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Der Schlachter und die Bestie
von Thomas Neumeier

Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
Die schmalen Stufen zum oberen Stockwerk hinauf betrat ich mit äußerster Vorsicht, damit mich das Ächzen und Knarren der alten Stiege nicht frühzeitig verriet. Wie schon von außen weithin sichtbar war, brannte im Dachzimmer, in dem sie ihre Kräutertränke und angeblichen Wundermittelchen braute, eine Menge Kerzenlicht. Nun drang es durch den Türspalt in den Treppenaufgang und war gerade so ausreichend, um die Stufen zu erkennen und nicht versehentlich in der Dunkelheit zu stolpern.
Im Dachzimmer dieses Hauses brannte fast jede Nacht Licht. Schon oft hatte ich es des Nächtens passiert und mich gewundert, wie dieses Weib es sich erlauben konnte, jede Nacht ein Dutzend Kerzen niederzubrennen. Vielleicht war sie tatsächlich eine Hexe, wie manche behaupteten, und rief nachts ihre Dämonen an. Für einen Moment schauderte ich bei dem Gedanken, und meine Hände klammerten sich fester um das Schnappwerkzeug, das ich eigens für diesen Abend angefertigt hatte.
Ich näherte mich der nur angelehnten Tür. Nichts war zu hören, kein köchelndes Wasser, kein Mahlen oder Stampfen, keine schwarzmagischen Beschwörungen, auch kein Schnarchen oder gar Geräusche der Fleischeslust. Vielleicht konnte ich sie noch einmal besteigen, bevor ich mein tödliches Werk an ihr verrichtete.
Ich weitete den Türspalt ein wenig, als mir plötzlich ein vertrauter Geruch in die Nase stieg. Voller Verwunderung gab ich meiner Neugier nach und trat mit allzu geringem Bedacht auf Heimlichkeit ein. Was ich im Inneren erblicken musste, war um ein Vielfaches entsetzlicher als das, was ich hier anrichten wollte. Blut, Knochenstücke und Innereien waren im gesamten Raum verteilt, hatten Töpfe, Glasbehälter, Regalteile und einen großen Tisch befleckt. Nicht weniger hatte es die Wandbehänge, Vorhänge und Topfgewächse erwischt. Ich sah so etwas nicht zum ersten Mal, doch weil ich an dieser Stelle nicht damit gerechnet hatte, stockte mir kurz der Atem. Inmitten des Schlachtfestes lagen die unkenntlichen Überreste eines einstmals menschlichen Körpers. Im flackerten Licht der Kerzen tanzten schattenhafte Abbilder wie kleine, grässliche Kobolde an den Wänden. Ich konnte es nicht glauben.
Die Bestie war mir zuvorgekommen.
Ich legte das Schnappwerkzeug ab, weil mich sein Gewicht plötzlich unglaublich vereinnahmte. Es war nun nutzlos, vollkommen nutzlos. Damit hätte ich der Heilerin große Stücke Fleisch aus ihrem Körper gerissen, nachdem ich sie getötet hätte. Gebaut hatte ich es nach dem Vorbild der Fallensteller, und es hatte tadellos funktioniert. Jeder hätte geglaubt, das Weib wäre der Bestie zum Opfer gefallen, die seit ein paar Monaten in der Gegend ihr Unwesen trieb. Nun aber war die Bestie tatsächlich hier gewesen.

Meinem anfänglichen Schrecken wich schnell Erleichterung. Die Heilerin war tot, somit konnte man mir nicht mehr den Prozess machen, wie mir bewusst wurde. Sollten morgen früh die Helfer des Büttels an meine Tür klopfen, dann nicht, um mich zum Gerichtsgebäude zu schleppen, sondern um mir zu unterbreiten, dass das Weib, das mich der Vergewaltigung bezichtigte, der Bestie zum Opfer gefallen wäre, wodurch es keinen Prozess geben könne. Ich würde ihnen dann beteuern, dass ich es zutiefst bedauerte, dass mir die Gelegenheit versagt bliebe, meine Unschuld vor dem Kirchengericht zu beweisen. Anschließend würde ich noch einen frommen Spruch für die arme Seele der so grauenhaft Ermordeten entrichten, auf dass sie im Himmel Frieden fände.
Ich fühlte mich gut, als ich das Schnappwerkzeug wieder aufnahm. Heute war es nutzlos, doch vielleicht würde es bei einer späteren Gelegenheit noch Anwendung finden. Ich dachte dabei vor allem an die Frau des Webers. An ihr hatte ich mich an einem schönen Sommerabend im letzten Jahr vergangen, kurz bevor sie verheiratet wurde. Womöglich käme sie eines Tages ebenfalls auf die Idee, mich der Tat zu bezichtigen. Dem könnte ich vorbeugen und die Bestie eines Nachts ihren Hunger an ihr stillen. Dummerweise verließ bei Dunkelheit kaum noch jemand die eigenen vier Wände, seit diese grausigen Morde angefangen hatten. Es würde schwer werden, an die Weberin heranzukommen.

Die ächzenden Geräusche der alten Treppe waren mir beim Abstieg zunächst gleichgültig. Es gab in diesem Haus niemanden mehr, der sie hören könnte. So jedenfalls glaubte ich. Dann aber vernahm ich ein Geräusch, das ohne der Spur eines Zweifels nicht von mir verursacht wurde. Es war ein eigentümliches Schaben, das von unten zu mir hochdrang. Eine plötzliche Erkenntnis ließ mich erstarren: War die Bestie womöglich noch hier? War sie noch immer hier im Haus?
Inmitten der Stiege hielt ich inne und rief mich zur Ruhe. Tiefes Atmen half mir dabei, den Verstand über die aufkommende Panik triumphieren zu lassen. Die Bestie tötete nur Frauen und Mädchen. Nun ja, bisher hatte sie jedenfalls noch niemanden meines Geschlechts getötet. Trotzdem wurde mir nun sehr unwohl. Niemand hatte das mordende Monstrum je gesehen – jedenfalls niemand, der später darüber hätte berichten können. Sollte ich der Erste sein?
Etwas, das sich wie ein tiefes Gurgeln anhörte, drang aus der dunklen Tiefe an meine Ohren. Ich hatte solche Laute schon von kranken Tieren, vornehmlich von Hunden, vernommen. Die Hexe aber hielt keine Tiere in ihrem Haushalt.
Mit zunehmender Gewissheit wurde mir bewusst, dass ich das Haus der Heilerin nicht nur mit ihrem verstümmelten Leichnam teilte. Da war noch etwas anderes zugegen, etwas, das sich nicht menschlich anhörte. Ich konnte die Angst nicht unterbinden, die nun in mir aufstieg. Sie zwang mich, zurückzuweichen, zurück ins Zimmer der grauenhaften Schlachtung. Ich verschloss die Tür hinter mir und achtete abermals darauf, im frischen Blut keine Stiefelabdrücke zu hinterlassen.
Die Bestie tötet nur Frauen und Mädchen, redete ich mir ein, um mich zu beruhigen. Die Heilerin mitgezählt waren es bislang sechs Opfer, allesamt Frauen, wobei die dreizehnjährige Tochter des Schmieds noch als Mädchen durchging. Was es auch für ein Ungeheuer war, das sich all diese armen Seelen geholt hatte, es hatte bislang noch keinen Mann getötet. Wahrscheinlich hielt sich das Getier von uns fern, weil Männer viel stärker und kräftiger waren als Frauen.
Ich fragte mich, woher die Bestie gekommen war. Hatte sie trotz der Wachen und der verschlossenen Tore die Stadtmauern überwinden können? Die Meisten glaubten, sie würde im Wald hausen, wenngleich dort nie brauchbare Spuren entdeckt worden waren. Was wenn sie sich die ganze Zeit über im Ort versteckt hielt? In den Gewölben der alten Priorei etwa – oder in den dunklen Kellern des verfallenen Brauhauses?
Die Bestie tötet nur Frauen und Mädchen! Hatte sie mich beobachtet, als ich in dieses Haus eindrang? Hatte sie irgendwo unten im Dunkeln gelauert, während ich langsam und vorsichtig die alte Holzstiege erklomm? Ich redete mir nachdrücklich ein, dass sie mich bereits bei meiner Ankunft getötet hätte, läge mein Tod in ihrem Ansinnen. Dass sie mich ungeschoren ließ, bedeutete, dass sie mich nicht zu töten beabsichtigte. Ja, es konnte gar nichts anderes bedeuten. Wahrscheinlich fürchtete sich das Getier vor der männlich angeborenen Stärke. Oder sollte ich einem fatalen Irrtum unterlegen sein? Hatte die Bestie mich gar nicht beobachtet und gewähren lassen, sondern sollte sie gerade eben noch einmal in dieses Haus zurückgekehrt sein? Weil ihr mörderischer Hunger noch nicht gestillt war?
Eine ungewisse Zeit verstrich, dann vernahm ich jenseits der Tür das Knarren der alten Holzstiege. Jemand stieg sie empor. Es war nicht das Poltern eines Trampels, es waren bedachte, leise Schritte. Obgleich weniger achtsam als ich, war dem Besucher daran gelegen, möglichst wenig Lärm zu verursachen.
Mein Herzschlag nahm zu. Ich hörte ihn in meinem Kopf hämmern. War dies die Nacht, in der die Bestie erstmals einen Mann zerreißen würde? Sollte ausgerechnet mir diese tödliche Ehre zuteil werden? Ungewollt wich ich weiter zurück, jeder Schritt ein grässliches Schmatzen. Das Blut der Heilerin schien meine Stiefel an die besudelten Dielen binden zu wollen. Während ich darüber nachsann, ob sie denn wohl Gelegenheit hatte, zu schreien, bevor sich das Ungetüm auf sie stürzte, stolperte ich rücklings über den verbliebenen Haupteil ihrer Überreste. Als ich mich wieder aufrichtete, waren meine Hände, meine Kleider und auch das Schnappwerkzeug von Blut befleckt.
Dann öffnete sich die Tür.
In der Erwartung ein blutrünstiges Untier ins Zimmer steigen zu stehen, war ich überrascht, als ich im fahlen Kerzenschein das Gesicht des Büttels erkannte. Lang und schmal schob sich sein rattenartiges Gesicht in den Raum, wobei er schnüffelte, als wäre er tatsächlich eine Ratte. Er war nicht allein. Zwei seiner Helfer folgten ihm hintendrein, junge Burschen, die wahrscheinlich vor dem Auftauchen der Bestie noch nie eine Leiche gesehen hatten.
„Heilige Maria“, vernahm ich geflüsterte Worte.
Die beiden Burschen bekreuzigten sich. Der Büttel aber starrte nur. Er hob seine bespannte Armbrust, sodass der Pfeil auf mich zeigte.
„Dafür wirst du am Galgen baumeln, du gottloses Gezücht“, raunte er. „Mögest du im Feuer der Hölle schmoren und auf Ewigkeit die Leiden ertragen, die du über uns gebracht hast.“
„Aber das war ich nicht!“, beteuerte ich. „Das war die Bestie! Ich meine, seht Euch doch nur um! Es war die Bestie!“
„Ich hege keinen Zweifel daran, dass dies das Werk der Bestie war“, sprach der Büttel. „Und nun steht sie vor mir. Endlich.“
„Aber nein, Ihr irrt Euch!“, beschwor ich ihn. „Als ich hier eintrat, fand ich alles so vor, wie Ihr es nun mit eigenen Augen seht! Ich habe das nicht getan!“

Mich zu rechtfertigen, hatte keinen Zweck. Meine besudelten Hände und Kleider sowie das Schnappwerkzeug an meiner Seite sprachen eine eigene Sprache. Man hielt tatsächlich mich für die Bestie.
Schon am nächsten Morgen tagte das Kirchengericht. Manche behaupteten, ich trüge einen Dämon in mir, andere hielten mich sogar für den Leibhaftigen persönlich oder einen Abkömmling des Höllenfürsten, dem die Gabe verliehen war, sich in Tier- und Nachtgestalten zu verwandeln, und der sich vom Blut und Fleisch der Lebenden ernährte. Für meine angeblichen Verbrechen und meine dämonischen Eigenschaften konnte es nur die Todesstrafe geben, die so schnell wie möglich durchgeführt werden musste. Es gab niemanden, der für mich sprach. Sie alle wollten meinen sofortigen Tod. Am lautesten schrie die Frau des Webers. Sogar die Beichte verweigerten sie mir.
Obgleich ich in Ketten lag, hatten die Helfer des Büttels großen Respekt vor mir. Anscheinend hatten die Worte der Kleriker sie verunsichert. Sie glaubten wohl, ich könne sie verfluchen oder bei ihrem Näherkommen die Gestalt wechseln und sie dann als Raubtier zerfleischen. Nichts davon entsprach der Wahrheit. Ich war nur ein einfacher Mann, ein Schlachter, dem gerade großes Unrecht getan wurde. Die wahre Bestie war noch irgendwo da draußen. Und sie würde sicher erneut morden. Doch wenn es soweit war und sie damit meine Unschuld bewies, würde ich bereits tot sein.
Ich schrie und tobte, fauchte und wütete, während man mich durch die Menschenmenge hindurch nach draußen schleppte. Ich flehte zu diesem Gott, an den ich nie geglaubt hatte, flehte auch die Menschen an, mein Leben zu schonen, beteuerte lauthals meine Unschuld, doch die Schreie nach meinem Tod gellten dadurch nur noch lauter von allen Seiten auf mich ein.
Dann erstarrte ich, als mir ein Gesicht unter einer Kapuze ins Sichtfeld rückte. Was ich sah, konnte unmöglich sein. Sie war tot! Ich hatte ihren zerfetzten Leichnam gesehen! Und doch war sie es. Wahrscheinlich war sie die einzige Anwesende, die nicht Gift und Galle nach meinem Tod spuckte. Sie stand vollkommen ruhig in der Menge und genoss das Schauspiel offenbar. Sie lächelte mir unter ihrer Kapuze sogar zu, ein böses Lächeln, das mich erschaudern ließ. Diesen Blick hatte sie auch im Wald zur Schau getragen, nachdem ich mich an ihr vergangen hatte. Aber wie konnte sie noch leben? Ich hatte gestern in ihrem Blut gestanden!
Sie lächelte noch breiter und fletschte dabei eigentümlich die Zähne, wobei sich ein seltsamer, silberner Glanz in ihre Augen spiegelte. Voller Entsetzen begann ich zu begreifen. Es war überhaupt nicht ihr Leichnam gewesen, den ich in ihrer Braustube aufgefunden hatte. Es war ein anderes Opfer. Ein Opfer der Bestie. Ihr Opfer!
Nun fiel mir auch ein, dass die grässlichen Morde zum ersten Vollmond, nachdem dieses Weib in unsere Gemeinde gezogen war, ihren Anfang genommen hatten! Wo kam sie nochmal her? Ich glaubte, mich an einen Landstrich in Südfrankreich zu erinnern. Gévaudan – war das der Name? Zu weiteren Überlegungen kam ich nicht. Die Helfer des Büttels zerrten mich unbarmherzig weiter zum Galgen. Die Menge jubelte. Meine Rufe, die Bestie stünde gerade mitten unter ihnen, blieben ungehört.

30. Apr. 2012 - Thomas Neumeier

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