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Gegenwind
von Tobias Bachmann

Andrä Martyna Andrä Martyna
© http://www.andrae-martyna.de/
„Wahrer Mut ist wie ein Drache, Gegenwind treibt ihn höher.“
- Unbekannt -


Achim war wieder einmal spät dran.
Erfahrungsgemäß benötigte er etwa eine halbe Stunde, bis in die Schule, doch dieser Erfahrungswert brachte ihm nicht das Geringste, wenn er erst um halb acht aufwachte. Da hätte er bereits das Haus verlassen haben müssen. Doch statt auf seinem Fahrrad zu sitzen, stapfte er nun schlaftrunken durch sein Zimmer, auf der Suche nach der Socke für seinen rechten Fuß.
Die linke Socke hatte er bereits angezogen, doch die rechte war unauffindbar. Gott, wie er so was hasste. In letzter Zeit passierte ihm das immer wieder. Eigentlich seit seine Mutter wieder arbeiten ging, und ihn nicht mehr wecken konnte.
Davor hatte stets das Frühstück in der Küche auf ihn gewartet. Er war eine Stunde vor Schulbeginn geweckt worden, und hatte immer genügend Zeit gehabt, um zu Frühstücken, Zähne zu putzen, sich anzuziehen und gemütlich loszufahren.
Dann hatte Paps sie beide verlassen, und seine Mutter musste wieder arbeiten gehen. Sie hatte ihm gesagt, dass er nun alt genug sei, morgens selbst aus den Federn zu kommen. Sie hatte ihm einen Wecker gekauft, der aussah wie ein Fußball, und der entweder Musik spielte oder in schauriges Fiepen einstimmte, wenn die eingestellte Weckzeit begann. Da Achim das Fiepen schrecklich fand, hatte er das Radio als Weckton eingestellt, doch was nutzte ihm das, wenn der Radiowecker zu leise war?
Endlich hatte er die Socke auf dem Bett ausfindig gemacht. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, sie dort abgelegt zu haben. Dass das Rot der Socke auf seinem roten Bettlaken einem nicht sofort ins Auge stach, war klar. Schnell zog er die Hose des Vortags an, obwohl sie grüne Grasflecken vom Fußballspielen gestern hatte, und den Pullover über sein T-Shirt. Dann rannte er nach unten. Zähne putzen musste heute ausfallen. In der Küche schnappte er sich schnell ein Glas, füllte es mit Milch und goss diese gierig hinunter. Kein Kakao heute. Keine Zeit.
Während er trank, blickte er auf die Küchenuhr. Schon wieder waren zehn Minuten rum.
„Verdammt“, sagte er. „Jetzt aber los!“
Er schnappte sich seinen Schulranzen, vertraute einfach mal darauf, dass alles darin war, was er für den heutigen Unterricht benötigte, zog den Anorak an, schulterte den Ranzen, griff nach seinem Schlüssel, den er sich um den Hals hängte, und verließ das Haus.
Sein Rennrad war sein ganzer Stolz. Es war rot, seine Lieblingsfarbe, und hatte einen weißen, nach unten gebogenen Lenker. Achim stieg auf, und schoss auch schon die Straße entlang, ohne auf entgegenkommenden Verkehr zu achten.
Er hatte es verdammt eilig. Laut seiner Armbanduhr waren es nicht mal mehr zwanzig Minuten. Das würde er nie schaffen.
Heftig trat er in die Pedale und schaltete gleichzeitig in einen höheren Gang.
In der ersten Stunde hatten sie Mathematik bei Frau Wilhelmi, eine ganz und gar prinzipienreiterische, strenge Person. Wenn er auch nur eine Minute nach dem Stundengong ins Klassenzimmer käme, würde er einen Anschiss von ihr bekommen, der sich gewaschen hätte.
Er legte sich richtig in die Kurve, als er in die Fichtenstraße einbog. Auf dieser würde er das Neubaugebiet verlassen, und stadteinwärts fahren, bis er den Radweg erreicht hatte, der ihn über die Autobahn bringen würde, und dann weiter, den Berg hinauf, bis über den Kanal. Er hasste diese Stelle, da die Steigung immer zu steil war, und endlos erschien. Wenn er erstmal über den Kanal war, ging es nur ein kurzes Stück bergab, und dann auch schon wieder rechts, die Aschaffenburger Straße entlang, bis es dann endlich links – wieder bergauf – ging, und er direkt auf die Schule zusteuerte.
Eine halbe Stunde brauchte er stets dafür. Egal wie sehr er sich je beeilt hatte, diese halbe Stunde war eine magische, ununterschreitbare Zeitspanne.
Erst jetzt bemerkte Achim den Wind. Heftig blies er ihm entgegen, und setzte ein stetiges Fauchen in seine Ohren.
Manchmal fuhr Achim mit Kopfhörern im Ohr Fahrrad. Das war gerade im Sommer angenehm, wenn die Sonne einen warm beschien, und einen die begleitende Musik in Freudentaumel und Enthusiasmus verfallen ließ. Sobald jedoch leichter Gegenwind herrschte, ging die Musik im Heulen des Windes unter. Man musste seinen Kopf zur Seite drehen, um ohne das lästige Nebengeräusch die Musik hören zu können.
Heute hatte er keine Kopfhörer auf. Sein mp3-Player lag daheim, in seinem Zimmer, und würde dort liegen bleiben, bis er wieder zu Hause war. So brachte es auch wenig, seinen Kopf zur Seite zu drehen. Der Wind pfiff ohnehin zu laut durch seine Segelohren.
Seit er den Gegenwind bemerkt hatte, schien es ihm, als sei es schwieriger, vorwärtszukommen. Notgedrungen musste er einen Gang runterschalten, sonst würde er sich noch verausgaben.
Eigentlich könnte er sich jetzt auch Zeit lassen. Rechtzeitig würde er es eh nicht mehr in die Schule schaffen, überlegte er. Doch wenn er an Frau Wilhelmi dachte, dann kam ein Sich-Zeit-lassen überhaupt nicht in Frage. Seiner Meinung nach, betrachtete sich die Frau selbst als verkanntes, mathematisches Genie. Zumindest waren Zahlen und Formeln alles, für das sich Frau Wilhelmi zu interessieren schien. Und da Zeitangaben aller Art nun mal mit Zahlen dargestellt wurden, gehörte eine exakte Pünktlichkeit zu dieser Lehrerin dazu, wie der Fußball zum Meisterschaftsspiel.
Achim erreichte die Kreuzung, und bremste sein Rad ab. Er wusste nicht, ob er froh über die rote Ampel sein sollte, da er sich dadurch ein wenig von dem Gestrampel erholen konnte, oder doch lieber wütend, weil die Ampel nicht gerade zu seiner Pünktlichkeit beitrug. Just, da er sein Rad zum Stehen gebracht hatte, schaltete die Ampel wieder auf Grün. Von hinten rauschte ein Auto heran, und überholte ihn hupend, da er es nicht schnell genug schaffte, sein altes Tempo wieder aufzunehmen.
Bald würde er den Radweg erreichen, und dann er endlich diesem Scheißgegenwind entkommen, der bereits wieder stärker zu blasen schien. Doch wenn Achim eines über Gegenwind wusste, dann die unumstößliche Tatsache, dass er immer von vorne blies. Sobald man um eine Kurve fuhr, drehte sich der Wind mit. Ein höllisches Spiel, das sich nur ein idiotischer Gott ausgedacht haben konnte.
Und tatsächlich: Sobald er den Radweg, der links abging, erreicht hatte und ihn befuhr, hatte der Wind auf magische Art und Weise gedreht. Oder aber, er blies von allen Seiten gleichzeitig, doch das war unmöglich. Auch schien es ihm, als habe die Kraft des Windes zugenommen.
Fluchend experimentierte er mit der Gangschaltung. Es musste doch eine Möglichkeit geben, einen Gang zu finden, der ihm ein angenehmes Vorwärtskommen ermöglichte. Aber egal, welchen Gang er wählte, der Wind war nicht auf seiner Seite. Heftig blies er ihm ins Gesicht.
Achim nahm eine gebeugte Haltung ein, damit er weniger Luftwiderstand hatte, und kam nun tatsächlich ein wenig einfacher voran, auch wenn der Wind an der Schultasche auf seinem Rücken zu reißen schien.
Was hatte er in Physik über Gegenwind gelernt? Die Kraft des Luftwiderstands nimmt quadratisch mit der relativen Geschwindigkeit durch die umgebende Luft zu. Das bedeutete, dass ein Radfahrer der mit zwanzig Stundenkilometern fuhr, das Vierfache an Luftwiderstand zu bewältigen hatte, wie ein Radfahrer, der nur zehn Stundenkilometer schnell fuhr.
Das mochte bei Windstille ja kein sonderliches Problem sein, dachte er. Heute hatte er es jedoch mit einer zusätzlichen Naturgewalt zu tun, die dazu führte, dass jeder Pedaltritt ein enormer Kraftakt für Achim darstellte.
Plötzlich fiel Regen.
Das durfte doch nicht wahr sein. Hatte sich das Wetter heute völlig gegen ihn verschworen?
Die Tropfen waren eisigkalt. Es war April, und eigentlich hatte der Frühling bereits angefangen, doch wie hieß es so schön? Der April, der weiß nicht, was er will.
Heute wusste er es, definitiv. Er wollte Achim daran hindern, rechtzeitig in der Schule zu sein. Er würde seinen Anschiss von Frau Wilhelmi bekommen, und wer weiß, was noch alles passieren würde. Vielleicht schrieben sie eine Stegreifaufgabe? Das machte Frau Wilhelmi unglaublich gerne. Sie betrat das lärmende Klassenzimmer, in das innerhalb von Sekunden Ruhe einkehrte, und sagte mit diabolischem Grinsen: „Bis auf einen Stift kommt nun alles von den Tischen runter. Wir schreiben heute eine Extemporale.“ Dann schürzte sie ihre Lippen, und beobachtete voll innerer Genugtuung, wie die Hälfte der Klasse kreidebleich im Gesicht wurde, und zu schwitzen begann.
Sie war eine Sadistin. Mit seinem Freund Martin hatte Achim letztens in der Pause darüber gewitzelt, dass sie bestimmt im Keller ihres Hauses ein Sadomasostudio betreiben würde. So wirkte sie nun mal – hart, grausam und ungerecht, und all diese Eigenschaften lebte sie mit Genuss und Tugend aus.
Der Regen wurde stärker, und mit ihm der Gegenwind, gegen den Achim ankämpfen musste. Bald würde er über die Autobahn fahren, wo er völlig den Naturgewalten ausgeliefert war, da es dort keine Häuser oder Bäume als Windschutz gab. Und danach würde es auch noch bergauf gehen.
„Scheiße!“ Achim biss die Zähne zusammen und trat noch heftiger in die Pedale. Er war nun bereits völlig durchnässt. Sein Anorak verfügte über keine Kapuze, und selbst wenn, hätte diese ihm der Wind nur vom Kopf geweht.
Während er versuchte, gegen Wind und Regen anzukommen, blickte er auf seine Uhr. Er hatte nur noch zehn Minuten.
„Schneller“, sagte er. „Na los, komm schon.“
Der Regen peitschte ihm ins Gesicht. Eiskalt waren die Tropfen, und sie trafen ihn mit einer Härte, dass man meinen könnte, es seien Hagelkörner.
Er hatte die Autobahn erreicht. Lautstark brausten die Fahrzeuge auf der nassen Fahrbahn unter ihm hinweg. Die Scheibenwischer der Autos waren auf die höchste Geschwindigkeit geschaltet. Achim beneidete die Fahrer der Wagen dafür. Wäre er bereits volljährig, so könnte er nun auch in einem Auto sitzen. Die Sitzheizung ließe es ihn schön warm haben, und das Dach der Karosserie würde ihn vor Nässe schützen. Aus den Lautsprechern käme Musik, und sofern er es eilig hätte, bräuchte er nur etwas mehr aufs Gaspedal zu steigen.
Alle Wunschträume halfen nichts. Er musste weiter. Bald würde es bergauf gehen.
Der Gegenwind, der ihm zunächst harmlos erschienen war, hatte sich binnen zehn Minuten zu einem richtigen Sturm erhoben, der eisigkalte Dornen aus Regentropfen gegen ihn schleuderte. Er konnte nicht mehr anders, er musste ein weiteres Mal in einen niedrigeren Gang wechseln.
Er konnte sich schon sehen, wie er vollkommen durchnässt und am Ende seiner Kräfte verspätet das Klassenzimmer betrat, seine Klassenkameraden über eine unangekündigte Arbeit brüteten, und Frau Wilhelmi würde ihn angrinsen, und ihn für seine Verspätung mit der Note sechs bestrafen. Nein, sie würde nicht nur grinsen, sie würde lachen.
Achim spürte Wut in sich aufsteigen. Was sollte das bringen? Besser wäre es gewesen, gleich daheim zu bleiben, in der Schule anzurufen, und sich krank zu melden. Er hätte in Ruhe frühstücken, und dann das Buch zu Ende lesen können, das er vor zwei Tagen begonnen hatte.
Wer war eigentlich dafür verantwortlich zu machen, wenn er sich, bei dem Versuch, rechtzeitig die Schule zu erreichen, zu Tode fuhr? Gab es da jemanden, der dafür haftbar gemacht werden konnte? Wer würde seine Beerdigung zahlen?
Vom Regen weichgespült, vom Winde zerfetzt, das Fahrrad unauffindbar ..., so in etwa würde es aussehen. Man würde ihn im Straßengraben finden, oder aber auf der Straße selbst, plattgewalzt von irgendeinem Fahrzeug, dessen Fahrer ihn im Regen nicht gesehen hatte. Ein Wunder eigentlich, dass es ihn nicht auf die Autobahn geweht hatte, als er über die Brücke fuhr.
Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass eine Steigerung des Wetters noch möglich gewesen wäre. Vielleicht war es auch gar nicht das Wetter, sondern nur die Tatsache, dass es von nun an auch noch ziemlich steil bergauf zu fahren ging. Dennoch kam es ihm so vor, als bliese der Wind nun noch stärker. Er hatte orkanartige Ausmaße angenommen, und den Regen konnte man getrost mit der Sintflut vergleichen. Seine Finger fühlten sich gefroren an, und es grenzte an ein Wunder, dass er den Lenker noch halten konnte.
Achim fuhr nun im leichtesten Gang, mit voller Anstrengung den Berg hinauf. Kurz hatte er erwogen, abzusteigen, und das Rad zu schieben, doch wollte er sich selbst diese Blöße nicht geben. Wie ein Irrer trat er in die Pedale, stellte sich auf dem Fahrrad auf, und beugte sich soweit vor, wie es nur irgend ging, doch dank des Gegenwindes kam es ihm so vor, als würde er sich keinen Zentimeter weit vorwärtsbewegen.
Was der Regen von außen erledigte, wurde unter seiner Kleidung vom Schweiß getan. Sogar seine Unterhose war nass. Alles war nass. Obwohl seine Haare nicht sonderlich lang waren, hingen sie ihm wirr ins Gesicht. Sobald er eine Strähne aus seinem Blickfeld wischte, wehte der Wind sie ihm wieder davor, und der Regen sorgte dafür, dass sie dort blieb. Wasser tropfte ihm von der Nasenspitze, und kitzelte ständig, so als würde er von jemandem mit einer Feder geärgert. Dieses Kitzeln war dermaßen nervig, dass er einmal kurz aufschreien musste. Natürlich half das nicht das Geringste, doch er musste sich dem Ärger irgendwie Luft machen.
In den Körperpartien die nicht von nassen Kleidungsstücken bedeckt waren, hatte er mittlerweile kein Gefühl mehr. Sie schmerzten, so fror er.
Er nahm seine Umgebung überhaupt nicht mehr wahr, trat nur noch mit aller Kraft in die Pedale, stemmte seinen Oberkörper immer weiter nach vorne, versuchte alles nur Erdenkliche, um irgendwie vorwärtszukommen. Dennoch schien es ihm, als radele er auf der Stelle, als ob er sich im Fitnessstudio auf einem Hometrainer befände.
Wieder blickte er auf seine Armbanduhr, und stellte mit Verblüffung fest, dass es noch immer sieben Uhr fünfzig war. So wie er auf der Stelle blieb, hatte sich die Zeit scheinbar auch nicht weiterbewegt.
„Blödsinn“, sagte er, und strampelte weiter, wie verrückt.
Das Gefühl des Auf-der-Stelle-fahrens wurde schier unerträglich. So sehr er sich auch ins Zeug legte, er kam und kam nicht vorwärts. Der Regen um ihn herum schüttete so heftig, und der Wind blies so enorm, dass er seine Umgebung nur wie durch Nebel am äußersten Rande seines Blickfeldes wahrnahm. Schemenhaft glitt irgendetwas an ihm vorüber, dass mit einiger Wahrscheinlichkeit das Links und Rechts der Welt sein mochte.
Achim hatte schon einige Mal von etwas gehört, dass man den Tunnelblick nannte, doch die Erwachsenen gebrauchten diesen Begriff eigentlich nur in Erzählungen, die in Verbindung mit Alkohol standen. Er selbst wusste, was ein Tunnel war, und wie es war, durch einen solchen hindurchzufahren. Doch hier war es anders. In einem Tunnel gab es zumindest die Aussicht auf ein Ende, das meist als heller Punkt inmitten des Dunkels auszumachen war. Dieses sprichwörtliche Ende des Tunnels gab es hier nicht. So schemenhaft wie die Welt links und rechts von ihm anmutete, so war sie auch vor ihm. Nichts als Regenfäden, die der Wind ihm entgegenschleuderte. Hinter ihm mochte das Bild nicht anders sein.
Wenn es nur nicht bergauf gehen würde, dann wäre es ja nur halb so schlimm, dachte er sich. Frau Wilhelmi predigte stets, dass Pünktlichkeit das halbe Leben sei, doch wie soll man dieses halbe Leben unter solch katastrophalen Umständen nur auf die Reihe kriegen?
Zunehmend spürte er, wie ihn seine Kräfte verließen. Doch sobald er an seine Klassenlehrerin dachte, spornte ihn dies dazu an, erneut daran zu arbeiten, vorwärtszukommen. Wie verbissen war er dazu entschlossen, trotz all der Widrigkeiten rechtzeitig zu kommen. Er öffnete den Mund, damit er mehr Sauerstoff in seine Lungen bekam. Regenwasser spülte ihm den schalen Geschmack fort.
Abermals blickte Achim auf die Uhr, und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass noch keine weitere Sekunde vergangen war, seit er das letzte Mal darauf geschaut hatte. Sie muss stehen geblieben sein, dachte er, oder aber ...
Nein, das war nicht möglich. Wenn aber doch?
Er versuchte sich zu erinnern, wie lange er normalerweise für den Berg brauchte. Es konnten nicht mehr als fünf Minuten sein. Er fuhr aber doch schon mindestens zehn Minuten diesen verdammten Berg hoch. So langsam aber sicher sollte er es doch bis nach oben geschafft haben.
Vorsichtig warf er einen Blick nach hinten, konnte dort aber tatsächlich ebenso wenig erkennen, wie vor sich, oder um sich herum. Wenn er anhalten würde, käme er nie wieder los, würde laufen müssen, und käme somit zwangsläufig zu spät.
„Scheiße, du kommst eh zu spät“, sagte er zu sich selbst. Wenn seine Uhr um zehn vor acht stehen geblieben war, und er sich – grob geschätzt – bereits seit verfluchten zehn Minuten auf dieser dämlichen Steigung befand, dann war es bereits acht Uhr, und Frau Wilhelmi würde mit ihrem Unterricht bereits begonnen haben.
Wie aber konnte es sein, dass seine Uhr stehen geblieben war? Es war ein digitales Modell, batteriebetrieben. Wenn die Batterie leer war, würde das Display leer sein. Es würde überhaupt keine Uhrzeit angezeigt werden.
Noch einmal blickte er darauf: 7:50:00 Auf die Sekunde genau. Während er weiterfuhr, hielt er seinen Blick konstant auf seine Uhr gerichtet.
Die Zeit stand still.
Er fuhr tatsächlich seit zehn Minuten auf der Stelle.
„Das gibt’s doch gar nicht“, schrie er dem Regen entgegen, der als Antwort darauf nur noch heftiger auf ihn niederprasselte. Voller Wut trat er noch kräftiger in die Pedale, ohne dabei den Blick von seiner Uhr zu lassen, und plötzlich, so als hätte eine unsichtbare Hand die entsprechenden Knöpfe gedrückt, mit denen man die Uhrzeit verstellen konnte, zeigte das Display 7:49:59!
Völlig verblüfft fuhr er wieder langsamer, doch die Uhr blieb weiter stehen. Litt er an Halluzinationen? Wie war das mit dem Tunnelblick in Verbindung mit Alkohol?
Alles Quatsch, wie er befand, und konzentrierte sich wieder aufs Fahrradfahren. Immer noch war der Regen eisig, der Wind bissig, und die Steigung des Berges mörderisch.
Weiter, immer weiter. Immerhin musste er in die Schule. Da durfte er sich nicht von solch albernen Fantasien ablenken lassen. Doch wieder fiel sein Blick auf seine Uhr, die nun 7:49:48 anzeigte.
Die Uhr ging rückwärts. Sie war kaputt. Eindeutig. Ein Fall für den Mülleimer. Nun, so hatte er wenigstens eine überzeugende und vor allem wahrheitsgemäße Ausrede gegenüber Frau Wilhelmi, für sein Zuspätkommen. Leider hatte die für Ausreden aller Art, egal ob gerechtfertigt oder nicht, überhaupt nichts übrig.
„Die Ausreden kannst du dir sparen“, hörte er sie bereits motzen, „Fakt ist, dass du zu spät bist, und daran ist nicht zu rütteln.“
7:49:22
Langsam wurde es aber wirklich Zeit, das Ende des Berges erreicht zu haben. Das mit der Uhr machte ihn noch völlig Plemplem. Sein Zeitgefühl schien ohnehin bereits außer Kraft getreten zu sein; trotzdem schien es ihm, als fahre er nun bereits eine halbe Ewigkeit den Berg hinauf. Unablässig trieb der Wind sein boshaftes Spiel mit ihm, und der Regen tat sein Übriges dazu.
Achim versuchte noch schneller voranzukommen. Er wollte endlich diese Steigung hinter sich bringen. Das war ja zum Verrückt werden. Schon lange war seine gute Kondition am Rande der Erschöpfung, und sein normalerweise gleichmäßiges Atmen war in ein Keuchen und Schnaufen übergegangen.
7:48:34
Wie von selbst suchte sein Blick immer wieder seine Armbanduhr am linken Handgelenk.
Immerhin schien die Uhrzeit im Takt der Zeit rückwärts zu gehen. Eine Sekunde dauerte noch immer eine Sekunde, nur dass sie hier – sobald diese vorüber war – noch nicht geschehen war; irgendwie zumindest. Er verstand es ja selbst nicht so recht, doch die Überlegungen hielten Achim davon ab, weiter über das Wetter zu fluchen, an dem er sowieso nichts ändern konnte.
Auf jeden Fall konnte er sich so errechnen, wie viel Zeit vergangen war, seit er festgestellt hatte, dass seine Uhr rückwärts ging.
7:45:01 war es auf einmal schon – oder erst; je nachdem, wie man es betrachtete. Das hieß, dass er nun schon seit fünf Minuten bergauf fuhr. Mindestens ebenso lange war er zuvor bereits bergauf gefahren, wenn nicht sogar länger. Er hätte auf jeden Fall den Gipfel erreichen müssen. Es war ja nicht mal ein richtiger Berg, sondern nur die zu lang geratene Auffahrt auf eine Brücke, die den Kanal überspannte. Unter allen Umständen hätte er bereits dort oben angelangt sein müssen, gleich wie viel Gegenwind herrschte, und egal wie das Wetter ihm sonst noch mitspielte.
Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. So verkehrt konnte nicht mal sein Zeitgefühl sein.
„Ein letztes Mal“, sagte er laut. „Noch einmal fünf Minuten, und wenn ich bis dann nicht oben bin, steig ich ab.“
Seine Muskeln schmerzten. Krämpfe wanderten seine Waden hinauf, erreichten seine Oberschenkel und machten sich sogar in seinem Gesäß breit. Er bin am Ende, dachte er sich, ich könnte jetzt einfach tot umfallen und liegen bleiben, so lange, bis mich der Regen fortspült, der Wind fortbläst, oder die Gravitation mich vom Berg hinunterrollen lässt.
Das Vorhaben, weitere fünf Minuten gegen die vereinten Kräfte der Apokalypse anzufahren, konnte er vergessen. Er konnte einfach nicht mehr.
Achim bremste sein Fahrrad ab, bis es zum Stehen kam, und ließ die Füße den Boden berühren. Er merkte, dass seine Beine zitterten. Er war völlig erschöpft. Da gab es nichts mehr zu machen. Die Uhr konnte er auch vergessen. Vermutlich wegen des Regens. Angeblich war die Uhr ja wasserdicht, aber eine andere Erklärung hatte er nicht.
Und was war mit diesem verdammten Berg los? Er stieg nun vollständig von seinem Rad, und begann es bergauf zu schieben.
Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt, schoss es ihm in den Sinn.
„Ha, ha“, sagte er laut, als hätte wer anders die alte Kamelle von Spruch gerade vom Stapel gelassen. „Sehr witzig.“
Am liebsten würde er sich einfach hinsetzen und ausruhen. Sogar das Laufen fiel ihm schwer, aber es war bei weitem angenehmer, als der endlos ermüdende Kraftakt, den es brauchte, mit dem Fahrrad weiterzukommen. Noch nie hatte er so ein beschissenes Wetter erlebt.
Immer noch blies ihm der Wind Scherben von Regen gegen sein Gesicht. Es war zum Verzweifeln. Er hätte nicht absteigen sollen. Nun hatte er noch weniger Lust, weiter gegen das Wetter anzukämpfen, doch widerstrebte es ihn zutiefst, sein Fahrrad wieder zu besteigen.
Wann wäre er endlich oben? Insgesamt mochten es gerade mal tausend Meter sein, die es bergauf ging; wenn überhaupt. Definitiv ging hier etwas nicht mit rechten Dingen zu.
„Definitiv!“, sagte er noch einmal, wie um es sich selbst zu bestätigen.
Und seine bekloppte Uhr? Die ging noch immer rückwärts. 7:40:21 war es gerade.
„So was bescheuertes aber auch“, murmelte Achim, und schob völlig frustriert sein Fahrrad weiter.
Es donnerte.
Noch mehr Regen.
Einen Platz zum Unterstellen gab es nicht. Achim konnte auch nicht mehr weiter. Er sah nun gar nichts mehr. Das so viel Regen auf einmal fallen konnte, hätte er nicht für möglich gehalten. Pro Quadratzentimeter und Sekunde mochten es mehrere Liter auf einmal sein. Wo er nur hinblickte, fiel das Wasser in strömenden Fontänen von einem Himmel, dessen Wolkenmasse so finster sein musste, dass man meinen könnte, es wäre tiefe Nacht. Er lief durch eine Regenwand, oder besser: Diese lief durch ihn; denn er hatte mittlerweile den Eindruck, als hätten die Wassermengen einen Weg in seinen Körper hinein gefunden. So als wäre er nicht aus Knochen, Muskelfleisch und Haut erschaffen, sondern aus einem billigen, wasserdurchlässigen Markisenstoff. An den Fingern war seine Haut bereits schrumpelig, wie wenn er lange in der Badewanne saß.
Achim war zum Heulen zumute. Er hätte Rotz und Wasser flennen können, wäre er nicht zu erschöpft gewesen. Die Kälte hatte sich in seine Gelenke gefressen, und zum ersten Mal in seinem Leben verstand er, wenn seine Großmutter über ihre Arthritis klagte; genauso musste sich das anfühlen. Schmerzen, direkt an der Knochensubstanz, und mit jedem weiteren Schritt drohten sie, einfach auseinanderzubrechen.
Was würde er darum geben, bereits die Schule erreicht zu haben? Lieber würde er einen deftigen Anschiss von Frau Wilhelmi kassieren, als weiter hier draußen durch die Regenfluten zu marschieren, dabei noch immer vom Gegenwind gepeitscht werden, und bei jedem neuerlichen Schritt die Gewissheit zu haben, dass es schier endlos bergauf ging. Als Alternative würde er das Doppelte zahlen, wenn er einfach umdrehen, und nach Hause könnte.
7:36:34
Achim erschrak beinahe zu Tode. Direkt vor seinen Augen schob sich eine Gestalt aus der Regenwand. Es war ein Mann mit grauem Trenchcoat, der einen Aktenkoffer trug und einen Hut, von dem der Regen in dicken Sturzbächen hinunterfloss.
„Entschuldigen Sie“, sagte Achim. Er sah, wie sich der Mann ebenso über sein plötzliches Auftauchen zu erschrecken schien, wie er einen Augenblick zuvor.
„Ich habe keine Zeit, ich muss meinen Bus erwischen“, zischte der Fremde.
„Aber können Sie mir sagen, wie spät es ist?“
„Sieben Uhr sechsunddreißig“, sagte der Mann, nachdem er gehetzten Blickes auf seine Armbanduhr gesehen hatte. „Scheiß Wetter“, sprach er weiter. „Auf dem Weg zur Schule? Dann bist du aber früh dran. Ich muss nun zur Arbeit, und bin viel zu spät. Irgendwie wird es immer schneller später.“
Achim stutzte. Sollte es denn möglich sein, dass die Zeit bergab schneller voranschritt, als bergauf, wo eben dieser Umkehreffekt stattfand, dem Achim ausgesetzt war?
„Was soll das heißen, es wird immer schneller später?“, fragte er, doch der Mann war bereits weiter, durch den Regen verschwunden.
Wenn Achims Theorie stimmte, dann würde er es auf jeden Fall noch rechtzeitig zur Schule schaffen. Die Uhrzeit des Mannes hatte mit seiner eigenen übereingestimmt. Er musste nur noch das Ende der Steigung erreichen. Dann würde es wieder ein kurzes Stück bergab gehen, dann rechts, nochmal links, und er wäre da.
Aus der kurzen Begegnung mit dem Fremden schöpfte Achim neuen Mut. Von frischer Kraft beseelt, bestieg er wieder sein Fahrrad, und fuhr weiter. Es kam ihm so vor, als hätte der Regen etwas nachgelassen. Nur ein klein wenig vielleicht. Im Gegensatz zu vorhin, ging das Fahren nun einfacher, obgleich es noch immer eine wahre Kraftprobe für Achim darstellte.
Vielleicht habe ich die Steigung endlich überwunden, dachte er. Ein ganzer Kilometer steil bergauf, und das bei so üblem Wetter, konnte einem ja durchaus wie eine Ewigkeit vorkommen. Dennoch blieb da dieses schale Gefühl, das die rückwärts gehende Uhr in ihm hinterlassen hatte, gekoppelt mit der illusorischen Wahrnehmung, auf der Stelle zu fahren. Nein, er hatte den Eindruck, dass sich etwas verändert hatte. Seiner Meinung nach kam er nun wieder vorwärts.
Der Wind pfiff von allen Seiten, und auch das Geräusch des Regens kam ihm lauter vor, als träfe Wasser auf Wasser. Hatte er bereits den Scheitelpunkt der Brücke erreicht? Das würde immerhin sein etwas leichter gewordenes Vorwärtskommen erklären.
Achims Sicht war immer noch auf wenige Meter beschränkt, und sie endete, gleich welcher Blickrichtung, an einer grauen Wand aus dichten Bindfäden.
Plötzlich gab es einen Ruck. Achim fuhr schneller. Etwas zumindest. Definitiv ging es mit weniger Kraftaufwand rascher voran. Er war sich dessen sicher, dass es nun bergab ging.
Der Berg war scheinbar geschafft.
„Endlich!“, stieß Achim hervor, als er von neuem Mut beseelt, kräftig in die Pedale trat. Es handelte sich hier zwar keinesfalls um hohe Geschwindigkeiten, und auch ein „den Berg runterrollen lassen“ kam überhaupt nicht in Frage; doch die alleinige Tatsache, das Gefühl zu verspüren, wieder vorwärtszukommen, löste in Achim wahres Glück aus. Er grinste breit, und schaltete sogar einen Gang höher.
Sein Blick glitt wie von selbst auf seine Armbanduhr: 7:02:55
Die Zeit ging schneller zurück, als zuvor.
Je besser er vorankam, desto schneller schwand die Zeit dahin, und desto mehr gewann er dadurch. Kein Zweifel. Er fuhr auf direktem Weg in die nahe Vergangenheit. Aus Minuten wurden Sekunden, und aus Sekunden Hundertstel.
Plötzlich war es schon 6:49:21; Achim musste langsamer fahren, sonst wäre er am Ende früher in der Schule, als gut für einen Schüler war. Er drosselte ein wenig das Tempo, doch es half nichts. Die Zeit rannte weiterhin in die verkehrte Richtung.
6:42:52
Auch der Regen ließ nun etwas nach, wie ihm schien. Vielleicht nahm er ihn aber auch einfach nicht mehr wahr. Noch immer herrschte Gegenwind, aber nicht mehr so arg, und die allgemeine Taubheit seiner Glieder wich dem wiederkehrenden Schmerz, was aber nur ein gutes Zeichen war – er spürte seine Finger wieder. Und es ging bergab, um 6:36:06 – Vielleicht war seine Uhr aber nun einfach nur komplett hinüber.
Minuten, Sekunden, Hundertstel ... Mit einem Mal wandelten sich sogar die Stunden in Minuten. Urplötzlich. Sozusagen von einer Tausendstelsekunde auf die andere.
Die Zeit raste rückwärts, und als Achim den Fuß des Berges erreicht hatte, und nach rechts in die Aschaffenburger Straße einbog, da war es bereits 5:34:56!
„Es ist die Uhr, die kaputt ist. Hundertprozentig. Nur die Scheißuhr.“
Achim war ein weiteres Mal versucht, anzuhalten. Ob er die Uhr wegwerfen sollte? Nein, das konnte er nicht tun; sein Vater hatte sie ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt.
Es war bereits 4:54:12. Ein mulmiges Gefühl machte sich in Achim breit. Irgendwie komisch, dachte er. Das mit der Uhr, und dem schneller Vorankommen. Mittlerweile bereitete ihm das Vorwärtskommen nämlich überhaupt keine Schwierigkeiten mehr. Der Regen hatte aufgehört und auch der Gegenwind war kaum noch vorhanden.
Als er kurz darauf die Schule erreichte, zeigte seine Uhr 0:00:00 an, und blieb stehen.
Mitternacht.
Vielleicht hatte er zufällig einen Counter in seiner Armbanduhr aktiviert, und dieser hatte ab der Talfahrt rückwärts gezählt ...
Er überprüfte die Einstellungen, fand seine Theorie jedoch nicht bestätigt.
Der Himmel war noch immer bewölkt und es wehte ein laues Lüftchen. Es war kühl, es war Nacht. Durch die Wolkendecke schimmerte der Mond.
Das Schultor war abgesperrt. Er hob sein Fahrrad darüber, und kletterte hinterher. Das Tor war nicht sonderlich hoch. Er schob sein Fahrrad über den Pausenhof, und stellte es an den Ständern ab. Neben dem alten, rostigen Rad, das hier schon immer stand, und an dem diverse Schüler bereits ihre Karatetritte geübt hatten, war sein rotes Rennrad das einzige Fahrrad auf dem ganzen Gelände.
„Ich bin mit meinem Latein am Ende“, sagte Achim laut, als er sein Rad absperrte. „Um sieben Uhr dreißig bin ich aufgewacht und mit einer ordentlichen Verspätung losgefahren, und nun ist es mitten in der Nacht, und ich habe die Schule erreicht. Die Zeit ging immer schneller rückwärts ... ich kapier’s einfach nicht.“
„Mit wem redest du?“, fragte plötzlich eine Stimme, dicht neben ihm.
Achim wirbelte herum, und blickte auf eine kleine, dürre Gestalt. Sie wirkte eher wie ein Schatten, wobei sich die Glieder wie bei einer Marionette zu bewegen schienen. Das Gesicht wurde von langem, wirren Haar umsäumt und die Augen kullerten eigenartig in ihren Höhlen, und machten zudem den Anschein aus ihnen herausfallen zu wollen.
„Wer bist du?“, fragte Achim.
„Heure d’école. Monsieur Heure d’école“, sagte das Wesen.
„Sie sind Franzose?“
„Bedingt, wenn ich behaupten darf. Ich habe mir diesen Namen ausgesucht, weil er mir passend erschien, findest du nicht?“
„Keine Ahnung, ich habe kein Französisch. Das kommt erst in der siebten Klasse dran. Oder Latein. Wir dürfen das dann wählen. Ich weiß aber nicht, ob ich mich für Französisch oder Latein entscheide.“
„Nimm Französisch, wenn ich dir das empfehlen darf. Es sei denn, du willst einmal Mediziner werden. Chirurg, Zahnarzt, Apotheker ... ansonsten kann man mit Latein doch nichts mehr anfangen, und Französisch klingt einfach wunderbar rund.“
„Ich wäre froh, wenn ich in Englisch halbwegs gut wäre. Die zweite Fremdsprache darf ruhig noch etwas auf sich warten lassen.“
„Wir können nicht immer alles genau dann haben, wann wir es uns wünschen, Achim.“
„Woher kennen Sie meinen Namen?“ Er war sich sicher, ihn dem komischen Kauz nicht genannt zu haben.
„Der steht in deiner Akte“, sagte Monsieur Heure d’école.
„Was für eine Akte?“
„In deiner Schülerakte. Über jeden Schüler wird eine Akte angelegt. Da steht alles drin: Namen, Adressen, Noten, Zeugnisse, Schulaufgaben, Bewertungen, Verweise ... alles eben. Du würdest staunen, wie dick die Akten im Laufe eines Schülerlebens werden.“
„Und woher wissen Sie das alles? Ich habe Sie noch nie hier gesehen?“
„Das stimmt nicht.“
„Ach ja?“ Achim kam die Gestalt reichlich suspekt vor. Er konnte nicht sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, und es war ihm auch einerlei. Dieses Wesen – er musste es so nennen, denn es mutete so fremdartig an – schien schlichtweg nicht von dieser Welt zu stammen.
„Du siehst mich jeden Tag“, behauptete Monsieur Heure d’école. „Ich bin die Uhrzeit, wenn du morgens auf deinen Wecker schaust, ich bin der Stundengong dieser Schule, ich bin der Mittag und auch die Mitternacht, ich bin die Zeit, die dir durch die Finger rinnt, sowohl früh morgens, als auch abends. Immer präsent, unabänderlich, unaufhaltsam, von deiner Geburt an, bis zu deinem Tode begleite ich dich.“
Achim sagte nichts. Er starrte die Schattengestalt an, die zunehmend Ähnlichkeit mit einem Uhrzeiger hatte, und versuchte sich einen Reim auf seine Vorstellung zu machen. Dieses Wesen verkörperte die Zeit? Was soll das denn für ein Unfug sein? Und wie er so dastand, Monsieur Heure d’école anstarrte, und sich überlegte, wie er das alles in einen verständlichen Kontext bringen konnte, nahm er das Klappern der Zähne wahr, das die ganze Zeit über wie das unnachgiebige Ticken einer Uhr aus der Richtung des Wesens schallte.
„Ich sehe schon, du glaubst mir nicht“, sagte Heure d’école, und lächelte.
„Sagen wir mal so“, versuchte es Achim, „ich bin heute zu spät aufgewacht, bin durch ein ziemlich beschissenes Wetter gefahren, bin nass bis auf die Socken, und komme nun – auf vollkommen übersinnliche Weise – viel zu früh in der Schule an, wo mir ein Wesen begegnet, das von sich behauptet die Zeit zu verkörpern. Da ist es doch nur verständlich, dass Zweifel angebracht sind, oder?“
Der wandelnde Uhrzeiger tickte bestätigend.
„Und nun? Was wollen Sie nun von mir?“
Plötzlich wandelte sich das emsige Ticken in ein langanhaltendes Pochen, wie von einem dunklen Sekundenzeiger, der in einer mächtigen, hohlen Standuhr die Zeit vorantrieb. Das Pochen rührte in Wahrheit jedoch von Monsieur Heure d’école, der damit begonnen hatte, im Kreis zu laufen.
Unmittelbar vor Achim blieb er aber stehen, und blickte ihm tief in die Augen.
„Ich möchte, dass du deine Zeitschuld begleichst.“
„Meine Zeitschuld? Was für eine Zeitschuld?“
„Ich habe dir Zeit geschenkt. Du wolltest rechtzeitig in der Schule sein, habe ich recht? Ich habe dafür gesorgt, dass du sogar überpünktlich bist, mein Junge. Du schuldest mir also was.“
„Aber ich habe das doch nie von Ihnen verlangt“, stellte Achim empört fest.
„Doch, natürlich hast du das. Du würdest alles dafür geben, hast du gesagt. Mehrmals. Und zwar genau um ...“, der Uhrzeiger holte eine Taschenuhr aus seinem Jackett, „um sieben Uhr vierzig hast du das gesagt.“
„Das war doch nur so eine Floskel, die man eben so dahinsagt“, beteuerte Achim. Doch sein Gegenüber intonierte nur: „Papperlapapp! Wunsch ist Wunsch. Du wolltest rechtzeitig hier sein, nun bist du es. Jetzt begleiche deine Schuld.“
„Und wie soll ich das tun? Ich habe kein Geld.“
Hohles Kreischen kam in Form eines Lachens zur Antwort. Zumindest vermutete Achim, dass das Wesen ihn verhöhnte.
„Geld ... was nutzt mir Geld?“
„Ja was wollen Sie denn dann?“, schrie Achim.
„Ich möchte die Zeit, die du mir schuldest. Die wird dir von deinem Leben abgezogen. So einfach geht die Rechnung, mein Lieber.“
„Aha. Und wie viel wäre das?“
„Nun, lass mich mal rechnen, ähm ...“ Das Wesen rechnete mit seinen Fingern, die allesamt auch aussahen, als handele es sich dabei um die Zeiger einer Uhr.
„Ich komme auf exakt sieben Jahre, acht Monate, zwei Wochen, vier Tage, zwölf Stunden, drei Minuten, siebenundzwanzig Sekunden und neunzehn Hundertstel.“
„Könnten Sie mir das bitte mal vorrechnen? Ich kann das nicht wirklich nachvollziehen.“
„Da gibt es nichts vorzurechnen. Die Sache ist die, dass jede Sekunde ihre Zinsen mit sich zieht. Zeit geschenkt zu bekommen ist heutzutage teuer. Jeder rennt der Zeit hinterher, und wenn man dann mal die Initiative ergreift, dann wundern sich die Leute immer, was das kostet.“
„Aber, woher soll ich denn wissen, wie lange ich lebe? So eine Entscheidung ist nicht gerade leicht.“
„Wer redet hier denn von einer Entscheidung? Du hast eine Zeitschuld bei mir. Schon vergessen? Also, gibt schon her!“
Ehe sich Achim recht versah, hatte der Uhrzeiger seine Finger auf ihn gelegt. Achim versuchte krampfhaft, das Wesen von sich abzuschütteln, doch irgendwie hatte es sich an ihm festgesaugt.
„Wehr dich nicht“, sagte es, „es hat ohnehin keinen Zweck. Deine Zeit steht mir zu, ob du willst oder nicht.“
Dennoch versuchte er sich zu wehren.
Achim und Monsieur Heure d´école kämpften um jede Sekunde. Achim konnte spüren, wie diese aus dem ihm verbleibenden Leben herausgerissen wurden. Alles wehren half nichts. Das Wesen nahm sich einfach, was ihm gehörte, und machte kurzen Prozess mit dem Schüler. Die Zeiger trieben in seinen Leib, stießen vor und zurück, und wanderten über Stunden und Tage hinweg – so schien es Achim – in seinem geöffneten Leib umher. Ein Ziehen zeugte davon, das wieder eine Sekunde seines Lebens verronnen war, und ein Stechen quittierte die Minuten. Die Stunden nahm Achim als heftiges Rütteln wahr, und die Tage als stampfen im Inneren seiner Eingeweide. Die Wochen seines Lebens verstrichen binnen weniger Herzschläge, und als die Lebensjahre an ihm vorbeizogen, wusste er, dass er nicht alt geworden wäre.
Aufgeweicht und fortgespült, vom Regen reingewaschen, von der Kälte zerfressen und vom mächtigen Gegenwind hinfortgeweht ... das war Achims Schicksal, dem er nicht entfliehen konnte. Monsieur Heure d’école erfreute sich an all seinen Herzschlägen. Und als sein letzter Schlag erklang, wusste Achim, dass er bereits vergangen war.
Danach begann die Armbanduhr auf dem Handrücken des Leichnams wieder gleichmäßig zu laufen.
Sogar die Richtung stimmte.
Die Zeit kam gut voran. Trotz des Gegenwindes.

15. Okt. 2011 - Tobias Bachmann

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