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Sternensuche von Stephan Lössl
Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Wie von einer Albfee gebissen, schoss Gwendilor in die Höhe. Nach dem merkwürdigen Traum, dauerte es eine Weile, ehe er wusste, wo er sich befand und dass er nur geträumt hatte. Verschlafen blickte er sich um und sah er zu seiner Freude, dass im Osten bereits das erste zaghafte Blau eines neuen Tages durch die Bäume schimmerte. Der Herbst war vorüber und der eisige Atem des Winters ergriff Besitz von Eskyndor, jenem Land im Norden des Ryonischen Reiches, welches von den dunklen Wesen des Shakratgebirges überrannt worden war. Sein Volk, die Hylaren, hatte die Gefahr rasch erkannt, die sich in den finsteren Bergen nördlich von Eskyndor zusammenbraute, doch die anderen Länder schenkten den Kundschaftern keinen Glauben. Taten die Nachricht von einer neuen, bösartigen Rasse als irre Fantasien eines Volkes ab, das im Schatten der Shakratberge ein abgeschiedenes Dasein führte.
Doch kurze Zeit später war der Sturm über Nacht hereingebrochen, Gwendilor hatte das Heulen der Namenlosen vernommen, ihre lauten, polternden Schritte, als sie mit brutaler Gewalt hausten. Im letzten Moment war es ihm gelungen, sich in einem Holzverschlag zu verstecken und unentdeckt zu bleiben.
Als er später mit zitternden Beinen sein Versteck verließ, war er einfach nur gerannt. Er hatte nicht sehen wollen, was die Fremden mit seinen Freunden und Verwandten gemacht hatten und stattdessen sein Heil in der Flucht gesucht.
Zwei Tage war dies nun her. Das Bedürfnis zum Dorf zurückzukehren, war dem Drang gewichen, weiterzugehen. Seit seiner Geburt, und somit achtzehn Sommer, lebte er in dem Dorf, doch dieser Traum von letzter Nacht veränderte alles.
Drei Männer waren ihm im Traum erschienen. Könige, die einem Stern folgten, der in einer anderen, fernen Welt lag. Der Stern sollte sie zu einem Kind von großer Bedeutung führen, auch wenn Gwendilor sich nicht vorzustellen vermochte, welches Kind wohl von solcher Wichtigkeit war.
Doch es waren weniger die Könige und das Kind, um die seine Gedanken kreisten, sondern der Stern. Ein funkelnder Diamant im Mantel der Nacht, der heller als alle anderen leuchtete. Die Hylaren selbst lebten immer an einem festen Ort, bauten Edelmetalle in den Bergen ab, manchmal fanden sie sogar Edelsteine im dunklen, kalten Fels und der Gedanke, den Sternen zu folgen, war seinem Volk fremd. Dennoch verspürte Gwendilor etwas Verheißungsvolles. Ein Versprechen, welches das Licht des Sterns in sein Herz gebrannt hatte. Gwendilor blickte zum Himmel, doch alle Sterne waren mittlerweile verblasst. Ein kühler Wind raschelte in den wenigen verbliebenen Blättern der großen Eichen, unter denen er Zuflucht gesucht hatte und er beschloss zu warten, bis die Nacht hereinbrach, so dass er den Himmel absuchen konnte, um seinen eigenen Stern zu finden, dessen Licht er folgen konnte.
Während des Tages ertappte Gwendilor sich immer wieder dabei, dass er zum Himmel blickte, stets in der Hoffnung, endlich das ersehnte Glitzern zu entdecken. Je weiter die Sonne ihren Bogen über den Himmel zog, desto ungeduldiger wurde er, bis ihm schließlich das Herz bis zum Halse schlug, als sich das erste Rot der untergehenden Sonne am westlichen Firmament ausbreitete. Seine Vorfreude wurde jedoch jäh erstickt. Dicke Wolken sich auf, die bald schon nicht nur die Sicht auf die Sterne verhüllten, sondern die Welt auch mit einer ersten weißen Schneeschicht bedeckten. So musste Gwendilor eine weitere Nacht und einen weiteren Tag ausharren, ehe er endlich zu einem kalten, aber klaren Himmel aufblicken konnte. Unzählige Sterne funkelten und glitzerten in den dunklen Weiten und zum ersten Mal in seinem Leben bemerkte Gwendilor erstaunt, wie viele davon es gab. Zu Tausenden bevölkerten sie den Himmel, breiteten sich in der großen nächtlichen Himmelskuppel aus, als könne man sie einfach herunter pflücken. Fasziniert spähte Gwendilor empor, ließ seinen Blick sehnsüchtig von Stern zu Stern wandern, denn er suchte nicht irgendeinen, sondern DEN Stern, seinen ganz eigenen Stern.
Bald wurde seine Aufmerksamkeit von einem hellen Blinken im Süden angezogen und er glaubte, endlich gefunden zu haben, was er suchte. Doch dann erreichte sein Auge ein weiteres Glitzern und er zweifelte daran, dass der Stern im Süden der Richtige war. Gwendilor legte den Kopf in den Nacken, drehte sich im Kreis und je mehr er suchte, desto weniger konnte er sich für einen Stern entscheiden. Jener aus seinem Traum war irgendwie größer und heller gewesen als alle Sterne, die heute Nacht am Himmel standen. Doch Gwendilor gab nicht auf. Er schwor sich, weiterhin jede Nacht Ausschau zu halten und wenn er seinen Stern an diesem Ort nicht finden sollte, dann sicher an einem anderen.
So kam es, dass er wenige Tage später Richtung Osten aufbrach und jede Nacht erfüllte ihn mit Vorfreude, der jedoch die Enttäuschung darüber folgte, seinen Stern abermals nicht gefunden zu haben.
Eines Tages, Gwendilor machte gerade im Schutze eines Birkenwäldchens Rast, hörte er ein Rascheln. Jemand bewegte sich durch das herbstliche Laub, das den gefrorenen Boden bedeckte. Langsam ergriff er seinen Stab, den er notfalls als Waffe einzusetzen gedachte. Die Schritte kamen näher, Gwendilor hielt den Atem an. Endlich nahm er zwischen den hellen Stämmen der Birken eine Bewegung wahr. Eine Gestalt kam - in einen langen grünen Umhang gehüllt - direkt auf ihn zu. Wenige Schritte noch und sie wäre bei ihm. Entschlossen sprang Gwendilor auf.
»Was willst du«, fuhr er den Fremden an. Die Gestalt zuckte zusammen, fasste sich jedoch schnell wieder. Mit ruhiger Bewegung zog sie sich die Kapuze vom Kopf und Gwendilor klappte der Unterkiefer herunter. Vor ihm stand ein junges Mädchen, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als er selbst, und blickte ihn aus großen dunklen Augen an. Lange kastanienbraune Locken fielen ihr über die Schultern und umrahmten ein gleichmäßiges, fein geschnittenes Gesicht.
»Wer
wer bist du«, stammelte er und konnte fühlen, wie ihm die Hitze ins Gesicht schoss.
»Ich bin Arykin, und wer bist du?«
»Gwendilor«, erwiderte er rasch. Das Mädchen erschien ihm ungewöhnlich schön, wenngleich er nicht sagen konnte, warum.
»Was tust du hier, Arykin?«
»Ich bin vor den Finsteren aus den Shakratbergen geflohen.«
»Den Finsteren? Meinst du die Namenlosen?«
Arykin zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wer sie wirklich sind, aber sie haben unsere Stadt im Norden der Berge überrannt. Viele wurden getötet, ich aber konnte auf einem Pferd fliehen.«
»Deine Stadt? Meinst du etwa Alkrystan, die hohe Stadt des Nordens?«
Arykin nickte und ihre Augen wirkten traurig. Gwendilor hatte Alkrystan noch nie zu Gesicht bekommen. Der direkte Weg von seinem Dorf aus führte durch die gefährlichen und unwirtlichen Berge und außen herum zu wandern hätte ewig gedauert. Offensichtlich war es Arykin gelungen, dank eines schnellen Pferdes die Shakratberge in östlicher Richtung zu umreiten, wo sie schließlich auf ihn gestoßen war. Das Volk von Alkrystan galt als sehr gebildet und sollte von uraltem Blut sein. Einst war es ein kriegerischer Stamm gewesen, doch hatten sie die Kriegkunst aufgegeben und sich zu einem Volk der Weisheit entwickelt. Stets bestrebt, ihr Wissen über die Welt und ihre Geheimnisse zu erweitern.
»Die Finsteren kamen wie eine Flut über uns«, fuhr Arykin fort, ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass viele überlebt haben. Es war so schrecklich, dass ich nie wieder zurück gehen möchte.«
»Mir geht es genauso«, entgegnete Gwendilor und berichtete, was in seinem Dorf geschehen war. Dann erzählte er von seinem Traum und das Mädchen lauschte aufmerksam. Auch sie fand es seltsam, dass drei Könige einem Stern folgen sollten, um ein Kind zu finden, aber irgendetwas an diesem Gedanken schien ihr zu gefallen, denn auf ihrem Gesicht zeigte sich ein Lächeln, das Gwendilor in seinen Bann zog.
»Drei mächtige Männer, Herrscher ihres Landes, folgen dem Stern, nur um einem Kind zu huldigen. Die Starken verbeugen sich vor den Schwachen und üben sich in Demut«, sinnierte sie. »Ein Kind, wie Wasser, das sich an der tiefsten Stelle sammelt und irgendwann beugt sich selbst der Mächtige zu ihm herab, um seinen Durst zu stillen.«
»Was?«, fragte Gwendilor verdutzt.
»Ach nichts. Nur etwas, das mein Vater mich lehrte.« Bei diesen Worten wirkte Arykin sehr traurig und obwohl Gwendilor sie erst vor wenigen Augenblicken kennen gelernt hatte, konnte er nicht anders und legte einen Arm um sie. Sie ließ es geschehen und schmiegte sich an ihn.
So kam es, dass Gwendilor und Arykin gemeinsam weiterzogen und nach dem Stern suchten. Sie ritten zusammen auf Arykins dunkelgrauer Stute, die immer angetrabt kam und freudig wieherte, wenn das Mädchen ihren Namen Elahira - rief.
Eines Nachts, nur wenige Tage nachdem sie sich getroffen hatten, rasteten sie am Fuße eines kleinen Hügels. Noch immer hatte Gwendilor keinen Stern gefunden, der dem seines Traumes auch nur annähernd glich.
»Wir werden deinen Stern niemals finden«, sagte Arykin. »Mit jedem Tag, den wir länger suchen, wird der Stern in deinem Kopf größer und strahlender. Kein Stern an diesem Himmel«, sie zeigte hinauf in die dunkelblaue Nacht, »kann mit dem in deinem Kopf konkurrieren.«
»Aber ich muss ihn finden. Ich weiß, dass es ihn gibt, Arykin.«
Sie schüttelte den Kopf, wollte etwas erwidern, doch da wieherte Elahira nervös und Arykin und Gwendilor fuhren erschrocken auf.
»Was war das?«, fragte Gwendilor.
»Ich weiß nicht.« Arykin lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Da, da war es wieder. Ein Knacken, gefolgt von einem Geräusch, das wie rasselnder Atmen klang. Gwendilor wollte rasch nach den Zügeln des Pferdes greifen, doch da schnellte etwas aus dem Unterholz und griff nach Arykin. Zu Gwendilors Überraschung jedoch fuhr sie schnell herum und zog eine schlanke Schwertklinge unter ihrem Umhang hervor. Gwendilor erkannte, dass der Angreifer einer der Namenlosen war, der seine skelettartigen Finger nach Arykin ausstreckte. Er konnte es kaum fassen, dass Arykin in einer raschen Bewegung die Klinge herumwirbelte und den Angreifer niederstreckte. Auch ein Zweiter fiel ihrem surrenden Schwert zum Opfer. Ein dritter kam und Gwendilor erkannte, dass sie dieses Mal nicht schnell genug sein würde. Entschlossen packte er seinen Stab und schlug ihn dem Angreifer so fest auf den Kopf, dass dieser zu Boden ging.
»Nichts wie weg«, schrie Arykin und schwang sich auf Elahiras Rücken. Nur wenige Herzschläge später saß Gwendilor hinter Arykin und beide preschten in rasantem Galopp davon.
»Hat dir das Kämpfen auch dein Vater beigebracht?«, wollte er wissen.
Arykin lachte nur und nickte. Dass sie ihm mit ihrer schnellen Reaktion das Leben gerettet hatte, wurde Gwendilor erst später bewusst.
Sie zogen weiter und bald schon verband die beiden mehr, als nur die Tatsache, dass ihre Völker von den Namenlosen überrannt und getötet worden waren. Mehr sogar als die Suche nach dem Stern, denn etwas viel Mächtigeres brachte sie einander so nahe, wie es zwei Menschen nur sein konnten. Sie verliebten sich ineinander und irgendwann wurde Arykin der Suche nach Gwendilors Stern überdrüssig. So errichtete er eine Hütte an den Ufern eines kristallblauen Sees, in einem Land, das im Osten lag, weit entfernt von den Shakratbergen. Sie verbrachten einen kalten, aber glücklichen Winter miteinander, doch als der Frühling kam, wurde Gwendilor unruhig. Noch immer drängte es ihn, den Stern zu finden, dem die drei Könige aus einer fernen Welt einst gefolgt waren. Auch wenn Arykin nicht begeistert war, ließ sie ihn gehen und er versprach, bald wiederzukommen.
Gwendilors Suche blieb erfolglos und er kehrte wenige Tage später zu Arykin zurück, die ihn glücklich in die Arme schloss. Doch die Unruhe blieb.
Des öfteren saß er bei Nacht draußen und starrte zum Himmel, aber kein Stern war ihm gut genug. Abermals zog er los und kam zurück, ohne gefunden zu haben, was er so sehr begehrte. Immer wieder machte er sich auf die Suche und die Zeit, in der er fort war, wurde länger. Doch den Stern seines Traumes fand er nicht.
Jedes mal wenn er zurückkehrte, empfing ihn Arykin mit einem Lächeln voller Liebe und schloss ihn in seine Arme. So zogen die Winter und die Sommer ins Land und eines Tages bemerkte er in Arykins Lächeln, dass auch in ihrem Gesicht der Herbst Einzug gehalten hatten. Aus Liebe ließ sie ihn stets ziehen und in Liebe erwartete sie ihn vor der Tür ihrer Hütte. Eines Tages jedoch, als Gwendilor, über dessen Haare nun auch der Reif des Winters hinweggezogen war, von seiner Sternensuche zurückkehrte, erschrak er und hielt abrupt inne. Irgendetwas stimmte nicht. Arykin wartete nicht vor der Tür, es gab keine liebevolle Umarmung, kein Lächeln. Gwendilor rannte los, stürmte durch die Holztür, so dass diese beinahe aus den Angeln riss und blieb laut keuchend im Zimmer stehen. Als seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, erkannte er Arykin, die schwer atmend auf dem Bett lag. Er war zu lange fortgewesen, viel zu lange.
»Was ist mit dir?«, fragte er und ließ sich neben ihrem Bett nieder.
»Ich bin alt und krank geworden, mein Liebster. Mir bleiben nicht mehr viele Tage.«
»Aber du ...«, stammelte Gwendilor, brach jedoch ab, als er sah, wie schwach sie war. Grau durchzog ihr einst kastanienfarbenes Haar und Falten hatten sich um ihre dunklen Augen gelegt. Sicher sah auch er nicht jünger aus, aber Arykins Lebenskraft war verbraucht. Hatte seine Suche, seine ständige Abwesenheit sie so sehr erschöpft? Zum ersten Mal in seinem Leben kam ihm dieser Gedanke und insgeheim kannte er die Antwort.
»Gwendilor, gib mir meinen alten Umhang. Den Grünen, den ich trug als wir uns kennenlernten.«
Gwendilor kramte den Umhang hervor und legte ihn ihr aufs Bett. Mit zitternden Händen griff sie in eine der Innentaschen und holte eine fein gearbeitete Silberkette hervor, die sie sich um den Kopf legte, Gwendilor hatte inzwischen einige Kerzen entzündet, um den Raum zu erhellen und als er sich Arykin zuwandte, wich alles Blut seinem Gesicht. Ihm wurde kalt und schwindlig. Langsam und mit zittrigen Knien zog er einen Stuhl an Arykins Bett und betrachtete die Halskette, die sie sich um den Kopf gelegte hatte und in deren Mitte ein Diamant eingearbeitet war, der nun auf ihrer Stirn im Kerzenlicht funkelte und glitzerte.
»Ich habe es dir nie erzählt«, begann sie, »aber ich bin Arykin Askillion, die Tochter des Königs von Alkrystan. Dieses Diadem ist das Zeichen meines Erbes, das Zeichen des Königshauses. Bitte, ich will es tragen, wenn du mich begräbst.«
Gwendilor vernahm ihre Worte wie aus weiter Ferne. Sein Blick ruhte nur auf dem Edelstein auf Arykins Stirn und er wusste, wo er dieses Funkeln, dieses ganz besondere Glitzern, das nun durch seine Tränen um ein Vielfaches verstärkt wurde, schon einmal gesehen hatte. Er kannte es, hatte es bewundert. In seinem Traum vom großen Stern. Endlich begriff er, dass das, wonach er all die Zeit gesucht hatte, schon seit langem zu ihm gekommen war. Sein ganz persönlicher Stern hatte ihn längst gefunden, und er trug den Namen Arykin.
17. Dez. 2010 - Stephan Lössl
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