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Die verschwundene Nachtigall von Fabienne Siegmund
Peter Wall © http://www.picturewall.eu Es regnete, als ich durch das geöffnete Elefantentor in den Zoo trat. Mein Trenchcoat und mein Hut waren bereits völlig durchnässt und ich hätte mich gern in einem Café verkrochen. Aber ich ging in den Zoo, um mich dort in meiner Eigenschaft als Privatdetektiv mit einer Klientin am Pandagehege zu treffen.
Übrigens, David Schreiber ist mein Name. Eins will ich gleich klarstellen zu mir kommen keine verbitterten Frauen, die herausfinden wollen, ob ihr Mann untreu ist oder dergleichen. Zu mir kommen Menschen, in deren Leben etwas wirklich ungewöhnlich ist. Ich hatte schon mit scheinbaren Geistern und anderen Erscheinungen zu tun, die sich am Ende als harmlos und logischen Ursprungs erwiesen. So erwartete ich auch an diesem Tag im Berliner Zoo nichts anderes, als ich auf jene junge Dame traf, deren Stimme am Telefon wie ein Lied geklungen hatte. Sie aber schaffte es, mich zu überraschen.
Sie stand unter einem großen geblümten Schirm. Li Lung, so stellte sie sich vor. Lange dunkle Haare umrahmten ein schmales Gesicht mit mandelförmigen schwarzen Augen. David Schreiber, stellte ich mich meinerseits vor. Sie hielt den Schirm über mich.
Was kann ich für Sie tun?, fragte ich, nachdem wir eine Weile auf den Panda gestarrt hatten, der hinter den Scheiben seines Geheges saß und Bambus vertilgte.
Ich möchte, dass Sie einen bestimmten Vogel für mich suchen, sagte Li Lung und mein Blick verfing sich wie in einem Spinnennetz in ihrem. Ihre Augen wirkten schrecklich leer. Als wäre in ihr nichts, das sie widerspiegeln könnten.
Ich soll einen Vogel für Sie finden?, hakte ich verwundert nach.
Sie nickte. Eine Nachtigall. Sie ist mir
, sie zögerte,
abhandengekommen. Wieder entstand ein kurzes Schweigen. Sie ist mir sehr wichtig. Man könnte sogar sagen, mein Leben hängt davon ab, Herr Schreiber.
Fragend sah ich sie an. Ihr Leben?
Sie nickte. Sie müssen wissen, dass ich diese Nachtigall seit dem Tag meiner Geburt besitze.
Ich musterte sie, schätzte ihr Alter auf knapp dreißig Jahre und entschied, dass keine Nachtigall so alt werden konnte. Aber Li Lung fuhr fort: Ich habe sie immer bei mir getragen. In einem kleinen Käfig. Es ist in meiner Familie so üblich. Ein jedes Mitglied hat einen Sinnvogel, den es bei sich trägt. Bei mir war es eine Nachtigall. Wohl, weil ich Lieder mag.
Und diese Nachtigall ist nun weg?
Sie nickte.
Ist sie weggeflogen?
Kopfschütteln und ich wartete auf eine Erklärung. Sie folgte einige Augenblicke später.
Die Vögel, die meine Familie mit sich trägt, fliegen nicht fort. Wenn sie einmal den Käfig verlassen, kommen sie schnell wieder. Sie gehören dorthin. Nur wir selbst können sie wirklich fortgeben, indem wir sie verschenken. Wir suchen dafür einen bestimmten Menschen aus. Nicht immer liegen wir damit richtig, und wenn wir den Falschen gewählt haben, sterben die Vögel oft. Und dann sterben auch wir. Aber wenn es die richtige Person ist, kann der Vogel frei fliegen.
Also haben Sie Ihre Nachtigall der falschen Person geschenkt?, schlussfolgerte ich, aber mein Gegenüber schüttelte abermals den Kopf. Ich wüsste nicht, wem ich sie hätte schenken sollen. Nein, Herr Schreiber, meine Nachtigall wurde gestohlen. Und deshalb möchte ich, dass Sie sie finden. Weil ich ohne sie sterben muss.
Haben Sie eine Vermutung, wer Ihre Nachtigall gestohlen haben könnte?
Ich denke, diese Person hat auch das Rotkehlchen meiner Schwester Sa genommen. Es ist ebenfalls verschwunden. Mitsamt Käfig, wie meine Nachtigall.
Sie sah mich mit ihren schwarzen Augen an. Traurigkeit lag in ihnen, auch wenn sie mir immer noch leerer vorkamen als alle Augen, die ich zuvor gesehen hatte. Nehmen Sie den Auftrag an?, fragte sie und ich nickte, obwohl ich keinerlei Idee hatte, wo ich mit der Suche beginnen sollte. Aber ich war Detektiv, und wie alle Männer meines Schlages hatte ich eine Schwäche für verzweifelte schöne Frauen.
Wie erkenne ich Ihre Nachtigall?, fragte ich.
Sie kann meinen Namen singen, antwortete Li und drückte mir einen Zettel mit ihrer Telefonnummer in die Hand. Dann stand sie ohne ein weiteres Wort auf und verschwand im Strom der Zoobesucher, die trotz des schlechten Wetters gekommen waren. Ließ mich mit dem Regen und der Aufgabe allein, eine Nachtigall und ein Rotkehlchen in Berlin zu suchen. Gedankenverloren hob ich einen Kieselstein auf und steckte ihn in die Tasche meines Mantels. Das tue ich von Zeit zu Zeit, eine Gewohnheit, die ich nur schwer abstreifen kann.
Aber zurück zu Li Lung und der Nachtigall. Ich begann mit der Suche, wo ich mit unmöglich scheinenden Suchen immer beginne: An den Füßen der Siegessäule, dort, wo Goldelse lebt. Niemand kennt ihren Namen, jeder nennt sie anders. Ich nenne sie Goldelse, weil sie in der Säulenhalle unter der Siegessäule lebt. Sie ist eine Stadtstreicherin, und wie es die Art der Stadtstreicher ist, weiß sie fast alles. Sie liest alte Zeitungen und schnappt auf, was sich die Menschen auf der Straße erzählen. Sie hatte mir schon so manches Mal helfen können, besonders bei Fällen, in denen nicht einmal die Bücher halfen, die in den Bibliotheken der Stadt ihr Zuhause haben.
Auch an jenem Tag war sie da. Wir begrüßten uns. Wie immer waren Vögel um sie herum, die Brotkrumen aufsammelten. Goldelse zerbröselt stets Brotreste für die Vögel. Und sie kommen, obwohl man Else nie ohne ihre getigerte Katze sieht.
Spatzen waren da, Amseln, Drosseln und auch eine Nachtigall und ein Rotkehlchen liefen über den Boden. Die Nachtigall stimmte leise ein Lied an, aber ich achtete nicht darauf. Ich erzählte Goldelse von Li Lung und dem seltsamen Auftrag.
Ich erwartete, dass Else erstaunt wäre, aber sie nickte nur und ihre grünen Augen blitzten auf, wie die einer Katze, die Beute witterte. Du sagst, sie trug den Vogel immer mit sich, seit ihrer Geburt?
So hat sie jedenfalls behauptet.
Ein Vogelherz, sagte Else.
Ein bitte was?
Ein Vogelherz. Es gibt, wenngleich selten, Menschen, deren Herz außerhalb ihres Körpers lebt. In Gestalt eines Vogels oder eines anderen Tieres. Diese Familie trägt Vogelherzen. Weil Herzen oft wie Vögel sind. Sie fliegen hinfort auf Träumen, allein oder gemeinsam mit anderen Menschen und doch kehren sie stets zurück mal verletzt, mal glücklich nach einer gelungenen Reise. Es gibt nur noch sehr selten Menschen mit Vogelherzen, und sie schweben in großer Gefahr.
In was für einer Gefahr?
Es gibt eine Familie, die Vogelherzen jagt. Sie haben Herzen anderer Art. Sind wie Katzen, die Singvögel jagen.
Aber warum?
Goldelse zuckte mit den Schultern. Was weiß ich. Die Straßen verraten nicht alles.
Ich nickte und dann verabschiedete ich mich von der Stadtstreicherin. Wenn sie Recht hatte, waren Li Lung und ihre Schwester Sa nicht die einzigen Menschen, die ihren Vogel vermissten. Ich würde meinen alten Freund Jakob anrufen.
In der nächsten Telefonzelle wählte ich seine Nummer. Dienstbeflissen meldete er sich mit Polizeiinspektion Mitte, Wachtmeister Schneedorn am Apparat. Ich begrüßte ihn und fiel dann direkt mit meiner Frage ins Haus: Sind bei dir in der letzten Zeit ungewöhnliche Anfragen wegen verschwundenen Singvögeln eingegangen?
Jakob kannte mich, er wusste, dass ich nicht lange um den heißen Brei herumredete.
Über Singvögel, sagste? Ich hörte das Klackern einer Computertastatur. Er sah nach. Ja, grad gestern erst kam eine ältere Dame und vermisste eine Drossel. Jakob lachte. Kannst du dir das vorstellen? Eine Drossel. So ein Vieh sitzt doch auf jedem dritten Baum im Tiergarten.
Sonst noch was?, unterbrach ich ihn.
Wieder Tastaturklackern. Gestern war jemand hier, der hat ein Rotkehlchen als vermisst gemeldet. Er lachte wieder und ich konnte es ihm nicht verübeln. Dann aber kehrte Ruhe am anderen Ende der Leitung ein. Du, sagte er und aus seiner Stimme war jeder Spott verflogen. Hier kommt gerade die Meldung rein, dass das Mädchen mit dem Rotkehlchen tot aufgefunden wurde.
Wo?
Gedächtniskirche.
Danke! Ich hängte ohne ein weiteres Wort auf. Wie gesagt, Jakob kannte mich.
An der Gedächtniskirche waren die Polizisten dabei, Schaulustige fernzuhalten. Mit ein bisschen Überredungskunst und der Tatsache, dass einer der Streifenbeamten mich kannte, kam ich durch die Absperrung und stand bald an der Leiche des jungen Mädchens, das zweifelsfrei Li Lungs Schwester Sa war. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Wie ein jüngeres Spiegelbild. Was ist geschehen?, fragte ich den nächstbesten Beamten. Wenn man souverän genug auftritt, sagen sie einem alles.
Die Passanten, die es beobachtet haben, sagten, sie griff sich plötzlich an die Brust und stammelte etwas von einem Rotkehlchen. Dann muss sie zur Mauer getaumelt sein und ist dort in sich zusammengefallen. Mit ausgebreiteten Armen, als wäre sie ein erlegter Vogel. Sogar Federn wurden gefunden. Der Beamte wandte sich ab und ich murmelte leise: Wie ein Rotkehlchen, das einer Katze begegnet ist.
Ich verließ die Polizeiabsperrung und beschloss, Li Lung aufzusuchen. Nur sie konnte mir sagen, wer hinter den Herzen ihrer Familie her war. In der nächsten Telefonzelle wählte ich ihre Nummer. Lung, meldete sie sich.
Hier Schneider. Wir müssen uns treffen. Sofort.
Kann das nicht warten? Sie klang müde. Ich hätte beschwören können, dass ihr Gesicht am anderen Ende der Leitung blass war.
Nein, sagte ich und sah zur Gedächtniskirche. Sie weiß es noch nicht, schoss es mir durch den Kopf. Sollte ich der sein, der es ihr mitteilte? Ich vernahm in der Telefonmuschel ein Läuten. Warten Sie bitte einen Moment, hörte ich sie sagen und kurz darauf öffnete sie die Tür. Stimmen, männlich. Ein erstickter Schrei. Genug Anhaltspunkte um zu wissen, dass sie es jetzt wusste. Minuten später, ich hatte bereits mehrere Münzen nachgeworfen, wieder das Geräusch der Tür. Dann ein leises Schluchzen. Wo wollen wir uns treffen?, fragte sie.
Ich komme zu Ihnen, antwortete ich, einer Eingebung folgend, dass eine Frau, die gerade ihre Schwester verloren hatte, sicher ihre Wohnung vorziehen würde, anstatt durch die Stadt zu tingeln. Sie nannte mir ihre Adresse und eine halbe Stunde später öffnete sie mir die Tür, die sie zuletzt hinter den Beamten geschlossen hatte. Sie trug ein schlichtes Kostüm. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet und als sie mich sah, fingen ihre Lippen an zu beben. Schnell trat ich auf sie zu und legte den Arm um sie. Wie gesagt ich bin ein typischer Mann meines Berufes trösten von schönen Frauen gehört nun mal dazu. Li Lung drückte sich an mich, weinte eine Weile und dann, nennen Sie es meinetwegen klischeehaft, küssten wir uns. Ihre Lippen saugten sich an meinen fest, als wäre ich ihr einziger Halt in der Welt und als wir später unter der fliederfarbenen Decke ihres Bettes lagen, fühlte ich, dass ich das in diesem Moment auch war.
Erzähl mir von den Vogelherzen, sagte ich und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
Sie zuckte mit den Schultern. Es sind Herzen. Sie ähneln denen, die du kennst. Nur, dass sie nicht in der Brust schlagen, sondern wie Vögel leben. Außerhalb von dir. In einem Käfig.
Warum in einem Käfig? Warum fliegen sie nicht frei?
Das tun sie. Aber sie kehren in den Käfig zurück, weil es ihr Zuhause ist. Kein Gefängnis. Und nur so können wir sie verschenken.
An jemanden, den ihr liebt?
Sie nickte. Aber wir können das Herz oft nur einmal verschenken. Nicht mehrmals, wie ihr. Weil man uns den Vogel selten zurückgibt. Wenn wir ein Herz verschenken, gehen wir ein größeres Risiko ein.
Weil eure Herzen sterben, wenn sie gebrochen werden.
Li nickte wieder. Ich drückte sie noch ein wenig fester an mich. Hat deine Schwester ihr Herz verschenkt? Ihr Gesicht drückte sich in meine Armbeuge. Ich spürte, dass sie den Kopf schüttelte.
Wer ist hinter euren Herzen her?
Li setzte sich abrupt auf. Woher weißt du davon?, zischte sie.
Ich bin Detektiv, gab ich meine Standartantwort zum Besten.
Sie seufzte. Eine Vorfahrin, ich glaube eine Ururgroßtante hat sich einst geweigert, einem reichen Mann ihr Herz, einen Buchfinken, zu schenken. Es war nicht so, dass sie ihn nicht gern gehabt hätte, aber sie hatte ihr Herz längst verschenkt, an die Bücher. Die, die Buchfinkenherzen haben, tun dies immer. Sie verfallen Geschichten. Doch der Mann hat dies nie verstanden. Er schwor, ihr Herz zu bekommen. Und er nahm es sich einfach und sperrte es in eine Voliere. Meine Ahnin folgte ihm gezwungenermaßen, denn niemand hält es lange ohne sein Herz aus. Aber er gab es ihr nicht, und wenn ein Vogelherz gegen seinen Willen in einem fremden Käfig festgehalten wird, bricht es und beide sterben, Herz und Mensch. So geschah es auch damals. Und der Mann sprach abermals einen Schwur aus, nämlich den, dass er und alle seine Nachfahren die Vogelherzen strafen würden, weil er sich durch ihren Tod betrogen fühlte, obwohl er ihn doch verschuldet hatte. Sie machte eine Pause. Durch seine Familie sind schon viele gestorben. Vielleicht bin ich sogar schon die Einzige mit einem Vogelherz. So wie es von den seinen nur noch eine Frau gibt. Sie muss schon sehr alt sein. Ich habe sie nie gesehen, doch sie nahm meine Nachtigall.
Aber du lebst doch noch. Wie kann das sein, wenn du und deine Nachtigall getrennt seid? Li zuckte mit den Schultern. Vielleicht hat sie meine Nachtigall nicht eingesperrt. Vielleicht kann sie nur nicht zurückkommen. Das ist etwas anderes. Mein Herz ist nicht gebrochen. Es ist nur nicht mehr da. Ich bin traurig und zugleich schrecklich leer.
Ihre Augen. Ich sah in sie hinein. Schwarz waren sie, nichts hinter ihnen. Weil da kein Herz war, das sie widerspiegeln konnten.
Warum hast du nichts gesagt?
Ich hatte Angst, dass du mir nicht glaubst.
Weißt du den Namen dieser Frau?
Sie schüttelte den Kopf. Niemand kennt ihren Namen. Alle nennen sie anders.
Jetzt war ich es, der sich ruckartig aufsetzte. Bilder schossen mir durch
den Kopf. Vögel, die Brotkrumen aufpickten. Eine Nachtigall, die ein Lied anstimmte, auf das ich nicht gehört hatte. Ein Aufblitzen in grünen Augen, die wie die einer Katze waren. Goldelse!, stieß ich hervor und schalt mich einen Narren. Bei einer Geschichte wie dieser hätte selbst eine Stadtstreicherin erstaunt sein müssen. Geschichten von Vogelherzen lagen nicht einfach so auf der Straße. Ich sprang auf und raffte meine Klamotten zusammen. Schnell, rief ich Li zu. Ich weiß, wo dein Herz ist.
Der Verkehr in Berlin schien stillzustehen, als wir uns auf den Weg machten. Schließlich aber erreichten wir die Siegessäule und stürmten den Sockel hinauf in die Säulenhalle. Im roten Licht der untergehenden Sonne sahen wir Goldelse. Auf ihrer Hand saß eine Nachtigall. Um ihre Füße strich die Tigerkatze. Als sie unsere Schritte hörte, drehte sie sich um. So hast du mich doch noch gefunden, flüsterte sie und sah mich an. Li beachtete sie nicht, aber die Nachtigall auf ihrer Hand flatterte und versuchte, von ihr loszukommen. Vergeblich, denn Goldelse hielt sie an den Beinen fest wie eine Katze ihre Beute. Ich hätte sie schon längst wie die anderen getötet. Aber sie singt so schön. Ihre Stimme klang fast traurig.
Ich betrachtete die Katze zu ihren Füßen, die fauchend einen Buckel machte. Die Augen des Tieres waren die der Goldelse. Mein Blick schnellte zu Li, dann zu der Nachtigall. Auch ihre Augen glichen einander wie ein Ei dem anderen. Schlagartig begriff ich. Katze und Vogel. Jäger und Gejagter. Herzen verschiedener Art. Ich griff in die Taschen meines Mantels. Irgendwas, dachte ich, irgendwas muss ich doch dabeihaben. Meine Hände fanden den Stein, den ich im Zoo eingesteckt hatte. Ich schleuderte ihn nach der Katze. Bei Gott, ich schwöre, ich habe noch nie einem Tier etwas zuleide getan, aber dieser Katze warf ich den Stein entgegen. Ich traf sie nur leicht, aber es reichte, um sie zu vertreiben. Sie rannte zum Aufgang und huschte die Treppe hinab, hinaus auf die Insel, die im Autostrudel des Großen Sterns lag.
Die alte Frau, die immer noch die Nachtigall in der Hand hielt, bebte. Ihre Augen huschten ihrer Katze hinterher, dann wieder zu dem Vogel in ihrer Hand. Draußen fuhren die Autos um die Säule. Wir lauschten. Aber keine Bremse quietschte, keine Hupe erklang.
Schließlich, nach einer Ewigkeit, fluchte Goldelse und ließ den Vogel frei. Mit schnellen Schritten folgte sie der Katze, die ihr Herz war. Zwitschernd und tschilpend landete die Nachtigall auf Lis Schulter. Ich aber trat zum Säulengang und blickte auf den Platz vor der Siegessäule. Weder Goldelse noch die Katze waren zu sehen, nur Touristen standen dort und machten ihre Bilder und die Autos fuhren zu unbekannten Zielen.
Sie ist weg, teilte ich Li mit. Wahrscheinlich durch einen der Tunnel.
Li nickte. Die Nachtigall auf ihrer Schulter sang ein Lied, das wie ihr Name klang. Wir lauschten.
Dann sagte Li: Danke. Du hast mich gerettet.
Ich betrachtete sie und den Vogel. Du hast keinen Käfig mehr, in den sie zurückkehren kann.
Sie zuckte mit den Schultern und wir verließen langsam die Säulenhalle und machten uns auf den Weg, durch die Tunnel unter dem großen Stern zurückzugehen. Ich baue einen neuen. Menschen bauen ihren Herzen ständig neue Häuser. Sie bemerken es nur nicht, sagte sie, als wir aus einem der kleinen Torhäuser traten.
Was, wenn Sie wiederkommt?, fragte ich, vom plötzlichen Verschwinden der Goldelse immer noch beunruhigt.
Ich glaube nicht, dass dies geschieht. Dank dir kenne ich jetzt ihr Geheimnis. Sie hat ein Katzenherz.
Sie drückte mir einen Kuss auf die Lippen. Dann ging sie. Ich überlegte, ihr nachzueilen, aber ich blieb einfach nur stehen. Ihre Nachtigall wäre an mir gestorben. Ich bin Detektiv. Und ein Detektiv wartet immer nur auf einen neuen Anruf von einer Frau, die seine Hilfe benötigt.
Peter Wall © http://www.picturewall.eu
26. Okt. 2010 - Fabienne Siegmund
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