|
emperor-miniature
Lena von Andrea Tillmanns
Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Findest du es nicht auch traurig, dass jetzt schon überall Weihnachtsmänner und Spekulatius in den Regalen stehen?, frage ich meinen Mann. Er nickt, als er in die kleine Straße zu unserem Haus abbiegt. Und dabei, überlege ich, ist es doch erst Anfang Novem... Ich verstumme, als ich unsere Nachbarn direkt vor uns hastig in ihren Wagen springen und mit quietschenden Reifen losfahren sehe.
Da wird doch wohl nichts passiert sein?, überlege ich, als wir in unserer Garage anhalten. Mein Mann öffnet den Kofferraum, gemeinsam tragen wir die Einkaufstaschen ins Haus. Nachdenklich sehe ich zum Haus unserer Nachbarn hinüber.
Was denkst du, Georg, frage ich ihn, als er die Treppe hoch kommt, warum hatten Bergers es so eilig? Ich hoffe für sie, dass nichts Schlimmes geschehen ist, auch wenn mir kein anderer Grund einfällt sie haben mehr als genug mitgemacht in den letzten Jahren.
Ich selber bin mir nie sicher gewesen, ob ich Kinder haben wollte, und habe bisher den einfacheren Weg gewählt Georg möchte keine, also werden wir auch keine bekommen. Manchmal denke ich daran, dass es noch nicht zu spät ist, ich bin gerade erst vierunddreißig geworden, noch besteht die Möglichkeit ... Ich schüttele den Kopf und räume die Einkäufe fertig ein, mache rasch den Abwasch vom Morgen und beginne, das Essen vorzubereiten.
Danach setzt sich Georg wieder ins Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein. Als ich am Küchentisch sitze und die Tageszeitung lese, höre ich einen Wagen anhalten. Schnell stehe ich auf und gehe zum Fenster. Herr Berger steigt aus und öffnet die hintere Autotür, wobei er die Rückbank verdeckt. Auf der Beifahrerseite steigt seine Frau aus, und zu meinem Erstaunen sehe ich sie lächeln, als habe sie gerade das größte aller Wunder erlebt. Als Herr Berger die Wagentür zuwirft und sich umdreht, erkenne ich, was er vorsichtig trägt.
Georg, komm mal schnell her!, rufe ich aufgeregt. Mein Mann brummt unwillig, steht aber tatsächlich auf und stellt sich neben mich.
Wie muss man nicht immer ein paar Tage im Krankenhaus bleiben?, fragt er und sieht erstaunt hinaus.
Ich stupse ihn in die Seite. Frau Berger war doch nicht schwanger, entgegne ich grinsend. Verstehst du denn nicht? Die beiden konnten endlich ein Kind adoptieren! Haben ja auch lange genug darauf gewartet, füge ich leise hinzu.
Als Herr Berger die Haustür aufschließt, ohne das Kind aus den Augen zu lassen, dreht sich seine Frau kurz um, entdeckt uns und winkt uns zu, ehe sie das Haus betritt und die Tür rasch hinter sich zuzieht.
Wie glücklich sie aussahen, sage ich versonnen.
Jedem das seine, entgegnet mein Mann und geht zurück ins Wohnzimmer, wo er sich in seinen Sessel fallen lässt und am Fernsehers den Ton wieder einschaltet.
Bis zum nächsten Morgen kann ich mich beherrschen, dann gehe ich hinüber und klingle bei unseren Nachbarn. Als Frau Berger die Tür öffnet, habe ich kurz das Gefühl, sie würde mich am liebsten umarmen, stellvertretend für die ganze Welt. Das Baby sieht mit seinen großen blauen Augen knapp an uns vorbei.
Ein Mädchen?, mutmaße ich.
Sie heißt Lena. Frau Berger nickt. Schweigend betrachten wir diesen kleinen Menschen, der in seinem erst kurzen Leben schon zwei Menschen so glücklich gemacht hat.
Nach einer Weile, als Lena schon lange eingeschlummert ist, gehen wir ins Wohnzimmer. Ich fühle mich unsicher, weiß nicht, ob ich noch bleiben soll. Frau Berger nimmt mir mit einer Tasse Tee die Entscheidung ab.
Wie lange haben Sie darauf gewartet?, frage ich schließlich und nippe vorsichtig an dem heißen Tee.
Fast vier Jahre, sagt sie und lächelt. Am liebsten würde ich den ganzen Tag neben ihrem Bett sitzen. Manchmal muss ich sie berühren, um mich zu vergewissern, dass sie real ist ... Ich könnte es schon jetzt nicht mehr ertragen, sie auch nur einen Tag nicht sehen zu dürfen.
Wer sollte Sie daran hindern?, entgegne ich.
Der plötzliche Schmerz in ihren Augen erschreckt mich. Es ist noch nicht ganz sicher, dass Lena ... Man weiß nie, was passieren kann. Ihr Lächeln wirkt nicht mehr so unbeschwert wie zuvor. Ich überlege, was sie gemeint haben könnte. Wer sollte ihr Lena wieder wegnehmen? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass irgendjemand auf die Idee kommen könnte, die Bergers seien keine guten Eltern. Wir sind seit gut sieben Jahren Nachbarn, und obwohl wir nie Freunde geworden sind, bin ich mir sicher, dass sich kein Kind bessere Eltern wünschen könnte. Spätestens nach dem zweiten vergeblichen Versuch hätte ich vermutlich aufgegeben und mich mit meinem Schicksal abgefunden. Ich hätte nicht die Kraft gehabt, die diese Frau, die nun wieder ruhig mir gegenübersitzt, irgendwo gefunden haben muss.
Es wird schon gutgehen, entgegne ich und finde mich im gleichen Moment schrecklich unsensibel. Schließlich ist bald Weihnachten, füge ich hilflos hinzu.
Wenn wir Weihnachten zu dritt feiern dürfen, kann nichts mehr passieren, sagt Frau Berger. Hätte sie hinzugefügt, sie zähle nicht die Tage, sondern die Minuten bis dahin, ich hätte es ihr geglaubt.
In den nächsten drei Wochen sehe ich Frau Berger jeden Morgen mit dem Kinderwagen das Haus verlassen. Ein paar Mal bin ich gerade im Vorgarten, als sie vorbeigeht, dann bleibt sie für einen Moment stehen, und während sie von den Tagen und Nächten mit Lena erzählt, betrachte ich das kleine Mädchen, dessen Gesicht zwischen dem Mützchen und der Bettdecke herausschaut und das mit großen Augen mich und die Welt umher ansieht. Als am Dienstagmorgen nach dem ersten Advent um kurz nach acht der Wagen mit den beiden Mitarbeitern des Jugendamtes vorfährt, schlafe ich noch, und als sie wenig später wieder herauskommen, Lena auf dem Arm, dusche ich gerade und höre Frau Bergers verzweifeltes Weinen nicht. Wie an jedem Morgen gehe ich um kurz nach zehn zum Küchenfenster, um auf Lena und ihre Mutter zu warten, und sehe den abfahrenden Krankenwagen und Herrn Berger, der ins Haus stürzt, kurz darauf mit einer kleinen Reisetasche wieder hinauskommt, zu seinem Wagen läuft und mit quietschenden Reifen losfährt.
Lena muss krank geworden sein, sage ich abends zu Georg und berichte ihm, was ich am Morgen gesehen habe. Das Gefühl, ich könnte jeden Moment anfangen zu weinen, ist den ganzen Tag über nicht verschwunden.
Er schaut mich nachdenklich an, steht dann auf und wirft einen Blick aus dem Küchenfenster. Bei Bergers brennt Licht, sagt er. Ich gehe mal fragen, ob wir ihnen irgendwie helfen können. Als er nach einigen Minuten zurückkehrt, lässt er sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen und sieht mit einer Mischung aus Erschöpfung und Trauer durch mich hindurch.
Lena ist nicht krank, sagt er schließlich. Während er von Lenas leiblicher Mutter erzählt, die von der Adoption zurückgetreten ist und zu der die Mitarbeiter des Jugendamtes das kleine Mädchen gebracht haben, sehe ich ihn die Fäuste in hilflosem Zorn ballen.
Wenn wir jemals Kinder haben wollen, dann nicht so, sagt er leise, und ich nicke und denke, dass ich um nichts auf der Welt jetzt mit unseren Nachbarn tauschen wollte.
Ich besuche sie am nächsten Tag im Krankenhaus, ohne zu wissen, was ich ihr sagen soll. Erst als ich mich nach einer halben Stunde unbeholfen verabschiedet habe und den Wagen zurück zu unserer Straße lenke, fallen mir die richtigen Sätze ein. Zum Umkehren fehlt mir der Mut, und so fahre ich weiter und nehme mir fest vor, es am nächsten Tag besser zu machen. Natürlich gelingt es mir nicht. Zu unvorstellbar ist das, was Frau Berger und auch ihr Mann im Moment durchmachen, als dass meine Worte mehr als hohle Phrasen sein könnten.
Am Montag nach dem zweiten Advent wird sie von ihrem Mann aus dem Krankenhaus abgeholt. Ein paar Tage später trifft Georg abends, als er von der Arbeit zurückkommt, Herrn Berger, und vom Küchenfenster aus sehe ich die beiden kurz miteinander sprechen, bevor der Nachbar mit dem geleerten Mülleimer in sein Haus zurückgeht.
Ich hätte nicht geglaubt, dass es noch schlimmer werden könnte, sagt Georg, nachdem er seine Jacke aufgehängt und die Aktentasche unter der Garderobe abgestellt hat. Er setzt sich mir gegenüber an den Tisch und trinkt langsam einen Schluck Kaffee, ehe er fortfährt. Lenas leibliche Mutter hat gestern beschlossen, dass sie ihr Kind nun doch nicht haben will, sagt er.
Aber das ist doch toll!, entgegne ich aufgeregt. Warum ich habe Lena heute noch nicht gesehen, ist sie denn noch nicht wieder hier bei den Bergers?
Georg schüttelt den Kopf. So einfach ist das alles nicht, sagt er und zuckt hilflos mit den Schultern. Diese Frau hat noch viel Zeit, es sich wieder anders zu überlegen. Es gibt eine Frist, nach der eine Adoption nicht mehr rückgängig gemacht werden kann aber bis dahin kann die leibliche Mutter sich dreimal täglich anders entscheiden. Noch mehr als zwei Wochen lang, bis zum 23. Dezember. Deshalb sagte Frau Berger wohl auch, wenn sie Weihnachten zu dritt verbringen dürften, sei alles in Ordnung ...
Und wo ist Lena jetzt?, unterbreche ich seine Gedanken.
Bei einem Pfarrer und seiner Frau. Selbst die Leute vom Jugendamt wollten wohl nicht, dass die beiden das alles nochmal durchmachen müssen.
Aber ob es dadurch einfacher wird, diese Hoffnung zu ertragen?, frage ich Georg. Auch er weiß darauf keine Antwort.
In der nächsten Woche begegne ich Frau Berger in der Innenstadt. Zögernd öffnet sie ihre Tasche und zeigt mir die Plüschtiere, die sie gekauft hat. Für Lena, sagt sie. Auch wenn sie nicht bei uns sein kann ... Mitten in der Fußgängerzone beginnt sie zu weinen, und ich nehme sie hilflos in den Arm, bis sie sich etwas beruhigt hat, und suche noch immer nach den richtigen Worten, als sie schon längst davongeeilt ist.
Vielleicht kann man sich erst vorstellen, wie viel einem ein Kind bedeuten würde, wenn man selber eines hat, sagt Georg am Abend nachdenklich, und wie so oft in den letzten Wochen denke ich, dass ich es gerne herausfinden würde.
Wir haben beide nicht den Mut, zu unseren Nachbarn hinüberzugehen und ihnen ein Frohes Fest zu wünschen. Um den Text für eine Weihnachtskarte zu formulieren, brauchen wir fast zwei Stunden.
Am nächsten Morgen packen wir die Geschenke für ein paar Freunde ein und fahren bis zum Mittag durch die Stadt, um sie abzugeben. Wir haben lange überlegt, ob wir auch Lena, die nun nicht mehr hier ist, etwas schenken sollten, und uns schließlich von der Vorstellung, es Herrn oder Frau Berger überreichen zu müssen, abschrecken lassen.
Fast unwillig schmücken wir am frühen Nachmittag den Baum. Auch wenn wir uns immer wieder bestätigen, dass es uns nicht wirklich betrifft, was diesen beiden Fremden, die zufällig unsere Nachbarn sind, zugestoßen ist, so wissen wir doch beide, dass dieser Heilige Abend nicht so ist wie alle vorangegangenen.
Als wir die Geschenke auf einem kleinen Tisch neben dem Baum aufbauen, hören wir draußen einen Wagen halten, schauen uns an und laufen gleichzeitig zum Küchenfenster. Nebeneinander stehend sehen wir zu, wie ein älteres Ehepaar aus dem Wagen steigt und bei Bergers klingelt, und beginnen endlich zu begreifen, als unsere Nachbarin aus dem Haus stürzt, gefolgt von ihrem Mann, die hintere Tür des Wagens aufreißt und dann, mit einem Mal sehr ruhig, das kleine Mädchen aus dem Kindersitz befreit, das nun endlich ihre Tochter sein darf. Ich sehe die Tränen auf ihrem Gesicht glänzen, als sie Lenas Gesicht unendlich vorsichtig küsst. Sie winkt uns kurz zu, ehe alle fünf im Nachbarhaus verschwinden und die Haustür hinter sich zuziehen.
Das möchte ich niemals durchmachen müssen, sage ich und wische mir die Tränen von den Wangen.
Wir sollten es zumindest vorher auf die herkömmliche Art probieren, entgegnet Georg und legt seine Hand leicht auf meine Schulter.
Ein Weihnachtsbaby, überlege ich leise und drehe mich zu ihm um. Ende September wäre es noch warm genug für Geburtstagsfeiern im Garten.
Worauf warten wir dann noch?, fragt mein Mann und lächelt sanft, ehe er mich küsst.
18. Dez. 2010 - Andrea Tillmanns
[Zurück zur Übersicht]
|
|