Main Logo
LITERRA - Die Welt der Literatur
Home Autoren und ihre Werke Künstler und ihre Werke Hörbücher / Hörspiele Neuerscheinungen Vorschau Musik Filme Kurzgeschichten Übersicht
Neu hinzugefügt
Autoren
Genres Magazine Verlage Specials Rezensionen Interviews Kolumnen Artikel Partner Das Team
PDF
Startseite > Kurzgeschichten > Jutta Ehmke > Belletristik > Ich habe Tante Mathilde umgebracht

Ich habe Tante Mathilde umgebracht
von Jutta Ehmke

Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
Hubert ächzt, während er den Karton mit den Weihnachtskugeln vom Speicher schleppt. Mein Sohn steht daneben, beide Hände in den Hosentaschen.
»Ihr wisst ja, dass uns Tante Mathilde über die Feiertage besuchen wird?«, warne ich sie vor.
Allgemeines Gestöhne. Mathilde ist nicht gerade beliebt.
»Muss das sein?«, knurrt mein Sohn, schlendert in die Küche und öffnet die Kühlschranktür. Immer ist er hungrig, ob-wohl er täglich das Kalorienbudget einer Großfamilie verschlingt. Zum Glück sieht man ihm das nicht an. Im Gegenteil, richtig hager ist er geworden! Für einen Mo-ment frage ich mich, ob das Weihnachtsessen der einzige Grund ist, der ihn von seinem weit entfernten Studienort zurück in die Heimat gelockt hat. Wie gerne hätte ich mehr Zeit gehabt, um ihn ausgiebig zu bekochen, doch er hat schon angekündigt, dass er gleich am ersten Feier-tag wieder verschwinden will. So lange hält es meine Tochter erst gar nicht aus! Gleich nach der Bescherung will sie abhauen, Tanzen gehen mit den Freunden. Mittlerweile sind die Eltern nicht mehr angesagt.
Statt mit meinen Kin-dern zu feiern, werde ich mir zum hundertsten Mal „Sissi“ anschauen, nur damit es nicht mehr so still im Haus ist. Hubert wird irgendwann aufspringen, genervt seine Jacke holen und mit seinen Freunden auf ein paar Bierchen verschwinden. Früher war Weihnachten mein liebstes Fest, doch inzwischen ist es zum reinsten Elend verkom-men!
»Wer holt Mathilde vom Bahnhof ab?«, frage ich in die Runde, wohl wissend, dass sich kein Freiwilliger finden wird.
»Ich helfe Papa einen Baum aussuchen«, sagt mein Sohn, »und anschließend machen wir Weihnachtseinkäufe!«
Die Tochter will eben schnell noch zu ihrer Freundin. Also schlüpfe ich seufzend in den Mantel und er-greife die Autoschlüssel.
Kaum bin ich aus der Tür, klingelt mein Handy. Während ich telefoniere, malen meine Finger Zeichen in die dünne Schneeschicht auf der Windschutz-scheibe. Mir gefällt was ich höre, schon habe ich einen Plan vor Augen und grinse vergnügt in mich hinein.

Szenentrenner


Hubert steht auf dem Stuhl, die goldene Christbaumspitze in der Hand, während mein Sohn den Baum justiert. Die Tochter sitzt gelangweilt im Sessel und lackiert ihre Nägel. Ich liebe sie, aber in manchen Momenten erinnert mich ihr Gesichtsausdruck an den eines hypnotisierten Schafs. Im Hintergrund läuft das Weihnachtswunschkonzert auf dem Lieblingssender meines Sohns.
Normalerweise würde ich jetzt in den Kreis meiner kleinen Familie treten, den Baum-schmuck aus der Kiste ziehen und in nostalgischen Erinnerungen schwelgen: Wisst ihr noch, den kleinen Schneemann habt ihr damals gebastelt! Stattdessen stehe ich stumm im Türrahmen. Da keiner aufsieht, sage ich mit brüchiger Stimme: »Ich habe Tante Mathilde umgebracht!«
»WAS!!?«
Die Tochter schaut auf, jetzt habe ich ihre Aufmerksamkeit.
Hubert lässt beinahe den goldenen Stern fallen und mein Sohn sagt: »Mama, was redest du da?«
Noch immer stehe ich reglos, bis er sich ein Herz fasst, den Baum zur Seite kippen lässt und zu mir eilt.
»Mein Gott, du bist ja ganz bleich! Setz dich!«
»Gib ihr einen Cognac!«
Ich lasse mich in den Sessel drücken und er-greife mit zitternden Fingern das Glas.
»Was ist passiert?«, fragt Hubert. Auch er zittert jetzt.
»Ich hab Mathilde vom Bahnhof abgeholt ...«, berichte ich tonlos. »Auf dem Heimweg hat sie die ganze Zeit genörgelt. Ihr wisst ja, wie sie sein kann! Nicht wahr?«
Zustimmendes Nicken. Mitleidiges Schulterklopfen. Sie kennen Mathilde.
»Zuerst war es ein Unfall. Sie ist ausgerutscht, hat sich nur ein bisschen den Kopf angeschlagen, es war nicht wei-ter schlimm! Aber sie hat nicht aufgehört zu schimpfen und zu zetern. Dann hat sie angefan-gen, euch zu beleidigen! Hubert wäre zu dumm zum Salzstreuen und auch ihr beide wärt zu nichts zu gebrauchen! Sie hat gar nicht mehr aufgehört! Und da ... hab ich ... auf ein-mal Rot gesehen!«
Pantomimisch stelle ich dar, wie ich einen schweren Gegenstand an mich bringe und immer wieder auf ihren Kopf sausen lasse.
»Oh, mein Gott!«, sagt meine Tochter immer wieder. »Oh, mein Gott!«
»Als ich wieder klar denken konnte, war sie schon tot!«
Mein Sohn schürzt die Lippen, eine Denkerfalte bildet sich auf seiner Stirn. Nur selten habe ich ihn so entschlossen erlebt.
»Hast du Spuren hinterlassen? Denk nach!«
Entschieden schüttel ich den Kopf. »Nur auf der Treppe, aber die hab ich gleich abgewischt! Dann hab ich die Leiche in den Keller getragen. Den Kopf mit Tüchern umwickelt wegen all dem Blut. Du kennst doch diese große Kunststoffwanne, die im Keller steht? Die mit dem blauen Deckel? Dort hab ich Mathilde reingestopft. Vorher hab ich sie natürlich zersägt ...«
Fassungslose Augen starren mich an.
»Du hast Tante Mathilde zersägt?«
»Das musste ich doch, so groß ist die Wanne nun auch wieder nicht!«
»Oh, mein Gott!«
»Als ich im Schuppen war, um die Elektrosäge zu holen, bin ich Herrn Huber von gegen-über begegnet. Er hat mich gefragt, was ich mit der Säge will, aber ich konnte ihm weisma-chen, dass wir auf den letzten Drücker noch ein Puppenhaus basteln. Als Weihnachtsge-schenk.«
»Du machst keine halben Sachen!«, staunt Hubert. Trotz allem Elend kann er nicht verhindern, dass ein wenig Stolz in seiner Stimme mitschwingt.
»Wir müssen die Leiche verschwinden lassen!«, stammelt meine Tochter entsetzt.
»Keine Sorge, wir helfen dir!«, verspricht mein Sohn und Hubert nickt. Mir wird auf einmal warm ums Herz, was sicher nicht nur am Cognac liegt.

Szenentrenner


Eine Stunde lang schmieden wir Pläne und verwerfen sie wieder. Dann steht fest, wie wir vorge-hen wollen. Meine Tochter wird sich, als Weihnachtsmann verkleidet, um Mathildes Gepäck kümmern. Ein roter Bademan-tel hängt noch im Schlafzimmerschrank und ein Bart aus Watte ist schnell gebastelt. Wir packen Mathildes Habseligkei-ten in einen Jutesack. Noch einmal lächelt die Tochter aufmunternd, dann verlässt sie das Haus, um den Inhalt des kleinen Reise-kof-fers in die Mülltonnen der Umgebung zu stopfen. Derweil verhüllen meine Männer die Plastik-wanne mit Geschenkpapier, denn an Weihnachten kann man es sich leisten, mit großen, bunten Kisten durch die Gegend zu fahren, ohne dass das irgendjemand verdächtig fin-det. In ein goldenes Kleid gehüllt und mit einer großen Schleife versehen, verliert die hässli-che Plastikwanne beinahe ihren Schrecken. Nur beim Einpacken verrutscht für einen Moment der Deckel und mein Sohn erhascht einen Blick auf weiße Haare und ein alt-modisches Kleid. Er muss würgen, fast übergibt er sich, doch im letzten Moment gelingt es ihm, sich zusammenzureißen. Dann fahren wir die hübsch verpackte Wanne zum Steinbruch, wo wir sie gemeinsam vergraben.

Szenentrenner


Nachdem wir das »Geschenk« abgeliefert haben und wieder zurück sind, gehen wir der Reihe nach duschen. Anschließend stellt Hubert den Baum auf, als wäre nichts geschehen. Ich gehe in die Küche und bereite das Weihnachtsmahl zu.
»Wie ihr überhaupt noch ans Essen denken könnt!«, beschwert sich meine Tochter, als sie zurückkommt. Doch am Ende verputzt sie genauso viele Knödel wie mein ewig hungri-ger Sohn. Der rote Bademantel und die Wattemaske verschwinden derweilen knisternd im Kaminfeuer.
»Wir verbringen den Weihnachtsabend genau so, wie wir es immer tun!«, bestimmt Hubert. »Das ist das beste Alibi!«
Die Kinder nicken zustimmend. Aber ohne es zu merken, tun sie gar nicht das, was sie immer tun: Niemand beklagt sich übers Essen, niemand will gleich nach der Bescherung abhauen oder sich vor die Glotze setzen. Es wird ein Weihnachtsfest, wie ich es mir erträumt habe. Wir sitzen beieinander und tuscheln verschwörerisch. Wir hören Weihnachtslie-der und schauen endlos in die Flammen, während wir uns über Gott und die Welt unterhalten. Ich darf es nicht zugeben, aber ich habe unverschämt gute Laune.

Szenentrenner


Auch an den nächsten Tagen ist mir die Verbundenheit meiner Familie gewiss. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelt, legt mir mein Sohn beschützend eine Hand auf die Schulter und Hubert kommt herbeigeeilt und baut sich drohend auf wie ein Hirschbulle, der einem schwa-chen Rehkitz beispringen muss. Ich genieße unseren Zusammenhalt in vollen Zügen, wohl wissend, dass mein Geheim-nis jede Minute auffliegen kann.

Szenentrenner


Kurz vor Silvester ist es dann soweit. Ein Polizist steht vor der Tür und bittet um Einlass. Sichtlich geschockt schiebt Hubert den Mann Richtung Küche.
»Ich habe Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen«, sagt der Uniformierte. Er ist noch jung, viel-leicht ein paar Jahre älter als mein Sohn, trägt aber schon eine Glatze und einen abscheu-lichen Schnurrbart. »Ihre Tante Mathilda ist tot!«
»Oh«, sagen meine Kinder tonlos. Bestimmt fragen sie sich, wo-her er das weiß. Ist uns trotz sorgfältiger Planung doch noch ein Fehler unterlau-fen? Haben Hunde den Inhalt der Plastikwanne gewittert und ihre arglosen Herrchen von der gewohnten Route ihres Verdauungsspazier-gangs weggelockt?
Der Beamte drückt uns sein tief empfundenes Mitgefühl aus. Er zwinkert sogar eine Träne weg, was uns alle sehr befremdet.
Hubert klingt vorsichtig, als er das Wort ergreift. Jede Silbe legt er auf die Goldwaage.
»Weiß man schon, äh, was passiert ist?«
»Herzinfarkt!«, sagt der Beamte zum allgemeinen Erstaunen. »Es kam ganz plötzlich. Sie wissen ja, wie das an Weihnachten ist: Zu fettes Essen, zu wenig Bewegung, so was kann schnell ge-hen!«
»Äh ... heißt das, sie ist eines natürlichen Todes gestorben?«, platzt mein Sohn heraus.
Für einen Moment schaut der Polizist irritiert, dann lacht er: »Aber natürlich! Ich hätte nicht in Uniform kommen sollen, das hat dich verwirrt! Mein Name ist Paul Konrad, ich bin der Nach-bar eurer Tante! Dass ich darüber hinaus Polizist bin, ist reiner Zufall!«
»Oh! Und sie sind sicher, was den Herzinfarkt betrifft?«
»Das hat der Notarzt bestätigt. Ich hab die alte Dame sofort ins Krankenhaus gefahren, aber es war schon zu spät. Jetzt befinden sich ihre sterblichen Überreste im Leichenschau-haus am St.-Anna-Stift. Sicher wird man sie im Laufe des Tages offiziell informieren, aber ich dachte, ich fahre noch vor Dienstantritt bei Ihnen vor-bei und spreche Ihnen persön-lich mein Bei-leid aus.«

Szenentrenner


Mein Sohn, meine Tochter und mein Mann, alle sind sprachlos und werfen wir vorwurfsvolle Blicke zu. Wen, zur Hölle, hast du umgebracht?, fragen ihre Augen. Ich lächle gezwungen und frage mich, ob sie es mir wohl abnehmen, wenn ich behaupte, ich hätte Tante Mathilda mit einer anderen Frau verwech-selt. Aber nein, das geht nicht! Selbst mit viel Phanta-sie fällt es schwer, sich ein zweites Exemplar ihrer Art vorzustellen.
Nachdem der Beamte weg ist, schart sich die Familie um mich und verlangt, dass wir Tacheles reden.
»Wen haben wir da eigentlich im Kies verscharrt?«, fragt mein Sohn und ich kann ihm nicht verdenken, dass seine Stimme einen misstrauischen Ton annimmt. Jetzt ist es vorbei mit der Idylle. Hubert sagt nichts. Ich schaue zu ihm auf und grinse dümm-lich.
Dann entschließe ich mich, die Wahrheit zu beichten, selbst auf die Gefahr hin, dass wir nie wieder ein so harmonisches Weihnachtsfest feiern werden.
»Niemanden!«, gestehe ich. »Nur eine Perücke, ein alter Kittel, etliche Kilo Fleisch und Himbeer-saft ...«
»Aber ... warum?«, fragt Hubert und muss sich setzen.
Tja, warum? Nachdem Mathilda telefonisch abgesagt hatte, wollte ich ein Experiment wagen. Ich war der Meinung, dass endlich etwas geschehen müsse, das uns als Familie wieder zusammenbringt. Eine gemeinsame Herausforderung, sozusagen. Und mein kleiner Plan hat noch besser funktioniert, als ich gehofft hatte.
»Ach, Mama!«, sagt meine Tochter. »Das wär’ doch nicht nötig gewesen ...!« Doch sie muss schmunzeln und fährt mir liebevoll durchs Haar.
»Ab jetzt besuchen wir euch öfter! Und bleiben über die Festtage«, verspricht mein Sohn, »damit du nicht wieder auf dumme Gedanken kommst!«
Hubert ergreift meine Hände. Trotz allem ist auch er nicht böse.
»Im nächsten Jahr«, verspricht er feierlich, »feiern wir Weihnachten in der Karibik! Schließ-lich war Mathilda unsere Erbtante, richtig? Da können wir uns das leisten!«
Ich zucke mit den Schultern, denn wo wir feiern werden, ist mir gleich – Hauptsache, wir sind zusammen!

21. Dez. 2011 - Jutta Ehmke

[Zurück zur Übersicht]

Manuskripte

BITTE KEINE MANUS­KRIP­TE EIN­SENDEN!
Auf unverlangt ein­ge­sandte Texte erfolgt keine Antwort.

Über LITERRA

News-Archiv

Special Info

Batmans ewiger Kampf gegen den Joker erreicht eine neue Dimension. Gezeichnet im düsteren Noir-Stil erzählt Enrico Marini in cineastischen Bildern eine Geschichte voller Action und Dramatik. BATMAN: DER DUNKLE PRINZ ist ein Muss für alle Fans des Dunklen Ritters.

Heutige Updates

LITERRA - Die Welt der Literatur Facebook-Profil
Signierte Bücher
Die neueste Rattus Libri-Ausgabe
Home | Impressum | News-Archiv | RSS-Feeds Alle RSS-Feeds | Facebook-Seite Facebook LITERRA Literaturportal
Copyright © 2007 - 2018 literra.info