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Die Dame ohne Unterleib von Frank Böhmert
Andrä Martyna © http://www.andrae-martyna.de/ Die Dame ohne Unterleib findet immer einen Kavalier, der ihr bei den Stufen behilflich ist. Die messingnen Speichenräder, das Rohrgeflecht erheben sie über jeden einzelnen von uns. Heute ruhen meine Hände auf den Korkgriffen, ich befördere sie durch die Gänge der Präparatesammlung. Den Pförtner hat sie beim Vornamen genannt, ohne vertraulich zu sein.
Vor den Beinen bremst mich ein Winken ihrer behandschuhten Hand. Die Dame ohne Unterleib trägt Weiß, wo ich Schwarz vermutet hätte oder ein dunkles Blau, vom Hut bis zur Decke über ihren nicht vorhandenen Knien. Auf der Decke ein Blumenbukett.
Die Beine stehen in einer Vitrine sauber aufgereiht, Beine von Mumien, von Skeletten, von Männern und Frauen mit Krankheiten, die, so hoffe ich, längst ausgestorben sind.
»In Schanghai«, sagt die Dame und weist auf das einzige vorhandene Paar, »habe ich Anderes gesehen, Schrecklicheres und Schöneres. Dort wurden die Missgeburten in Serienfabrikation erzeugt, indem man die Glieder armer Kinder in Bronzegestellen deformierte. Von dort aus wurden die Kaufleute der Randzonen mit Zwittern, mit Schlangenmenschen versorgt, Schaustücke für die Jahrmärkte der Welt. Dort verkaufte auch ich meine Beine, in einer mit Bäumen bestandenen Vogelhandlung.«
»Doch waren meine Beine schön«, sagt sie, als ich nicht weiß, was ich entgegnen soll. Sie hält mir ihre Zigarettenspitze entgegen. Ich bestücke die Spitze und gebe ihr Feuer. »Ja, schön waren sie.« Sie winkt, wir setzen unseren Rundgang fort. »Ein Verehrer bot mir viel Geld für sie, ich konnte und wollte nicht widerstehen. Es war nicht direkt eine Notlage«, sagt sie. Ihr Blick bleibt kaum hängen an den zyklopischen Kinderköpfen, den Händen. »Aber zum Hochstapeln habe ich nie getaugt, ich war schön und klug, aber nie gerissen. Und ich hatte meine Beine so satt. Sie hatten mir nie viel Glück gebracht, wenn Sie wissen, was ich meine. Oh, einmal war ich Tänzerin in New York, vor dem Krieg, in Minskys Burlesken. Man sagte, ich sei beinahe so gut wie Miss Lillian Murray. Aber Miss Murray, sie erfreute sich an ihren Verehrern. Ich nicht. Ich hatte sie alle schon gehabt, diese Reisenden, ich kannte sie aus Kairo. Schattenspiele im milden Licht der Kammern, hinter den rumpelnden Zwischenwänden der Friseurläden. Eine Kulisse für die Spiele, ein von Fotos übersätes Blau. Abbildungen von Boxern, von Frauen im Badekostüm und, oh ja, auch dort schon: von medizinischen Absonderlichkeiten.«
Sie lacht, ich höre es an ihrem Atem.
»Schon immer«, sagt sie, »haben die Herren für meine Beine gezahlt. Warum also sollte ich sie nicht ganz weggeben, ich bekam mehr als Geld dafür, ich behielt den Rest. Sie schweigen, junger Mann. Habe ich Sie schockiert? Das täte mir leid. Wir sind gleich da.«
Vor einem weiblichen Torso in einem Aquarium bremst sie mich, hält mir ihr Bukett entgegen, nickt. Ich lege das Bukett vor den hölzernen Sockel.
»Sie meinen«, frage ich, »alle diese Präparate aus Schanghai von Vogelhändlern? Und dies diese hier Sie kennen sich?«
»Ach, nein«, lacht sie. »Das hier«, sagt sie, »das ist sentimental. Der Vogelhändler verliebte sich in mich, sein Chirurg hatte ihm von mir erzählt. Und so machte er mir einen Antrag. Lass uns auch noch deine Arme nach Übersee verkaufen, rief er. Und dann bleib bei mir, als meine fleischgewordene Venus! Meine Statue! Oh, er liebte mich. Aber ich sah mich schon auf einer Säule ruhen, mit bloßem Busen, sah mich zwischen Volieren und Käfigen und Palästen aus Draht, und so lehnte und reiste ich ab. Das hier ist meine Möglichkeit, so hätte ich werden können. Deshalb die Blumen. Ich komme oft hierher.«
Wir kehren zum Eingang zurück, ich und die Dame ohne Unterleib. Draußen, unter der Treppe, legt sie ihre Hand auf den Mund. »Ach, die Blumen«, ruft sie, »wie soll ich denn jetzt nach Hause kommen? Ich war wieder viel zu großzügig. Hätten Sie vielleicht? Nur für ein Taxi?«
Ich habe.
An der Ecke trennen wir uns, nicken nur.
Ich hätte sie kennenlernen sollen, bevor ich geboren war.
Nie hätten wir einander wehtun müssen.
13. Okt. 2010 - Frank Böhmert
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