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Pauls Weihnachtswunsch
von Andrea Tillmanns

Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.3d-grafik-welt.de/
Als Paul endlich vom Mittagstisch aufstehen durfte, holte er sofort seinen Schlitten und rannte hinaus. Den ganzen Morgen schon hatte er aus dem Fenster seines Klassenzimmers heimliche Blicke nach draußen geworfen. Alfred, Pauls älterer Bruder, hatte beim Aufstehen mit fachmännischem Blick prüfend den Himmel betrachtet und behauptet: „Der Schnee bleibt noch nicht liegen, dazu ist es viel zu warm.“
Aber jetzt waren die Straßen weiß, und direkt vor Pauls Klassenzimmer wäre die alte Frau Hamm schon früh am Morgen fast hingefallen, als sie die Eichenhofstraße überqueren wollte. Inzwischen war sogar noch mehr Schnee gefallen. So lange Paul zurückdenken konnte, war Lindlar zur Weihnachtszeit immer unter einer dichten, weißen Schneedecke begraben gewesen.
Seine Mutter hatte ihn letztes Jahr erwischt, als er mit zwei Freunden auf dem Weg nach Vossbruch Schlitten gefahren war, und Paul hatte tagelang Hausarrest bekommen. Dabei war diese Straße überhaupt nicht gefährlich. Paul hatte den Pferdeschlitten damals schließlich rechtzeitig kommen gehört, und wenn seine Mutter ihn nicht genau in diesem Moment gerufen hätte, wäre Paul nicht vom Schlitten gefallen, der Kutscher hätte nicht ausweichen müssen und nicht mit Paul geschimpft ... Eigentlich war seine Mutter an allem schuld gewesen, dachte Paul. Dennoch wollte er jetzt lieber auf den Weiden Schlitten fahren, wo die anderen Jungen aus dem Dorf auch hingingen.
Er zog den Schlitten so eilig die Eichenhofstraße hoch, dass er schon ein bisschen außer Atem war, als er vor der Fahrradfabrik nach rechts in die Bismarckstraße abbog. Nachdem er den Hügel rechts neben der Straße hochgelaufen war, musste er nur noch unter dem Stacheldrahtzaun durchkriechen. Sein bester Freund Joseph kam ihm bereits entgegen gerutscht.
„Komm mit, du musst dir ansehen, was Karl hat!“, rief Joseph.
Gemeinsam liefen die beiden Jungen die schneebedeckte Weide hoch und merkten dabei kaum, wie die dünnen Schnüre an den Schlitten in ihre klammen Finger schnitten. Karl wohnte genau wie Joseph in der Kamper Straße, und da er ein Jahr jünger war als Paul und Joseph, gingen alle drei in die gleiche Klasse.
Als die beiden Freunde Karl sahen, staunte Paul nicht schlecht: Der andere Junge rutschte nicht auf einem Schlitten den Hang hinunter, sondern auf Skiern! Kein anderes Kind hatte welche. Paul hatte im letzten Winter einen Mann auf Skiern gesehen, als er mit seiner Mutter die Tante in Engelskirchen besucht hatte. Aber woher mochte Karl diese Bretter haben?
„Darf ich auch einmal versuchen?“, fragte Paul sofort, während Karl sich wieder hochrappelte, nachdem er beim Anhalten einen Ski verloren und sich gleich vor den beiden Jungen etwas unsanft in den Schnee gesetzt hatte.
Aber Karl schüttelte den Kopf. „Die hat mein Opa nur für mich besorgt“, sagte er wichtig, schnallte den zweiten Ski wieder an und fuhr ziemlich wackelig weiter den Hang hinab.
Paul fand bald heraus, dass die Skier eigentlich Karls Bruder gehörten. Doch solange die englischen Soldaten in der neuen Schule einquartiert waren, gingen die älteren Kinder sowieso nachmittags zur Schule, weil in der alten Schule nicht genug Platz war, um alle Klassen gleichzeitig zu unterrichten. Eigentlich musste Karl die Skier also gar nicht richtig teilen. Jedesmal, wenn Paul nach dem Mittagessen zu den Weiden lief, war Karl schon dort und fuhr immer sicherer die Hänge hinunter.
„Schlittenfahren macht doch auch Spaß“, versuchte ihn Joseph zu trösten. Aber Paul dachte immer an die Skier und wie gerne er selbst einmal probiert hätte, auf diesen schmalen Brettern durch den Schnee zu rutschen. Vielleicht, dachte er, wenn er sie sich zu Weihnachten ganz fest wünschte ...
Doch Paul war mit seinen neun Jahren eigentlich längst zu alt, um noch an den Weihnachtsmann zu glauben. Wenn es den Weihnachtsmann gäbe, hätte er Paul bestimmt den Vater zurückgebracht. Seine Mutter wünschte sich so sehr eine Wohnung mit mehr als zwei Zimmern, und bestimmt hätte sie gerne einen wärmeren Mantel. Und Alfred hatte eigentlich Kaminkehrer werden wollen, aber nach dem Krieg gab es nirgendwo Arbeit, und so war Pauls Bruder froh gewesen, als ihn der Schlosser in die Lehre genommen hatte. Wenn es den Weihnachtsmann wirklich gab, dachte Paul, hatte er sicher viel wichtigere Dinge zu tun, als ihm ein Paar Skier zu bringen.
Dennoch freute Paul sich auf Weihnachten. Er hatte seiner Mutter ein Bild von einer Weide voller Kühe gemalt. Außerdem hatte er ein Gedicht über die Kirche geschrieben, das sich meistens sogar reimte. Im Gegensatz zu Alfred ging er ja noch zur Schule und hatte kein Geld, um seiner Mutter ein richtiges Geschenk zu kaufen.
Als sie Heiligabend aber von der Christmette zurückkamen, staunte Paul nicht schlecht: Unter dem Weihnachtsbaum, den sein Onkel im Wald geschlagen hatte, lag ein Paar wunderschöner Skier! Vor Freude fiel er seiner Mutter um den Hals.
„Du musst deinem Bruder danken“, sagte seine Mutter und schüttelte lachend den Kopf, „er hat die Ski gemacht!“
„Ach, das ist doch nichts“, brummte Alfred und wurde ein bisschen rot, obwohl er schon fast sechzehn war. Wäre nicht Weihnachten gewesen, hätte sich Paul da wohl nicht mehr getraut, seinen Bruder zum Dank ganz fest zu umarmen.
Paul fand nie heraus, ob Alfred die Ski wirklich alleine hergestellt hatte oder ob der Tischler seinem Bruder vielleicht doch ein ganz klein bisschen geholfen hatte. Für ihn war am wichtigsten, dass die Bretter so schön rot waren und viel besser über den Schnee glitten als Karls Skier.
Auch wenn Alfred sich überhaupt nicht mit Schnee auskannte, manchmal fand Paul seinen großen Bruder richtig gut. Und weil Joseph keinen älteren Bruder hatte, ließ Paul ihn die neuen Skier auch ein bisschen ausprobieren. Schließlich war Weihnachten, und der Schnee würde noch viele Wochen auf den Weiden liegenbleiben.

21. Dez. 2010 - Andrea Tillmanns

Bereits veröffentlicht in:

Im Buch: Weihnachtslesebuch 2, Rautenberg 2003

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