, es konnte ihm nur recht sein. Wen kümmerte es, warum der Wahnsinnige ihn nicht weiter verfolgte?
Vielleicht war er des makabren Spieles überdrüssig geworden.
Oder, schlug sein Verstand vor, er suchte die Herausforderung, und ein hinkendes Opfer auf kurze Distanz zu erlegen, gab ihm nicht den nötigen Kick. Wenn er ihm nun einfach nur einen Vorsprung geben wollte, um ihn mit einem Distanzschuss
Entsetzt drehte sich Helmut trotz der Schmerzen um. Gerade noch rechtzeitig, um den Pfeil zu sehen, ehe er sich in den Oberschenkel bohrte.
Heißer Schmerz glühte auf und Helmut stieß einen gellenden Schrei aus, der seine Qualen jedoch nicht zu lindern vermochte. Dann knickte sein Bein kraftlos weg und Helmut fiel wie vom sprichwörtlichen Blitz getroffen zu Boden.
Er versuchte aufzustehen, aber der Schmerz und die Erschöpfung waren überwältigend. Nur mit viel Mühe und Überwindung vermochte er zu knien. Die grau-weißen Kiessteinchen unter seinem rechten Knie verfärbten sich rot.
Helmut riss sich von dem verstörenden Anblick los und blickte hoch.
Sein Peiniger spannte den Bogen erneut.
»Nein, bitte nicht«, keuchte Helmut.
Erbarmungslos bohrte sich der Pfeilschaft in seine Brust und riss ihn zu Boden. Eine Weile starrte Helmut atemlos die trägen Wolken an, die bald übers blutrot dämmernde Firmament ziehen würden.
Eine Art heitere Gelassenheit erfasste ihn plötzlich und er dachte: So also fühlt es sich an, wenn man verliert. Ein wahrhaft schmerzliches Gefühl, an das er sich jedoch nicht würde gewöhnen müssen.
Denn schon füllte das grinsende Gesicht seines Mörders das Blickfeld aus.
Horst wusste, dass er gewinnen konnte. Er hatte in seinem ganzen bisherigen Leben noch nie etwas gewonnen und malte sich aus, was es für ein erhebendes Gefühl sein würde, als Erster durchs Ziel zu laufen. Seine Eltern würden vor Stolz platzen, und vielleicht hätte er sogar reelle Chancen, bei seiner Nachbarin zu landen.
An der Wegegabelung hielt er an und stutzte. Wieso wies das Schild mit dem Pfeil nach rechts, anstatt nach links? Über den Pfeil stand in kindlich anmutender Schrift »Strecke geändert! Zieleinlauf in Unterberg!« gekrakelt.
Kurz überlegte Horst, ob er auf die Gruppe hinter ihm warten sollte.
Aber damit würde er seinen ganzen Vorsprung einbüßen, und am Ende gewann dann vielleicht dieser hochnäsige Helmut irgendwas nur deshalb, weil er, Horst, dumm herumgestanden hatte.
Entschlossen folgte er dem Pfeil.
07. Nov. 2010 - Rainer Innreiter
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