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Startseite > Kurzgeschichten > Frank Böhmert > Science Fiction > Die Geschichte vom Frauenmörder und den Playboyheften

Die Geschichte vom Frauenmörder und den Playboyheften
von Frank Böhmert

Andrä Martyna Andrä Martyna
© http://www.andrae-martyna.de/
In einer Kneipe hätte Kerner seine Geschichte nie erzählt, so viel steht fest. In einer Kneipe wäre von ihr nichts geblieben als ein böser Witz, eine Zote mehr an einem beliebigen Tresen.
Aber dies war ein Herrenabend auf einer Dachterrasse im spätsommerlichen Berlin; der Widerschein der wenigen noch erleuchteten Fenster tanzte in den letzten Gläsern Wein, und so, am Ende von allem, fiel den Freunden auf, dass Kerner sich gar nicht mehr beteiligt hatte. Ob er etwa schon müde sei, fragten die Freunde, und sie hätten doch gern seine Meinung gewusst.
»Ja, meine Meinung«, sagte Kerner und verschränkte die Hände hinterm Kopf, »meine Meinung.« Sie konnten sein Gesicht in dem Dreiviertelschatten nicht sehen, aber wenn seine Stimme schon nicht müde klang, so doch wenigstens tiefer. Seine erhobenen Ellenbogen schienen den Freunden die Spitzen eines gewaltigen Kragens zu sein, als ob er sich in den Umhang eines Magiers gehüllt hätte, eines Orakels. Und genau so redete er dann auch.
»Wird alles schlimmer? War unsere Zeit sauberer, bloß weil wir mit feuchten Händen den Playboy durchgeblättert haben, statt uns Pornodateien aus dem Internet herunterzuladen? Das ist es doch ungefähr, was ihr sagt, nicht? – Doch, doch. Lass das mal so stehen … Also ich sage: Dass uns alles schlimmer vorkommt, liegt daran, dass wir schlimmer geworden sind. Nicht die Zeit, wir haben die Unschuld verloren. Es liegt alles im Auge des Betrachters. Mein erster Playboy zum Beispiel war eine Offenbarung. Heute kommen mir die Dinger billig vor und verklemmt. Aber mit zwölf, in der Ferienwohnung meines Onkels, da war ich noch schuldlos, und ich blätterte durch die Fotos, und vor mir wogte ein Meer von Frauen, von Leibern. Eine Offenbarung! Eine Vision vom Schlaraffenland!
Lacht nicht, ich meine das so. Ich wusste nicht, wie sich ein Busen anfühlt oder wonach er duftet, und so schaute ich mir die Fotos an und stellte mir vor: wie Marshmallows! Wie Marzipan! Wie Mandelpudding oder nein: wie frisch gekneteter Kuchenteig! Ja, diese sexuellen Visionen eines Zwölfjährigen waren eindeutig, lecker und süß.«
Kerner hatte sich vorgebeugt bei den letzten Sätzen und begann nun, sich ein weiteres Pfeifchen zu füllen. Die Freunde, die allesamt Wein bevorzugten, sahen ihm schweigend dabei zu. Endlich lehnte er sich zurück, atmete aus, und während sich die harzige Wolke in ein Nichts auflöste, fuhr er fort:
»Dann kam die Schuld. Und sie kam von draußen, von den Großen Alten, den Eltern. Flecken im Bettlaken, so lernte ich, waren schlimmer als Spuckereste auf dem Kopfkissen – warum? Und so weiter. Ich lernte, und als ich mir als Jugendlicher meine ersten Pornos kaufte, hatte ich schon genug gelernt, um mich dafür schämen zu können. Danke, Papa! Danke, Mama!«
Der Freund mit dem computerbegeisterten Sohn brummte, aber Kerner setzte seine Zeitreise fort.
»Jahre später verkaufte ich diese sogenannten Herrenmagazine selbst. Ihr wisst, bevor ich das Antiquariat aufmachte, hatte ich einen Zeitungsladen. Und noch davor hatte ich einen Kiosk. An der linken Außenwand hingen immer die ganzen Nackedeis. Links stand nämlich der Tisch für die Säufer – ich nannte sie immer: meine Frührentner. Wenn die da ihr Bier tranken und rumpolterten, hatten die Kinder kaum eine Gelegenheit, sich die Titelmädchen in Ruhe anzusehen.«
Kerner widerspräche sich selbst, riefen die Freunde, da hätten sie ihn – gewissermaßen bei den Eiern, fügte einer hinzu.
»Psch …«, machte Kerner, wie er es schon als Junge bei seinen Cousinen getan hatte, »jetzt kommt nämlich eine Geschichte … wenn ihr still seid. Die Geschichte vom Frauenmörder und den Playboyheften …«
Und die Freunde verhielten sich nicht anders als damals die Cousinen: Sie ermahnten sich gegenseitig zur Ruhe. Und der Ängstlichste unter ihnen – vielleicht auch nur der mit dem wärmsten Herzen – flehte: Oh nein, keine Gruselgeschichte jetzt, bitte, er müsse nachher noch durch den Park mit seinem Hund.
»Ach ja«, griff Kerner die Worte auf, »ein Park kommt auch vor in der Geschichte – und sie ist wirklich passiert.«
Der Freund mit dem Hund stöhnte – und blieb sitzen.
»Man bekommt seine Zeitungen und Zeitschriften immer gebündelt vom Großhändler, einen dicken Stapel, und an jenem Morgen hatte ich die neue Lieferung gerade so weit abgearbeitet, dass ich zu den Herrenmagazinen kam. Ich weiß noch genau, dass ich die Hefte kurz durchfluppte und bei einem der Titelmädchen hängenblieb. Ja, dachte ich, so sieht wohl Punkie aus unter ihren zerfetzten Klamotten … sehr nett. Punkie war eine Streunerin; sie hing seit ein paar Wochen beim Park herum und schnorrte meine Kundschaft an.
Ja, damit ging das los. Dass ich mir dieses Titelmädchen ansah und mir vorstellte, mit Punkie zu schlafen.
Dann kam der Doktor von der anderen Straßenseite. ›Mal sehen, ob wir heute in der Zeitung stehen‹, sagte er.
›Warum? Ist was passiert?‹, fragte ich.
›Polizei‹, sagte der Doktor, ›ein richtiges Überfallkommando. Sind heute Nacht hier hochgestürmt in den Park, direkt hinter Ihrem Kiosk, ein gutes Dutzend Leute!‹
Kaum war er weg, forstete ich die Boulevardpresse durch. Nichts. Der Park und die Kreuzung blieben unerwähnt. Aber das machte mich natürlich umso neugieriger. Kaum waren die Frührentner alle eingetrudelt, stellte ich mich dazu: ›Heute Nacht ist die Polizei im Park gewesen!‹
›Hab ich schon beim Bäcker von gehört‹, sagt einer. ›Mindestens zwanzig Mann, alle mit Stablampen und Maschinenpistolen. Wie ein Spuk!‹
›Es steht nichts in der Zeitung‹, heize ich ihn an.
Sagt ein anderer: ›Genau wie letzten Sommer …‹ Und alle sind still. Oh ja. Wie letzten Sommer. Völlig nackt, nur einen Anorak über dem Kopf festgezurrt, so hatten ein paar Hundebesitzer die Frau im Park gefunden; ihre Kleidungsstücke waren über eine Strecke von zweihundert Metern verteilt. – Wisst ihr, was das heißt? Das heißt, der oder die Täter hatten sich einen Spaß daraus gemacht, die Frau immer wieder entkommen zu lassen, natürlich nur zum Schein …
Na ja. Und irgendwo hatte der Frührentner recht mit seinem: ›Genau wie letzten Sommer …‹ Damals hatte nämlich auch nichts in der Zeitung gestanden.«
Kerner solle aufhören, protestierten die Freunde, so etwas würde sich die Presse doch nicht entgehen lassen!
»Hey, der Mann mit dem Kiosk war ich, ja? Ich hatte alle Zeitungen, die es nur gab, und glaubt mir, ich habe nichts gefunden, nicht eine Zeile. Vielleicht hatte es sich ja um so einen Serienmörder gehandelt, der immer nur an Dienstagen und bei Vollmond umging, und man hielt es deshalb aus der Presse raus. Das vermutete jedenfalls einer meiner Frührentner, weil der vorhergehende Tag ein Dienstag gewesen war – und vielleicht hatte er vorm Einschlafen auch einen Vollmond gesehen, wer weiß?
Mir war das alles zu vage. Ein Überfallkommando, das jeden vollmondigen Dienstag um Mitternacht den Park stürmt? Absurd! Aber – irgendwie war ich auch beunruhigt. Immer, wenn ich wegen eines Verkaufes zurück in den Kiosk musste, sah ich den Stapel mit den nackten Titelmädchen und wurde nervöser. ›Such doch mal einer den Professor‹, rief ich schließlich raus, ›der muss doch was mitgekriegt haben, der pennt doch da!‹
Keiner hatte Lust, den Professor zu suchen, dabei war er für einen Penner wirklich angenehm. Belesen, sauber – nur sein Vollbart und sein Alkoholkonsum waren standesgemäß. Er schlief sogar in einem Zelt, so gewitzt war er, auf der anderen Seite der Parkmauer, ganz hinten im Gebüsch versteckt, damit es ihm die Jugendbanden nicht kaputtmachten.
Na ja. Ich stehe also draußen am Biertisch, und als trotz einer Runde auf Kosten des Hauses keiner den Professor suchen will, dreh’ ich mich um und will gerade wieder in den Kiosk, da fällt mein Blick auf die linke Außenwand, auf die Männermagazine vom letzten Monat, und ich denke, ach, die muss ich noch austauschen … und da fällt mir Punkie wieder ein, und ich krieg’ eine Gänsehaut und dreh’ mich zu meinen Frührentnern um und frage: ›Hat irgendwer von euch heut schon Punkie gesehen?‹
Und natürlich hatte keiner sie gesehen.«
Kerner griff wieder nach seinen Rauchutensilien, aber die Freunde zogen sie rasch aus seiner Reichweite.
Kerner rächte sich: »Die nächste Stunde war grausam. Mittags war am Kiosk immer viel los. Die Schulkinder, wisst ihr. Ich verkaufe also die Süßigkeiten, die Comics, und immer wieder fällt mein Blick auf diesen Stapel. Wenn ich bloß selbst zum Professor könnte! Sobald ein bisschen weniger los ist, versprach ich mir. Und dann kamen die Jungs von der Baustelle schräg gegenüber ihr Pausenbier trinken.
›Beim Bäcker heute morgen war eine, die hat Schreie gehört aus dem Park, und dann kamen die Bullen mit Blaulicht‹, half einer weiter.
›Was für Schreie‹, frag’ ich.
›Irgend ‘ne Olle‹, antwortet er. Und ich sitz’ weiter im Kiosk fest! Stellt euch das vor: ein Überfallkommando letzte Nacht, ein Frauenmord letzten Sommer, eine verschwundene Streunerin, das Schreien einer Frau … Und zwanzig Meter weiter sitzt wohl der Professor in der Sonne, der Mann, der alles weiß, und ich kann nicht hin, weil ich Zigaretten und Schokoriegel zu verkaufen habe!«
Die Freunde stöhnten. Kerner nutzte ihre Erstarrung und griff nach seiner Dose. Er lachte. »Schlaft mir bloß nicht ein«, sagte er und begann mit seinem Rauchritual. »Ja, der Professor. Zum Teufel, denke ich irgendwann; was soll’s, wenn mir ein paar Bier oder ‘ne Zeitung geklaut werden, ich halt’ das hier nicht mehr aus. Zieh’ die Scheibe runter, geh’ raus, schließ’ ab – was ich halt immer mache, wenn ich auf Toilette muss. Aber diesmal gehe ich am Pissoir vorbei.
Der Professor sitzt auf einer Bank, schmökert im Halbschatten. Ich setze mich neben ihn. Männer spielen Fußball, Mütter sonnen sich, unter den Bäumen qualmt ein Grill. ›Gestern Nacht waren die Bullen hier‹, sage ich.
›Ja?‹
›Ja. Eine Frau soll ermordet worden sein.‹
›Eine Frau? Ermordet?‹
Na ja, so ging das eine Weile hin und her. Schließlich wurde ich sauer: ›Ja, was! Haben Sie nun was mitgekriegt oder nicht!‹
›Na klar hab ich was mitgekriegt!‹, brüllt der Professor plötzlich los. ›Das kriegt man schon mit, wenn plötzlich die Polizei kommt und das Zelt umstellt! So was habe ich noch nie erlebt! Eben noch im schönsten Getümmel, und plötzlich werden die Personalien aufgenommen!‹«
Wie?, schrecken die Freunde hoch, was?
»Die hatten da drin bloß gebumst, Mensch!«, rief Kerner. »Punkie und der Professor! Das war alles, was passiert ist! Ein Pärchen in einem Park! – Alles Schlimme, was passiert ist, ist in den Köpfen passiert«, fügte er hinzu.
Eine Scheißgeschichte, sagten die Freunde, mit einer Scheißmoral.
»Eine wahre Geschichte«, sagte Kerner. »Der Junge mit den Marshmallow-Visionen, der Mann mit den Dich-nehm-ich-Träumen, das Heft mit den Nackedeis. Das ist die Geschichte. Was ihr daraus macht, ist eure Sache. Aber denkt daran: Vielleicht sind es nicht die Zeiten, die schlimmer geworden sind. Sondern wir, die wir uns durch die Zeiten bewegen.«
Sprach’s und lehnte sich zurück und schickte eine weitere Wolke über ihre Köpfe hinweg, und seine erhobenen Ellenbogen schienen den Freunden die Spitzen eines gewaltigen Kragens zu sein – als hätte er sich in den Umhang eines Magiers gehüllt, eines Orakels. Und genau so schwieg er dann auch.

28. Nov. 2010 - Frank Böhmert

Bereits veröffentlicht in:

EIN ABEND BEIM CHINESEN
F. Böhmert
Roman - SF-Geschichten - p.machinery - Dez. 2009

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