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Die Treppe zum Himmel
von Fabienne Siegmund

Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla-3d.de
Claire sah die Treppe hinauf. Neunzehn Stufen. Sie musste sie nicht erst zählen. Neunzehn Stufen, die für das ungeübte Auge nur auf den Speicher führten. Für Claire waren die neunzehn Stufen der Pfad zum Ende der Ewigkeit, die Treppe‚ der Weg in den Himmel.
Sie strich sich die blonden Haare von der Schulter und zupfte das hellblaue Kleid glatt, das ihre Figur umschmeichelte. Nie war es anders gewesen. Claire hatte sich nicht verändert. Henri schon. Es hatte sie traurig gemacht, obwohl sie es immer gewusst hatten.
Claire schüttelte den Kopf, als könne sie so den Henri vergessen, der eines Abends mit schlurfenden Schritten die Treppe hinaufgestiegen war, ohne sich von ihr zu verabschieden, weil er Abschiede hasste.
Neben ihr stand der Drache aus Stein, an dem Henri sie begrüßt hatte. „Wenn du ihn brauchst", hatte Henri in ihr Ohr geflüstert, „wird er lebendig und hilft dir."
Bislang war er nie lebendig geworden. Nicht einmal, als Henri gegangen war und sie allein in diesem großen, unheilvollen Haus gelassen hatte.
Claire kannte das Unheil, das die Mauern dieses Hauses angesehen hatten.
Sie selbst war ein Teil davon gewesen.
Dort oben, am Ende der Treppe, an dem Ort, der nur ihr gehört hatte.
Oliver war hinter ihr gewesen.
Natürlich.
Oliver war der dunkle Kater, der seine helle Maus jagte, wohl wissend, dass sie ihm nimmer entkommen konnte, weil man sie mit einem Versprechen an ihn gebunden hatte.
Nie hätte sie Oliver geheiratet, wenn sie eine Wahl gehabt hätte.
Aber es hatte eine gegeben.
Und so war sie in das hellblau schimmernde Haus gekommen, das ihr zunächst wie ein Stück vom Sommerhimmel vorgekommen war.
Die Wände, die stuckverzierten Bögen — alles war in Weiß gehalten, aber es schimmerte hellblau und Sonnenlicht, das nur in kleinen Wellen durch die Fenster in die dunklen Flure gelang, ließ den Boden wie Wasser wirken.
Auch die Treppe hatte Claire damals sofort bemerkt.
Neunzehn Stufen.
Ins Glück — hatte sie sich eingeredet, als Oliver sie in ihrem weißen Kleid ins Haus geführt hatte.
Ins Unglück, wie sie es stets geahnt hatte.
In den Himmel.
Weil der Himmel alles Ende war.
Selbst das Ende der Ewigkeit konnte es sein, aber Claire war nicht sicher, ob sie gehen sollte. Sie hatte Henri versprochen, zu bleiben. Weil er es sich für sie gewünscht hatte.
Henri und seine Wünsche.
Sie allein hatten sie vom Speicher zurückgeholt, in diesem blauen Kleid, das sie immer noch trug.
„Ich wusste, dass es dich gibt", hatte Henri geflüstert, als sie die Treppe heruntergestiegen war. Kurz vor dem Flurboden hatte sie verharrt. Nichts hatte sich verändert. Alles war immer noch weiß und hellblau zugleich, im schwachen Sonnenlicht wogend wie Wasser und Himmel.
Nur Oliver war nicht mehr da.
Schon lange war er weg.
Das hatte Henri ihr gesagt.
Auch sie war lange fort gewesen. Henri hatte sie zurückgeholt. Vom Speicher. Aus dem Himmel. Sie hörte Henris Lachen in ihren Ohren. Er hatte immer gelacht, wenn sie behauptete, er hätte sie aus dem Himmel geholt. „Du warst nicht im Himmel, mein Licht. Du warst nur auf dem Speicher. All die Jahre."
Für Claire war es der Himmel geblieben, egal, was Henri auch gesagt hatte, egal, inwiefern er ihr das Haus, das die Hölle für sie gewesen war, auch in ein Paradies verwandelt hatte.
Häuser sind so wie die Menschen, die in ihnen leben.
Oliver und Henri.
Schatten und Licht.
Der Speicher aber war immer ihr Ort gewesen. Ihr Himmel.
Ihre Hand griff nach dem Treppengeländer.
Wie lange war es her, dass ihre Finger darüber gestrichen hatten?
Sie kannte die Antwort: Als sie die Treppe hinuntergekommen war, einer Königin gleich, war es gewesen.
Henri hatte auf sie gewartet.
Er hatte sie gebeten, nie wieder hinaufzugehen. „Wenn du hinaufgehst, wirst du nie wieder zurückkehren können. Bitte, geh nicht." Der Wunsch hatte in seinen Augen geglüht, und Wünsche, die in seinem Herzen brannten, wurden wahr.
„Du kannst mich doch wieder rufen." Sie hatte ihren Himmel so sehr vermisst, so große Angst vor dem Haus gehabt, dessen Wände sie einst erstickt hatten, weil die helle Farbe an ihnen von einer Freiheit flüsterte, die sie nie erleben durfte.
Oliver hatte sie eingesperrt. Wie einen Vogel in einen goldenen Käfig.
Erst mit Henri hatte das Weiß nach und nach das Gold der Käfigstreben verloren.
Nicht, dass sie das Haus je verlassen hatte.
„Das kannst du nicht", hatte Henri gesagt. Seine dunklen Augen hatten in Traurigkeit geschwommen.
„Du kannst es dir wünschen. Wie du auch mich hierher gewünscht hast." Aber nur ein Kopfschütteln war die Antwort gewesen. Und eine Träne, die so viel erzählt hatte. Vor allem, dass auch Wünsche ihre Grenzen haben.
Und doch — nie zuvor war Claire so glücklich gewesen.
Sie war Henris Augenstern, die Frau seines Herzens und seiner Träume.
Die Erinnerung an Küsse und Zärtlichkeiten ließen ihr einen Schauder über den Rücken laufen. Auch sie waren Kraft seiner Wünsche wahr geworden, wie alles Unmögliche.
Wie sehr sie ihn zurückwünschte.
Aber ihre Wünsche waren nicht machtvoll genug. Ihnen fehlte das Feuer.
Claire wusste, woran es lag.
Es war der Grund, warum sie jetzt an der Treppe stand.
Ihr fehlte das Herz.
Schon so lange.
Ob es wieder so weh tun würde wie beim letzten Mal, als sie die Treppe hochgestürzt war? Hastig und stolpernd, vor Tränen blind, hinter sich Olivers trampelnde Schritte und die geschrienen Drohungen?
Nie hätte sie gedacht, dass er eine davon wahr machen würde.
Doch am Ende der Treppe waren sie alle wahr geworden, so wie Henris Wünsche.
Sie sah, dass ihre Hand zitterte und hörte Henris Stimme im Ohr. „Geh nicht, Claire. Bitte. Auch wenn ich nicht mehr hier bin. Bleib." Aber wozu sollte sie bleiben, in einem leeren Haus, in dem sich die Wände von Tag zu Tag wieder mehr und mehr in Käfigstangen verwandelten, weil niemand mehr da war, der sie wegzauberte?
Claire fasste den Stoff ihres Rockes fester. Brüchig war er.
Sie sah zu dem Drachen, der nie wach geworden war.
Wieder schoss ihr die Frage nach dem Wie-würde-es-diesmal-sein durch den Kopf Oliver war nicht mehr hier. Er hatte das Haus verlassen. „Oh Henri", wisperte sie in die Stille, die nicht einmal durch das Knistern der Kerzen auf den achtarmigen Leuchtern durchbrochen wurde. Sie hatte alle
gelöscht, als Henri das Ende der Stufen erreicht hatte. Sie selbst war Licht genug. Henri hatte immer „mein Licht“ zu ihr gesagt. Was, wenn sie bliebe? Wenn sie Henris Wunsch erfüllte, nicht wieder zu gehen? Seit Henris Feuer erloschen war, war dies ein Wunsch, dessen Erfüllung sie in der Hand hielt, wie ein Leben, das ihr überlassen worden war. Sie konnte es beenden, alles. So konnte es so belassen. Für alle Ewigkeit.
Ein kleines Stück Ewigkeit hatte Claire schon hinter sich gelassen. Wenige Wochen nur, vielleicht waren es auch Monate. Sie zählte die Tage nicht. Nur die Stufen hatte sie gezählt, wieder und wieder, obwohl es nicht nötig war. Sie wusste genau, dass es neunzehn waren. Neunzehn Stufen, bis sie die sichere Tür zum Speicher erreicht haben würde.
Neunzehn Stufen, die einmal zu viele gewesen waren.
Die Hand, die den Stoff ihres Rockes knetete, erfasste den Fleck, den ihre Finger schon millionenfach berührt hatten.
Es hatte so weh getan, damals.
Aber dann war sie in Sicherheit gewesen, in ihrem Schaukelstuhl, auf dem Speicher, hinter der Tür unter dem Bogen, der jetzt im Dunkeln lag. Der Leuchter am oberen Ende der Treppe hatte damals keine Kerzen getragen. Sie erinnerte sich, dass er an jenem Tag gefallen war. Und daran, dass er schwer war.
Hatte Henri ihn wieder aufgestellt?
Oder war es Oliver selbst gewesen?
Sicher war, dass er sie in ihren Schaukelstuhl gesetzt hatte, wie ein Kind, das man zu Bett brachte..
Claire hob vorsichtig einen Fuß, stellte ihn unsicher auf die erste Stufe. Danach würden es nur noch achtzehn sein — oder eben wieder neunzehn, wenn sie den Fuß zurückzog.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Die Ewigkeit lag vor ihr.
Allein.
Sie hatte nie allein sein wollen. Schon als Kind nicht. Sie war es auch nie gewesen. Erst waren ihre Eltern da gewesen, dann Oliver.
Ihr fiel ein, dass sie sich mit ihm doch oft die Einsamkeit gewünscht hatte.
Aber ihr Herz war niemals wie Henris gewesen. Ihre Wünsche hatten sich nicht erfüllt.
„Wie hast du mich gefunden?", hatte sie ihn gefragt, als sie am Fuße der Treppe angekommen war, damals.
„Ich bin auf den Speicher gegangen." Wie jung er gewesen war, ein Knabe von nicht mal zehn. „Da habe ich dich sitzen sehen. In dem Schaukelstuhl. Und habe mir gewünscht, dich kennenzulernen."
So hatte alles begonnen.
Henris Eltern waren auch noch dort gewesen. Sie hatten nie mit ihr gesprochen.
„Wieso wolltest du mich kennenlernen?"
„Damit ich nicht allein bin."
Henri hatte nie viele Freunde gehabt, auch nicht später. Und nie war da eine Frau gewesen. „Es gibt nur dich, mein Licht. Für alle Zeit." Das hatte Henri gesagt, als er erwachsen war. Sie hatten sich das erste Mal geliebt in jener Nacht, unter dem Himmel aus Stuck, neben den Leuchtern, die neben dem Licht ihrer Leidenschaft verblassten.
Nie hatte sich Claire so geborgen gefühlt.
Die Erinnerung ließ sie ihren Fuß wieder zurückziehen. Würde sie all das vergessen, wenn sie nach oben ging, die neunzehn Stufen hinter sich ließ?
Sie wollte Henri nicht vergessen, nicht eine seiner Falten, die stetig mehr geworden waren, während seine braunen Locken langsam die Farbe von frisch gefallenem Schnee angenommen hatten.
Claire war Claire geblieben.
Wie sie war.
Wieder schüttelte sie den Gedanken fort, denn Gedanken an die Vergangenheit brachten unweigerlich Oliver mit, und den Tag, an dem sie die Treppe das letzte Mal hochgerannt war.
Der Fuß hob sich wieder, trat auf die erste Stufe. Wenn sie blieb, würden diese Bilder eines Tages Henris Erinnerungen auslöschen. Leid konnte jedes Glück verschwinden lassen. Claire zog den anderen Fuß nach, betrat die zweite Stufe, dann die dritte. Je höher sie kam, desto weniger schienen ihre Füße die Stufen zu berühren.
Sie konnte Henri seinen Wunsch nicht erfüllen.
Nicht jetzt, da er fort und sie allein geblieben war.
Sie würde Henri mit in ihren Himmel nehmen.
Vielleicht war er sogar auch dort.
Es hatte immer einen zweiten Schaukelstuhl auf dem Speicher gegeben.
Für die Freundin, die Claire genauso wenig gehabt hatte wie die Tochter, die sie sich einst ersehnt hatte, in Träumen, die wie maßgeschneidert schienen und ihrem Leben doch nie gepasst hatten. Oliver hatte die Nähte der Kleider verengt. Und am Ende hatte er ihren Faden zerrissen.
Claire hatte die oberste Stufe erreicht. Der Kerzenleuchter stand ordentlich an seinem Fleck. Nie hatte ihn jemand verstellt. Nicht einmal Henris Mutter. Und nie hatte jemand das blonde Haar entfernt, das noch an einem seiner Arme hing.
Damit hatte Oliver sie geschlagen.
Für einen Moment hatte es wehgetan.
Dann war alles fort gewesen. Die Angst, die Tränen, die Flüche und die Drohungen.
Oliver hatte sie in den Schaukelstuhl getragen.
Niemand sonst konnte es gewesen sein.
Niemand sonst hatte hundertzwanzig Jahre zuvor hier gelebt.
Claire war so aufgewacht.
Durch Henri, vor siebzig Jahren.
Sie wusste, wenn sie unter dem Bogen hindurchtrat, zurück auf den Speicher gehen würde, wäre sie immer noch da. In ihrem blauen Kleid. Wie damals. In ihrem Himmel.
Claire tat den letzten Schritt, spürte, wie ihre Füße zu Nebel wurden und ihr Wesen zu Licht. Sie drehte sich noch einmal um. Unten war der Drache. Seine Augen leuchteten. Wie Henris.
Er schlug mit seinen Schwingen.
Auch dieser Wunsch Henris hatte sich erfüllt. Er war lebendig geworden.
Um ihr zu helfen. Der Wind seiner Schwingen würde sie tragen. Zurück zu ihrem Körper.
Als sie die zerfallene Gestalt, die nur noch Knochen und Stofffetzen war, erreichte, bemerkte sie in dem zweiten Schaukelstuhl Henri.
Sie hatte gewusst, dass er hier wartete, genauso wie er gewusst hatte, dass sie nie allein zurückbleiben würde.
Sie ließ sich in den Schaukelstuhl fallen und schloss die Augen, die kaum noch mehr als nebelhafte Erinnerung waren.
Claire kehrte zurück in ihren Himmel
Wie sie es immer getan hatte, wenn sie die neunzehn Stufen gegangen war.

20. Okt. 2011 - Fabienne Siegmund

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